Pogrom und Stimmung

4. Februar 2013


Oder: Warum es keine brennenden Kathedralen braucht, um besorgt zu sein

Zugegeben: Ich war zunächst auch überrascht. Darüber, dass das Wort „Pogrom“ in einer Beschreibung der medialen und öffentlichen Rezeption der Katholischen Kirche auftaucht. Ein Unwort im zeitgenössischen Diskurs, auch als Wortbestandteil. Noch dazu in einer Äußerung, die nicht in einem Ad hoc-Interview erfolgte, sondern in einer wohlbedachten Stellungnahme. Schließlich war es auch nicht irgendwer, der hier sprach, sondern der Präfekt der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller.

Pogrom „stammt aus dem Russischen und bedeutet übersetzt: Verwüstung, Zerstörung, Krawall“ (Wikipedia). Pogrome sind „gewaltsame Ausschreitungen gegen Menschen, die entweder einer abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe angehören oder aber von den Tätern einer realen bzw. vermeintlichen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet werden“ (nochmal Wikipedia). Finden tatsächlich „gewaltsame Ausschreitungen“ gegen Katholiken statt? In Deutschland? „Verwüstung, Zerstörung, Krawall“? Abgesehen von Einzelfällen, von denen ich (auch aus eigener Erfahrung) berichten könnte, wird man wohl nicht sagen können, dass Katholiken in Deutschland widerfährt, was das Wort Pogrom zum Ausdruck bringt.

Nun gibt es zur reflexartigen Empörung über vermeintlich unangemessenen Sprachgebrauch immer eine Alternative: Man liest sich die kritisierte Aussage noch einmal in aller Ruhe durch. Also: „Der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, sieht eine Pogromstimmung gegen die katholische Kirche entstehen“. Er sagt damit nicht, dass Pogrome stattfinden, sondern dass eine Pogromstimmung entsteht, dass also erste Anzeichen einer solchen Stimmung im medial-öffentlichen Diskurs erkennbar sind. Wenn man auf einem leeren Grundstück ein Schild sieht: Hier entsteht ein neues Einkaufszentrum, wird man den Bauherrn auch nicht der Lüge bezichtigen, weil sein Projekt am aktuellen Winterschlussverkauf nicht teilnimmt. In fünf Jahren – wenn alles glatt geht – sieht die Sache schließlich anders aus.

Wenn also in Erzbischof Müllers Aussage überhaupt ein Vergleich mit der Vergangenheit enthalten ist, was ich nicht automatisch unterstellen möchte, denn selbst „Pogrom“ hat einen Bedeutungsgehalt, der nicht allein historisch bestimmt ist, dann eben nicht der mit der NS-Diktatur, sondern mit dem geistigen Klima im Europa des 19. Jahrhunderts, in dem die Pogromstimmung medial und literarisch verbreitet wurde und sich am Ende gesellschaftlich durchsetzte. Um die Jahrhundertwende Antisemit gewesen zu sein, war demnach nichts besonderes, sondern die übliche Haltung des modernen Bildungsbürgers gegenüber dem Judentum und den Juden. Rund hundert Jahre später ist es die Kirche und sind es die Katholiken, gegen die man zu sein hat – so man als modern und gebildet wahrgenommen werden möchte.

Es ist allgemein anerkannter Wissensbestand, dass physische Gewalt eine Vorstufe hat, nämlich die symbolische Gewalt, mit der jene semantisch vorbereitet wird. Könnte man es dann – gerade vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung und dem Bewusstsein unserer Verantwortung als Deutsche und als Europäer – nicht auch begrüßen, dass jemand rechtzeitig vor Aspekten einer aufkeimenden Pogromstimmung warnt, einer Stimmung, die üblicherweise über kurz oder lang zu Pogromhandlungen führt? Insbesondere dann, wenn diese Warnung eine Berechtigung hätte? Um herauszufinden, ob sie eine Berechtigung hat, müsste man versuchen, diese Stimmung treffend zu charakterisieren und schauen, ob sich die identifizierten Merkmale im Diskurs über die Katholische Kirche empirisch nachweisen lassen, nicht nur in Einzelfällen, sondern schon weit verbreitet. Dann hätte die Vokabel Pogromstimmung ihre Berechtigung.

Ich möchte dazu eine Drei Stufen-These zur Diskussion stellen. Ich gehe davon aus, dass es vor allem drei Elemente sind, die eine Pogromstimmung gegen eine gesellschaftliche Gruppe im Diskurs entstehen lassen: 1. Der Schritt von der Pauschalisierung zur Gruppenhaftung, 2. Der Schritt von der Gruppenhaftung zur Schuldumkehr, 3. Der Schritt von der Schuldumkehr zur Alleinschuld. Ich möchte die empirische Analyse dabei vor allem auf den Diskurs im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs in der Kirche beziehen.

Von der Pauschalisierung zur Gruppenhaftung

Der simplifizierende Singular hat im Diskurs längst die Macht übernommen, auch da, wo seine Herrschaft Terror bedeutet. Es ist ganz pauschal „die Religion“ und es ist „die Kirche“, zumindest dann, wenn man meint, dass etwas schief gelaufen ist. Es wird sich etwa grundsätzlich nur wenig Mühe gegeben, die Missbrauchsfälle als das zu zeigen, was sie sind: schwere Straftaten Einzelner. In den Medien haben „Priester“ Kinder missbraucht, während „die Kirche“ wegsah. Damit ist klar, dass „die Kirche“ die Verantwortung trägt und die Zahl der Täter unbestimmt ist. Jeder Priester könnte Täter sein, der Einfachheit halber wird oft genug gesetzt, dass er, „der Priester“, es tatsächlich auch ist. Nur radikale Maßnahmen können in diesem Licht betrachtet tatsächliche und vermeintliche Missstände in der Kirche beheben. Forderungen, „die Kirche“ als „verbrecherische Einrichtung“, „kriminelle Vereinigung“ o. ä. zu verbieten, bleiben in den Kommentarbereichen unwidersprochen.

Das Schlüsselmoment ist tatsächlich die Verallgemeinerung, aus der eine Gruppenhaftung erwächst. Wenn im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs in der Kirche – entgegen jeder vernünftigen Betrachtung der Faktenlage – jeder Priester unter Rechtfertigungsdruck geraten kann, wenn in Kommentaren zu Kirchenthemen immer irgendjemand das Missbrauchsthema aufnimmt, quasi routinemäßig, auch, wenn es um den Kartoffelsalat und die Tombola beim Pfarrfest ging, wenn ein Gericht es nicht für nötig hält, die Verunglimpfung der ganzen Katholischen Kirche als „Kinderfickersekte“ überhaupt nur zu behandeln (zynischerweise wird dabei mit dem „heftigen Verlauf“ des Diskurses argumentiert), wenn es also rechtens ist, die Katholische Kirche eine „Kinderfickersekte“ zu nennen, deren Mitglieder dann wohl „Kinderficker“ sind, dann ist dieses Moment erreicht.

Problematisch ist dabei vor allem das völlige Desinteresse derer, die diese Form der Stimmungsmache unterbinden könnten. Ich meine damit vor allem die Richterinnen und Richter (etwa die des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten), die Chancen verspielen, sondern auch die Medien, die in Fällen von Diffamierung nicht intervenieren. Das wohl einflussreichste Medium unserer Zeit, Facebook, hat gar nicht erst auf meine Beschwerde über eine Seite reagiert, auf der das Ende der antiken Christenverfolgung bedauert und Christen als Abfall gehandelt wurden (u. v. a. m.). Reagiert haben Kritiker meiner Beschwerde.

Im Internet findet man mit ein wenig Recherchebemühung, dass „tausende Priester“ Kinderschänder seien. Wenn das in deutschen Medien erscheint und zu dem gedanklich hinzugestellt wird, dass in Deutschland „tausende Priester“ ihren Dienst tun, dann wird es im Kopf des allzu Oberflächlichen schon mal sehr eng für den einzelnen Priester in Deutschland. Die Anschlussfrage lautet dann üblicherweise nicht: Stimmt das eigentlich, dass „tausende Priester“ Kinderschänder sind?, sondern: Wie kommt es, dass „tausende Priester“ Kinderschänder sind?

Auch die Beteuerung, nicht alle Priester seien Kinderschänder, ist für sich genommen schon beleidigend, wenn wir doch wissen, dass 99 Prozent der Priester gerade keine Kinderschänder sind. Dass dies extra betont werden muss, ist zudem ein Beleg für die These, dass längst nicht mehr selbstverständlich ist, was selbstverständlich sein sollte. Wenn es um die Katholische Kirche geht. Und vor diesem Hintergrund können dann auch Politiker aller Parteien fordern, den katholischen Krankenhäusern in Deutschland künftig die Unterstützung zu versagen, wenn ein Arzt in einem katholischen Krankenhaus eine Fehlentscheidung trifft. So einfach geht das.

Dem Mechanismus, vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen, korrespondiert also der gegenläufige Mechanismus, vom Einzelnen auf die Gruppe zu schließen. Wechselweise bedingen sich die Zuschreibungen und verfestigen eine Vorurteilsstruktur, die dem Feindbilddenken entspricht. Es zeichnet sich aus durch De-Individualisierung bzw. Pauschalisierung (Alle X sind a.), Entpersonalisierung (Xe sind keine mir gleichwertigen Wesen.), Misstrauen (Auch wenn X etwas sagt/plant/tut, dass auch ich für gut/richtig/wahr halte, hat X dabei böse Motive oder Hintergedanken.), Entweder-Oder-Denken (X kann nicht Recht haben, denn ich habe Recht.), Nullsummen-Ansatz (Was X schadet, nützt mir; was X nützt, schadet mir.), Nulltoleranz-Denken (Jeder, der X toleriert oder gar respektiert, macht sich mitschuldig an dem Bösen, das durch X in die Welt kommt.), negative Antizipation (Was auch immer X vor hat, sie/er will mir schaden.) und – als ultima ratio – die Unterstellung mangelnder Aufrichtigkeit bei der Deutung der strittigen Begriffe bzw. die eigene Deutung der Deutung des Anderen (X sagt a, meint aber eigentlich b, so kann X es überhaupt nur meinen, denn nur b passt in mein Bild von X.). Vor, hinter und über all dem steht die komplexe Empathieverweigerung – Motto: X und mich verbindet nichts. – als Ergebnis von zu wenig Differenzierung (X ist immer a.) und zuviel Dichotomisierung (X ist a, ich bin nicht a.). Die Kirche ist nicht die einzige Institution, bei der das in Zeiten geringer Kenntnisse und schneller Urteile der besagte Mechanismus zur Anwendung kommt, doch die Kirche ist ganz besonders stark davon betroffen, weil die Schere zwischen dem, was man über einen Sachverhalt weiß und dem, was man diesbezüglich einfordert, hier offensichtlich am größten ist.

Von der Gruppenhaftung zur Schuldumkehr

„Sie dürfen sich nicht wundern!“ – „Was erwarten sie denn?“ – „Na, und?!“ – Im Zusammenhang mit der weltweiten Christenverfolgung ist man diese Töne längst gewohnt. Nicht der Verfolger muss sich rechtfertigen, sondern der Verfolgte. Denn: Keine Christen, keine Christenverfolgung! So einfach ist das. Wenn Christen auch dann Christen bleiben wollen, wenn diese Entscheidung ihr Leben gefährdet – ja, was soll man dann sagen? Vielleicht: Warum bleibt ihr denn Christen? Warum seid ihr, wie ihr seid? Warum?! In Zeiten des „absoluten Relativismus“ ist das bindende Bekenntnis schwer vermittelbar. Den Rest besorgt die Geschichte, die man zwar nicht kennt, aber trotzdem zitiert. Und zur Not gilt die alte Handwerkerregel: Was nicht passt, wird passend gemacht.

An der Rezeption der Christenverfolgung in anderen Teilen der Welt, die von Ignoranz bis zur Verhöhnung der Opfer reicht, kann man leicht ermessen, wie groß der Solidaritätsvorrat noch ist, wie viel Hilfe zu erwarten wäre, würde es hierzulande handgreiflich werden. In den Kommentaren stellt man oft eine gehässige Häme fest, wenn „die Kirche“ oder „der Priester“ Opfer von Spott (oder auch Schlimmerem) werden. Geschieht ihnen recht – „der Kirche“, „dem Priester“! Denn solange es ihnen – in den Augen ihrer Kritiker – nicht gelingt, eine positive Ausstrahlung zu entfalten, so lange wird man doch wohl davon ausgehen können, dass Kirche wie Priester das Negative, das es zu kritisieren gilt, im Allgemeinen und im Besonderen wesentlich verkörpern, was bei der einseitig negativen Wahrnehmung, bei der medialen Klischeepflege und – hier schließt sich der Kreis – der Stimmung im Diskurs beliebig perpetuierbar ist. Die „allgemeine Schuldvermutung“ tut ihr übriges.

Es gibt immer etwas Negatives, das man in den Mittelpunkt stellen kann, so wie es schließlich auch möglich ist, das Positive systematisch zu ignorieren. Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nach meiner Auffassung Niemandem in der Kirche darum, berechtigte Kritik zu unterdrücken. Dass allerdings die Diagnose, diese sei in Art und Umfang manchmal eben nicht berechtigt, zum Anlass genommen wird, genau dies zu unterstellen, soll Sachkritik und Schmähkritik ununterscheidbar machen – und genau darin sehe ich das Problem. Wer sich gegen Hasstiraden zur Wehr setzt, will nach Lesart der Medien eine grundsätzliche Immunisierung der eigenen Position gegen Kritik. Wenn ihr euch nicht schlachten lasst, dann wollt ihr wohl Zensur!, so lautet die Rückbestätigung des eigenen Vorurteils. Hetze, wenn sie angesichts verschobener Koordinaten überhaupt noch auffällt, wird auf diese Weise zur Spielart legitimer Kritik, Kritik an Hetze zur „Kritik an Kritik“, also: illegitim. Entweder, man lässt sich alles gefallen oder man wird fallengelassen.

Schier unvorstellbar, dass ein Priester als Diskursteilnehmer einfach nur mal nicht verachtet, sondern ernst genommen werden will, wie jeder andere Diskursteilnehmer auch. Doch wer nach unverschämten Vorhaltungen das Gespräch unterbricht, der will eben nichts ändern, will weitermachen wie bisher, bestätigt seine Schuld. Mit dem Rücken an der Wand gibt also nur zwei Möglichkeiten: Man nimmt jede Schuld an, oder beweist seine Schuld gerade dadurch, dass man sich weigert, jede Schuld anzunehmen. Und: Wer schuldig ist, darf keine Ansprüche stellen. Selbst schuld! Warum ist er auch katholisch! Da muss er sich doch nicht wundern, wenn er angepöbelt wird! Nicht der Pöbler hat das Problem, weil er pöbelt, sondern der Katholik, weil er katholisch ist. Wäre er nicht katholisch, würde er nicht angepöbelt werden. Diese „Logik“ ist Voraussetzung dafür, dass am Ende Gewalt entsteht und als legitime Form der „Verteidigung“ wahrgenommen wird.

Die Katholische Kirche ist „menschenverachtend“, also fällt der Anspruch ihrer Mitglieder auf menschliche Behandlung weg und Widerstand wird zu einem Akt der Humanität. Dem physischen Angriff geht der verbale voraus, auf symbolische Gewalt folgt tatsächliche. Wer wissen will, was morgen passiert, muss schauen, wie die Menschen heute davon sprechen. Und da sticht die fast verständnisvolle Subsumtion von Vandalismus und Pöbeleien unter den „Missbrauchsskandal“ ins Auge. Ich finde es bedenklich, wenn man es nur schulterzuckend registriert, wenn 2013 in München ein Priester angespuckt wird, weil 1974 in Hamburg ein anderer Priester ein Kind missbrauchte und man dabei die Inkonsistenz nicht bemerkt, die dieser konstruierten Korrelation zugrunde liegt, ganz zu schweigen von der Preisgabe des rechtsstaatlichen Leitprinzips, dass nicht der „Zorn des Volkes“ entscheidend ist, wenn es um die Sühne von Straftaten geht, sondern das Votum unabhängiger Gerichte. Ich halte es für bedenklich, wenn allenthalben suggeriert wird, man müsse das verstehen. Nein, muss man nicht. Ich halte es für bedenklich, wenn die Medien nicht nur berichten und aufarbeiten (das sollen sie), sondern oft genug ohne wirklichen Informationswert in Beiträgen Vergangenes aktualisieren und damit so tun, als handle es sich um Akutes. Gerade die Entaktualisierung ist ein Schlüssel zur Deeskalation. Bloß hat daran niemand außerhalb der Kirche ein Interesse. Und innerhalb scheinbar auch nicht. Oder kaum.

Also: Es braucht die verbale Entmenschlichung, bevor es los gehen kann. Wem es recht ist, „Schädlinge“ zu identifizieren und eben so zu benennen, dem muss es billig sein, sie anschließend auch zu bekämpfen. Im Gegenteil: Wer sie nicht bekämpft macht sich mitschuldig am „Schaden“. Jeder Katholik, der seiner Kirche treu bleibt, mache sich insoweit mitschuldig an künftigen Missbrauchsfällen. Hab ich schon so gelesen. Unwidersprochen. Die Botschaft ist klar: Wir geben Euch Zeit, aus der Kirche auszutreten (dem Bösen den Rücken zu kehren), aber wenn die Frist abgelaufen ist (und wann das der Fall ist, bestimmen wir), dann garantieren wir für nichts. Dann erklärt ihr Euch selbst für vogelfrei. Dann wollt ihr es wohl nicht anders. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Von der Schuldumkehr zur Alleinschuld

Es findet nicht nur eine Reduktion der Kirche auf eines oder wenige negativ konnotierte Themen statt, sondern auch die Reduktion dieser Themen auf die Kirche. Die Kirche ist böse, die Kirche ist nur böse und nur die Kirche ist böse – das ist der Dreisatz der Progromstimmung. Beispiel: Missbrauch. Die Kirche ist eine „Kinderfickersekte“, sie ist ausschließlich dazu da, um ihren Mitgliedern Kindesmissbrauch zu ermöglichen (der Text handelt von einer katholischen Uni – Reaktion: Missbrauch!, der Text handelt von einer katholischen Gemeinde – Reaktion: Missbrauch!, der Text handelt von X, mit A(x): katholisch – Reaktion: Missbrauch!) und es ist nur die Kirche, die Kindesmissbrauch ermöglicht. Gäbe es die Kirche nicht, gäbe es keinen Missbrauch. Absurd? Richtig. Doch für jeden elften Deutschen ist das eine ausgemachte Sache. Die Umfrage „ARD-Deutschlandtrend“ vom 19. März 2010 lieferte – nach wochenlanger „Berichterstattung“ über das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen – dieses erstaunliche Ergebnis: 9 (neun!) Prozent der Deutschen waren sicher, dass sexueller Missbrauch ausschließlich in kirchlichen Einrichtungen vorkommt. Über 7 Millionen Deutsche sind von der Alleinschuld der Kirche beim Thema Kindesmissbrauch überzeugt.

Diese Alleinschuld braucht es, um sich im Zweifel zu fokussieren, schließlich kann man sich nicht gegen alles und jeden „wehren“. Es braucht diese Rhetorik des „Sündenbocks“, um komplexe Probleme auf einfache Thesen zu reduzieren und gezielte Handlungen anzustoßen.

Handlungsdisposition

Da Mitglieder einer „kriminellen Vereinigung“, einer „Kinderfickersekte“ Kriminelle sind, werden katholische Christen nicht nur kriminalisiert, sondern es werden auch implizit „Maßnahmen“ eingefordert – denn gegen Kriminelle muss sich eine Gemeinschaft wehren. Notfalls auch mit Gewalt. Die Katholiken sind mit 24 Millionen eine (noch) viel zu große Gruppe, um sie hierzulande tatsächlich diskriminieren und verfolgen zu können. Dazu fehlt im übrigen (noch) die allgemeine Bereitschaft. Doch in die zunehmend ausufernde „Kritik“ an der Kirche mischt sich schon mal eine grundsätzliche Handlungsdisposition, die in einer Zunahme an Übergriffen resultiert. Damit aber tatsächlich Ausschreitungen in größerem Ausmaß passieren, braucht es einen Anlass, der die vorhandene Stimmung zum Überkochen bringt. Ein singuläres Ereignis reicht da aus, weil aufgrund der Stimmung ja nicht mehr unterschieden wird zwischen dem Täter in dem Fall und der Gruppe, aus der der Täter stammt.

Anlass (nicht Grund!) für die jahrzehntelang andauernden Judenpogrome in Russland, war die Ermordung von Zar Alexander II. im März 1881, die „den Juden“ in die Schuhe geschoben wurde. Anlass (nicht Grund!) für das November-Pogrom 1938 (die so genannte „Reichskristallnacht“) war die Ermordung eines deutschen Diplomaten durch einen minderjährigen polnischen Juden. Im Völkischen Beobachter hieß es daraufhin: „Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird.“ Warum ist dies „klar“? Es ist deswegen „klar“, weil die Tat eines Einzelnen im öffentlichen Bewusstsein keine Einzeltat war, sondern ein Teil der „jüdischen Weltverschwörung“. Und dieses Bewusstsein ist jahrzehntelang geformt worden. So kann der Leitartikel bequem behaupten, es sei quasi üblich, dass Juden (und nicht Polen oder Minderjährige) „deutsche Beamte niederschießen“, auch wenn es für die Verallgemeinerung keinen Grund gibt. Nicht der mordende Jude ist die Ausnahme, sondern der nicht-mordende, der seine friedliche Disposition selbstverständlich unter Beweis zu stellen hat, vielmehr: unter das Urteil einer Stimmung, in der es gerade keine friedlichen Juden mehr gibt, weil es sie nicht geben kann. Denn es gilt ja pauschal die „allgemeine Schuldvermutung“. Sind wir – hinsichtlich der Katholischen Kirche – wirklich so weit von dieser „allgemeinen Schuldvermutung“ entfernt? Siehe oben.

Zum Schluss

Wir müssen wachsam sein, auf das Einschleifen von Klischees achten, auf Gewalt in der Sprache, denn schon einmal sind Vorurteile, gezielte Desinformation und ein entwürdigender Sprachgebrauch einer Religionsgemeinschaft in Deutschland zum Verhängnis geworden. Es lässt sich in der Judenverfolgung während der Nazi-Zeit eine Kette aus Stimmungsveränderungen und Einzelereignissen bilden, die von „klassischen“ Stereotypen („Finanzjudentum“), verbaler und medialer Gewalt sowie juristischen Eingriffen in Menschen- und Bürgerrechte (Nürnberger „Rassegesetze“, 1935) übergeht zu scheinbar „berechtigter“ Gewalt gegen Sachen und Personen (Novemberpogrom als „Vergeltung“, 1938). Diese wird beklagt und mahnend erinnert. Das ist gut so. Doch vielmehr sollte der Anfang all des Schreckens in den Blick geraten. Denn es handelt sich um eine schleichende Eskalation. Und es gibt in dieser Kette kein Glied, von dem man sagen könnte: „Jetzt reicht es aber!“ Man muss die Kette zurückverfolgen bis ans erste Glied, bis zum ersten dummen Vorurteil, bis zur ersten frechen Lüge, bis zum ersten falschen Hetzartikel. Dann weiß man, wo die „Reichskristallnacht“ ihre geistigen Wurzeln hat.

Entscheidend ist also nicht, ob und wann es tatsächlich zum Pogrom gegen die Katholische Kirche kommen wird, entscheidend ist, dass es dafür bereits jetzt in Teilen der Bevölkerung Verständnis gäbe, eine wohlwollende Grundhaltung, die im Zweifel zu Passivität führt. Aktiv werden, das bräuchten in Deutschland nur ein paar Hundert Extremisten, die es schon längst gibt. Auf einer einschlägigen Seite war schon mal zu lesen: „Die einzige Kirche, die leuchtet, ist eine brennende! Gerne hätten wir über abgefackelte Kirchen in Deutschland nach dem Vorbild von Nova Scotia oder North Tulsa, von Abita Springs, Hardeeville oder Logansport berichtet. Leider brennen hierzulande höchstens Gebetbücher in Greven, aber weder Kathedrale, Dom noch Münster. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf und vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder, so daß wir uns nächstes Jahr an der Glut eines niedergebrannten Gotteshauses erwärmen können!“ Es scheint keinen gesellschaftlichen Konsens mehr darüber zu geben, dass Niemand das Recht hat, eine Kirche niederzubrennen, auch wenn 99 Prozent aller Priester Kinderschänder wären! Das Bewusstsein dafür, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, ist nämlich irgendwo auf halber Strecke verloren gegangen.

Gerade Priester betonen nun, sie müssten die aktuelle Situation „aushalten“. Sie sehen dies als praktizierte Feindesliebe, als Teil der Nachfolge Christi, als Alltags-Martyrium. Als katholischer Christ kann ich nur sagen: Hut ab! Und das meine ich ausnahmsweise mal nicht ironisch. Als Laie sichere ich Ihnen dennoch (oder gerade deshalb) meine volle Unterstützung zu. Als jemand, der ab und an Zeitung liest (vor allem die Online-Ausgaben), komme ich allerdings nicht umhin, vor einer bedenklichen Entwicklung zu warnen, die erste Anzeichen einer gefährlichen Stimmung enthält, die nicht in Gewalt umschlagen muss, die aber auch nicht unbedingt dazu beiträgt, die Dinge sachlich und nüchtern zu analysieren, im Dienste vernünftiger Lösungen. Das jemand wie Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, der genau darauf hinweist, nun selbst wieder am medialen Pranger steht, damit alle, die wollen, verbal auf ihn einschlagen können, ist eher Beleg für das, was überhaupt nur zu erwähnen in Deutschland ein Tabu darstellt: Es herrscht Pogromstimmung gegen die Kirche. Und wie man merkt, merkt man nichts. Und gerade das ist die Gefahr dabei.

(Josef Bordat)

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