Der dritte Teil des Geheimnisses von Fatima wurde von der Kirche lange geheimgehalten, was Anlaß zu Unruhe und zahlreichen Spekulationen war. Der Grund, weshalb dieser Teil so viele Jahrzehnte unter Verschluß gehalten wurde, erschließt sich im Rückblick nicht wirklich. Erst am 26. Juni 2000 legte der Heilige Stuhl durch die Glaubenskongregation unter der Leitung ihres damaligen Präfekten Joseph Kardinal Ratzinger und ihres Sekretärs, des damaligen Erzbischofs und späteren Kardinals Tarcisio Bertone SDB, auch diesen letzten Teil des Geheimnisses der Öffentlichkeit vor, den die Gottesmutter drei Hirtenkindern am 13. Juli 1917 in der Cova da Iria in Fatima offenbart hatte.
Dabei muß festgehalten werden, daß Sr. Lucia dos Santos, das einzige überlebende Seherkind der Ereignisse von 1917, den dritten Teil des Geheimnisses erst am 3. Januar 1944 auf Anweisung des Bischofs von Leiria-Fatima zu Papier brachte und damit jenes Dokument entstand, das dem Papst in Rom übergeben und dort bis 2000 unter Verschluß gehalten wurde.
Die Veröffentlichung im Rahmen des Heiligen Jahres 2000 war von Papst Johannes Paul II. gewünscht worden, wobei an dieser Stelle nicht auf die folgenden Zweifel und Polemiken eingegangen werden soll, ob und inwieweit die Angaben von Sr. Lucia damals vollständig publiziert wurden oder nicht. An dieser Stelle geht es um die Frage, ob es eine offizielle kirchliche Deutung des Geheimnisses gibt.
Die Veröffentlichung der Glaubenskongregation vom 26. Juni 2000 ist umfangreich und besteht aus verschiedenen Dokumenten, darunter auch ein Schreiben von Johannes Paul II. vom 18. April 2000 an Sr. Lucia, in dem es heißt (Hervorhebung im Original):
„Da jedoch an diesem Tag keine Zeit sein wird zu einem Gespräch, sondern nur für einen kurzen Gruß, habe ich eigens Seine Exzellenz Msgr. Tarcisio Bertone, Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, beauftragt, Sie aufzusuchen und mit Ihnen zu sprechen. Diese Kongregation arbeitet engstens mit dem Papst zusammen, um den wahren katholischen Glauben zu schützen, und hat, wie Sie wissen, seit 1957 Ihren handschriftlichen Brief aufbewahrt, der den dritten Teil des Geheimnisses enthält, das am 13. Juli 1917 in der Cova da Iria, Fatima, offenbart wurde. Msgr. Bertone, der von Seiner Exzellenz Msgr. Serafim de Sousa Ferreira e Silva, dem Bischof von Leiria, begleitet wird, kommt in meinem Namen, um einige Fragen zu stellen zur Deutung des ‚dritten Teils des Geheimnisses‘.
Msgr. Bertone suchte Sr. Lucia in Begleitung des Bischofs von Leiria-Fatima am 27. April 2000 im Karmel der heiligen Teresa von Coimbra auf. Darüber legte er 2007 das Buch: „Die letzte Seherin von Fatima. Meine Gespräche mit Sr. Lucia“ vor, das 2009 mit dem Titel: „Die Seherin von Fatima“ auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde.
Den Kern des Fatima-Dossiers der Glaubenskongregation vom Juni 2000 bildet die Veröffentlichung der Niederschrift von Sr. Lucia von 1944, die u. a. von der Ansprache von Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano vom 13. Mai 2000 in Fatima und von dem „Kommentar zum Geheimnis von Fatima“ des damaligen Glaubenspräfekten Joseph Kardinal Ratzinger eingerahmt wird.
Roma locuta causa finita? So heißt es zumindest immer wieder.
Nun legte Secretum meum mihi eine Videosequenz der Pressekonferenz vom 26. Juni 2000 vor, die damals vom vatikanischen Presseamt durchgeführt wurde, um den bis dahin geheimen Teil der Botschaft von Fatima vorzustellen. Der heute 77jährige Marco Politi, damals Vatikanist der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica, fragte auf der Pressekonferenz Kardinal Ratzinger nach dem offiziellen Charakter des „Versuchs einer Interpretation“, wie Ratzinger in seinem Kommentar selbst schreibt.
Der Glaubenspräfekt, Autor des „Interpretationsversuchs“, antwortete auf die Frage Politis, daß es „keine offizielle kirchliche Interpretation dieser Visionen gibt“ (ab Minute 2:40). Diese Feststellung wurde von Kardinal Ratzinger noch einmal bekräftigt und präzisiert:
„Es ist nicht die Absicht der Kirche, eine Interpretation vorzuschreiben“ (ab Minute 3:55).
Diese Klarstellung des Glaubenspräfekten, den Johannes Paul II. mit der Veröffentlichung des „Dritten Geheimnisses“ beauftragt hatte, ging jedoch weitgehend unter und wurde bis heute kaum rezipiert. Grund dafür war, daß die Ereignisse längst von einer Aussage des damaligen Kardinalstaatssekretärs Angelo Sodano überschattet wurden und bis heute werden.
Kardinal Sodano, der damals ranghöchste Vatikandiplomat, hatte am 13. Mai 2000, mehr als einen Monat zuvor, in Fatima in Anwesenheit von Johannes Paul II. das Wort ergriffen. An jenem Tag hatte der polnische Papst die beiden jung verstorbenen Seherkinder Jacinta und Francisco Marto seliggesprochen. Am Ende der Zelebration trat Kardinal Sodano zum Mikrophon, um Johannes Paul II. zu seinem 80. Geburtstag zu gratulieren. Dann aber präsentierte er, laut eigenen Worten „beauftragt“ durch den anwesenden Papst, eine Interpretation des zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten dritten Teils des Geheimnisses von 1917. Laut Sodano sei dieses eine „prophetische Schau“ gewesen. „Der Schlüssel zum Verständnis des Textes kann daher nur symbolisch sein“, so der Kardinalstaatssekretär, und dieser habe das Attentat auf Johannes Paul II. vom 13. Mai 1981 gemeint.
Die Chronologie der Ereignisse ist bekannt. Warum diese Reihenfolge gewählt wurde, hingegen nicht. Obwohl der dritte Teil des Geheimnisses erst am 26. Juni 2000 veröffentlicht wurde, preschte der Kardinalstaatssekretär am 13. Mai 2000 vor und gab den Ereignissen, bei noch unbekanntem Text, bereits eine sichere Interpretation, während Glaubenspräfekt Joseph Ratzinger, 44 Tage später, nur von einem „Interpretationsversuch“ spricht. Doch diese Präzisierung hörte kaum noch jemand. Die Medien hatten sich längst auf das sensationelle Thema geworfen und die Sodano-Interpretation als offizielle kirchliche Deutung in den Köpfen der Menschen verankert.
Nun ist festzuhalten, daß sowohl Kardinalstaatssekretär Sodano als auch Glaubenspräfekt Ratzinger für sich ausdrücklich in Anspruch nahmen, im Auftrag von Johannes Paul II. zu handeln. Ratzinger widersprach der Deutung Sodanos nicht, von der es heißt, daß sie die Überzeugung Johannes Pauls II. wiedergegeben habe. Während der Kardinalstaatssekretär jedoch eine sichere Deutung zu geben schien, reduzierte der Glaubenspräfekt diese auf einen bloßen Deutungsversuch.
Fest steht zumindest, wie das Video der Pressekonferenz belegt, daß es „keine offizielle kirchliche Interpretation“ des sogenannten Dritten Geheimnisses von Fatima gibt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube/CTV/arquivos.rtp.pt (Screenshots)
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