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In die Hölle statt ins All: Die "Supertiefe Kola-Bohrung"

Foto: Dmitrij Saburow

Russischer Tiefendrill Hoppla, wir haben die Hölle angebohrt!

Buddeln bis zum Beelzebub: In den Siebzigerjahren bohrte ein Forscherteam im Norden Russlands das tiefste Loch der Welt. Das gigantische Projekt sollte eigentlich wissenschaftlichen Zwecken dienen - und sorgte plötzlich für weltweite Hysterie. Angeblich waren die Sowjets auf die Hölle gestoßen.

Es ist ein unheimlicher Anblick: Mitten in der menschenleeren Weite der russischen Kola-Halbinsel steht etwa 150 Kilometer nordwestlich von Murmansk eine verlassene Anlage mit Arbeiterbaracken, Lagerhallen und Laboren. Eine dicke Staubschicht bedeckt alle Spuren menschlichen Lebens - Bücher, Gesteinsproben, Maschinen und Messgeräte, scheinbar eilig zurückgelassen.

Ein riesenhafter, schwefelgelber Turm ragt in den Himmel. Er lässt erahnen, dass hier etwas Ungeheuerliches passiert sein muss. Seine Spitze ist wie von einer gewaltigen Explosion zerrissen, Fetzen der Metallhaut haben sich abgeschält, Stahlträger ragen wie abgeknickte Insektenbeine heraus. Er erinnert an einen ausgebrannten Flughafentower, dabei ist er das genaue Gegenteil: Hier eroberte der Mensch nicht die Lüfte, sondern die Tiefe. Unter dem Turm klafft ein Loch ins Erdinnere. Das tiefste Loch der Welt.

Am 24. Mai 1970, als UdSSR und USA im "Space Race" darum wetteiferten, in den Weltraum vorzudringen, startete die Sowjetunion hier, nahe der Grenzen zu Finnland und Norwegen, ein zweites Rennen - dem Mittelpunkt der Erde entgegen. Über Jahrzehnte sollte die "Supertiefe Kola-Bohrung SG-3" Millionen verschlingen, sich durch Hunderte Tonnen von Gestein fressen und der Tiefe Geheimnisse entreißen, die manche wissenschaftliche Wahrheit auf den Kopf stellten. Seinen ungeheuerlichsten Fund machte das Forscherteam Ende der achtziger Jahre: Mehr als zehn Kilometer unter der Erde wurde aus dem wissenschaftlichen Projekt plötzlich eine tiefreligiöse Angelegenheit - bei der ein norwegischer Bauinspektor, ein atheistischer Lehrer und ein paar amerikanische Fernsehprediger entscheidend mitmischten.

Schreie aus dem Superloch

Nach dem Startschuss 1970 wurde das Bohrvorhaben in wenigen Jahren zu einem Vorzeigeprojekt der UdSSR: Das 200 Tonnen schwere Gestänge der Bohrmaschine "Uralmasch-15000" mit dem 21 Zentimeter breiten Bohrkopf drillte sich Meter um Meter durch das Gestein des Baltischen Schildes. Primäres Ziel der Sowjets: die damals tiefste Bohrung der Welt, das 9583 Meter tiefe amerikanische Bohrloch "Bertha Rogers" in Oklahoma, zu übertrumpfen. Am 6. Juni 1979 war es soweit: "SG-3" hatte die US-Marke geknackt. Doch die Sowjets wollten mehr: Bis in eine Tiefe von 15.000 Metern sollte es weiter hinabgehen.

Auf dem Weg ins Erdinnere machten die Forscher unerwartete Entdeckungen: So gelang es ihnen, anhand ungewöhnlicher Geräusche in der Tiefe Erdbeben vorherzusagen. In einer 3000 Meter tief gelegenen Gesteinsschicht fanden sie eine sonderbare Substanz, die fast völlig identisch mit Mondgestein war. Sechs Kilometer darunter stießen sie unerwartet auf Gold. Aber sie machten auch weniger erfreuliche Entdeckungen: Je tiefer sie kamen, umso mehr zeigte sich, dass es im Erdinneren viel heißer war als vorherberechnet: Als der Bohrer im Jahr 1989 die Tiefe von 12.262 Meter erreichte, herrschten dort nicht wie angenommen 100, sondern 180 Grad Celsius. Das Vorankommen wurde dadurch immer schwerer.

Etwa zur gleichen Zeit gerieten Gerüchte über die Bohrung in Umlauf: Bei einer Tiefe von 14 Kilometern hätte der Bohrer plötzlich durchgedreht, als ob er auf einen Hohlraum getroffen wäre, hieß es. Die Forscher hätten außerdem Temperaturen von 1100 Grad Celsius gemessen und verwirrt Messgeräte und ein hitzeresistentes Mikrofon den Schacht hinabgelassen. Die eigenartigen Klänge, die sie dort einfingen, hätten sie zunächst für Störgeräusche gehalten, dann, nach der Überarbeitung des Signals, aber eine grausige Entdeckung gemacht: Es waren menschliche Schreie, aus Tausenden gequälten Kehlen zugleich.

Strahlende Gestalt mit Fledermausflügeln

Wo genau das Schauermärchen seinen Ursprung hatte, ist bis heute ungeklärt. Nach Rekonstruktion des US-Journalisten Rich Buhler wurde die Geschichte einem Newsletter finnischer Missionare namens "Vaeltajat" von einem Leser zugespielt. Dieser behauptete, in einem anderen christlichen Newsletter davon gelesen zu haben. Ein Leser von "Vaeltajat" wiederum schickte einen Leserbrief über die Geschichte an die finnische Tageszeitung "Etela Soumen", die ihn veröffentlichte. Woraufhin ein kleines religiöses Monatsblatt namens "Ammenusastia" den Brief als Nachrichtenmeldung übernahm. Von dort schließlich erreichte die vermeintliche Nachricht über die Entdeckung der Hölle das "Trinity Broadcasting Network", kurz TBN. Das größte religiöse Fernsehnetzwerk der USA.

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In die Hölle statt ins All: Die "Supertiefe Kola-Bohrung"

Foto: Dmitrij Saburow

Für die flächendeckende Verbreitung jedoch sorgte erst der norwegische Lehrer Åge Rendalen. Kurz nach Weihnachten 1989 besuchte Rendalen seinen Freund Rick Kuykendall in Kalifornien. Beide hatten gemeinsam Theologie studiert, aber während Kuykendall Pastor geworden war, hatte Rendalen sich von der Religion abgewandt. Nach wie vor diskutierten die beiden jedoch leidenschaftlich über Glaubensfragen. Als Rendalen in den USA ankam, berichtete ihm Kuykendall lachend von einer Sendung, die er tags zuvor auf TBN gesehen hatte: Sie handelte von einem Forscherteam, das versehentlich die Hölle angebohrt habe. Kuykendall schaltete den Fernseher an - und zufällig lief gerade eine Wiederholung des Beitrags. Sie amüsierten sich königlich.

In Rendalen reifte ein Plan: "Ich beschloss herauszufinden, wie weit ich die Leichtgläubigkeit dieser Menschen strapazieren konnte. Es war ein Experiment, um rauszufinden ob sie alles annehmen würden, solange es zu ihrer Weltsicht passt." Am 4. Januar 1990 schrieb er einen Leserbrief an TBN, in dem er sich als "Spezialberater des norwegischen Justizministeriums" ausgab und die schauerliche Geschichte noch ausbaute: In der Nacht nach den Tonaufzeichnungen, so berichtete Rendalen, sei plötzlich eine Säule aus phosphoreszierendem Gas aus dem Bohrloch geschossen. Dann sei aus den Wolkenmassen eine strahlende Gestalt mit Fledermausflügeln aufgetaucht, und am Himmel erschienen die Worte "Ich habe erobert".

Als Beleg seiner Geschichte fügte Rendalen seinem Brief einen norwegischen Artikel aus dem Lokalblatt "Asker Baerums Budstikke" bei. Rendalen erinnert sich: "Tatsächlich handelte der Text von einem Bauinspektor, der sich beschwerte, sein Arbeitgeber habe seine Meinungsfreiheit beschnitten. Ich wählte den Artikel, weil er auf dem Foto so verschwörerisch den Zeigefinger vor die Lippen hielt. Dann fügte ich die angebliche Übersetzung hinzu."

Die erzählte folgende Geschichte: Bjarne Nummedal, leitender Geologe der Bohrung, bestätigte in dem Artikel nicht nur Rendalens Geschichte, sondern berichtete auch von Schweigegeldern und Morddrohungen, mit denen die Sowjetregierung die Forscher ruhiggestellt habe. Und er erzählte, Sanitäter hätten nach dem Vorfall in der Region Medikamente verteilt, die das Kurzzeitgedächtnis auslöschten, um Augenzeugen unschädlich zu machen.

Abrissbefehl fürs Höllentor

Zwei Wochen nachdem Rendal sein übersetztes Märchen an TBN geschickt hatte, meldete sich der Sender zurück. Einem Mitarbeiter sei die Übersetzung des Artikels irgendwie merkwürdig vorgekommen. Sofort räumten Rendalen und Kuykendall ein, dass alles nur erlogen war. Doch das hielt den Sender scheinbar nicht davon ab, die vermeintliche Nachricht über seinen Kunden-Newsletter weiterzuverbreiten und Rendalens Brief an den texanischen Fernsehprediger R.W. Shambach weiterzuleiten. Und der nutzte den vermeintlichen Beleg dazu, die Geschichte über die russische Höllenbohrung im ganzen Land bekanntzumachen.

Die Lügengeschichte von der Entdeckung der Hölle verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Weitere Fernsehprediger adaptierten die Geschichte, christliche Zeitschriften wie "Christianity Today" und selbst renommierte Tageszeitungen wie die "Birmingham News" kolportierten dankbar die Höllenmär. Die satirische Wochenzeitung "Weekly World News" titelte "Wir haben durch die Pforten der Hölle gebohrt".

Die Legende war selbst von ihrem Schöpfer nicht mehr aufzuhalten: Rendalen veröffentlichte eine Stellungnahme, dass die Geschichte nur eine Lüge gewesen sei. Er offenbarte seinen Betrug in einer Radio-Talkshow. Er beantwortete die Briefe, die er nun aus aller Welt bekam, mit einem vorgefertigten Standardbrief, der erklärte, das alles sei nur ein Betrug. Doch vor allem im Internet verbreitete sich seine Lügengeschichte unaufhaltsam - bis heute: "Vor ein paar Tagen schickte mir einer meiner Schüler einen Videolink zu einem Auftritt des Fernsehpredigers Creflo Dollar von 2009. Der eröffnete seine Predigt mit der Geschichte der Bohrexpedition, die auf die Hölle trifft. Und er behauptete, 1984 von der Geschichte gehört zu haben - fünf Jahre bevor ich selbst sie kannte!"

Doch während die Höllendurchbruch-Mythos Karriere machte, war dem realen Bohrprojekt "SG-3" weit weniger Erfolg beschert: 1992 wurden die Bohrarbeiten eingestellt. Aufgrund der unerwartet hohen Temperaturen waren die Tiefenbohrungen mit immer größeren technischen Problemen verbunden. Zudem wuchs der Unmut der Regierung darüber, dass die Bohrung kaum noch Rohstofffunde abwarf. Einige Forscher blieben noch vor Ort, um seismische und erdmagnetische Untersuchungen anzustellen, doch nach ein paar Jahren gingen auch sie.

Die russische Regierung ordnete den Abriss der Anlage an, aber nicht mal dafür war Geld vorhanden: Arbeiter versuchten, mit an Lkw gebundenen Seilen den Bohrturm, der so hoch wie ein zwanzigstöckiges Haus war, umzureißen. Doch der bewegte sich keinen Zentimeter. Einem der Wagen brach bei dem Versuch fast die Achse ab. Nach langem Kampf gelang es schließlich gerade mal, das obere Viertel des Turmes herunterzureißen. Frustriert ließ der Abrisstrupp die Gebäude mit ihren zersprungenen Fensterscheiben, eingestürzten Treppen und rostzerfressenen Stahltüren einfach zurück. Und ließ "SG-3" zur Hölle fahren.