Zwei Jungen mit Down-Syndrom: Benjamin lebt, Luca ist tot. Entschieden haben das ihre Eltern. Ein Dilemma, in das Tests vor der Geburt immer mehr Paare stürzen.

Noch ist es ein flüchtiger Eindruck: Müsste es nicht mehr Kinder mit Down-Syndrom geben? Wenn Mütter später schwanger werden, steigt die Wahrscheinlichkeit für Veränderungen am Erbgut. Werden heute weniger behinderte Kinder geboren?

Schon im Mutterleib lässt sich herausfinden, ob ein Fötus Mutationen im Genom hat. Zum Beispiel Chromosomen zu viel. Neue Bluttests ermöglichen das im dritten Schwangerschaftsmonat, früher als bisher. Sie können Gewissheit über manche Behinderungen bringen.

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Dann kommt die Frage: Behalten oder abtreiben? Die Antwort müssen Eltern alleine finden.

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1 — "Wir haben unseren Sohn getötet"

von Sven Stockrahm

An drei Tagen im Jahr muss ich besonders an Luca denken. Am Tag, an dem wir es erfahren haben. An seinem Geburtstag. Am Tag seiner Beerdigung. Aber eigentlich ist er immer da. Dieses Jahr wäre er in die Schule gekommen.

Niemand hat Lisa Erdinger* gesagt, wie es ist, den eigenen Sohn zu töten. Sechs Jahre ist es her, dass sie Lucas Leben beendete. Bis heute bestimmt das verlorene Kind ihre Gedanken. Spätabbruch zu Beginn des sechsten Schwangerschaftsmonats, kurz bevor Luca selbst hätte atmen können. Er kam im Kreißsaal zur Welt. Auf der Geburtsstation, wo an den Wänden Fotos von Neugeborenen hängen, neben bunten Farbklecksen, gestempelt mit den winzigen Händen und Füßen der Jungen und Mädchen. Wo sich jedes Jahr Hunderte Kinder ins Leben schreien. Luca konnte nicht mehr schreien.

Ihren Sohn sterben zu lassen, war der größte Fehler, sagt Lisa. Doch ihn leben zu lassen, wäre vielleicht auch falsch gewesen.

Mittwoch, 21. Mai 2008. "Es ist ein Junge und er hat Trisomie 21. Weißt du, was das ist?" Lisa Erdinger ist allein zu Hause, als ihr Frauenarzt anruft. Sie duzen sich schon lange. Dass der Test von vor mehr als zwei Wochen noch einmal erwähnt werden würde, hatte sie nicht gedacht. Die Analyse hat länger gedauert als erwartet. Ja, sie weiß, was Trisomie 21 ist – Down-Syndrom.

"Überlegt, was Ihr machen wollt. Kommt am Montag in die Praxis." Lisa legt auf. Was soll das heißen? Nie hat sie auch nur daran gedacht, abzutreiben. Für sie ist die Fruchtwasseruntersuchung Teil der Vorsorge gewesen. Sie war schon bei der Geburt ihres ersten Sohnes Lars 35 gewesen, damals hat sie den Test auch machen lassen. Risikoschwangerschaft wegen des Alters. Heute müsste sie ausführlicher aufgeklärt und beraten werden, so verlangt es das Gendiagnostikgesetz, das seit 2010 gilt. Damals jedoch hatte ihr Frauenarzt kaum etwas dazu gesagt. Da gab es eine Broschüre, was herauskommen könnte. Aber so genau hatte sie das Heft nicht gelesen. Und nun das. Mit einem solchen Ergebnis hat sie nie gerechnet, auf den letzten Ultraschallaufnahmen von Luca ist alles gut gewesen.

VIDEO: Diagnose Trisomie 21 – Lisa und Richard erzählen in ihren Worten, wie sie die folgenschwere Entscheidung gegen ein Kind mit Down-Syndrom und die Zeit danach erlebt haben (11:41 Min)

Oh Scheiße, wann lässt Du es wegmachen?
Lisas Mutter

Der anderthalbjährige Lars ist bei der Tagesmutter, ihr Mann Richard ist im Büro, als sie versucht, ihn zu erreichen. Er geht nicht dran. Lisa ruft ihre Mutter an. "Oh Scheiße, wann lässt Du es wegmachen?" Und Luca ist auf einmal nicht mehr, wer er werden soll, ein Kind. Er ist ein Etwas. Ein Makel.

Vielleicht stimmt es ja nicht. Luca könnte gesund zur Welt kommen. Es gibt Fehldiagnosen.

Lisa und Richard verbringen das Wochenende vor dem Rechner. Googeln nach Antworten auf Fragen, die sie sich niemals stellen wollten. Was bedeutet Down-Syndrom genau? Wie würde sich ihr Leben dadurch verändern? Was, wenn Luca ein Leben lang Hilfe bräuchte? Was passiert mit uns als Paar? Wie käme ihr Sohn Lars damit zurecht? Niemand weiß, wie stark sich eine Trisomie 21 ausprägt. Menschen mit Down-Syndrom können geistig und körperlich schwer behindert sein, einige kommen mit schwer geschädigten Organen, etwa einem Herzfehler, auf die Welt. Andere sind körperlich gesund und durchschnittlich intelligent.

Die Erdingers sind hilflos. Richtig und falsch sind plötzlich keine Kategorien mehr.

Können wir das überhaupt bewältigen?

Luca ist die ganze Schwangerschaft über viel quirliger als sein Bruder gewesen, schon früh hat Lisa ihn gespürt. Nie haben sie oder ihr Mann darüber nachgedacht, dass ihr Kind behindert zur Welt kommen könnte. Wollen sie das? Für und Wider, Stunde um Stunde. Und niemand, der ihnen beisteht. Keiner in der Familie, der sagt: "Das schaffen wir gemeinsam." Auch Richards Eltern sagen: "Sowas muss heute nicht mehr sein."

Das ist es, was ihr von mir erwartet? Abtreiben?

Am Chiemsee: Lisa Erdinger © Janine Stengel

Lisa spürt, wie der Druck wächst. Ihr wird übel, als sie im Netz erfährt, was ein Spätabbruch bedeutet. Sie ist am Ende des fünften Monats, 20. Schwangerschaftswoche. Keine Operation unter Narkose, nach der Luca verschwunden wäre. Nein, sie würde ihn zur Welt bringen müssen wie seinen Bruder Lars. Hormone, etwa als Zäpfchen verabreicht, würden frühzeitig Wehen auslösen, Luca würde im Kreißsaal geboren werden.

Sein Körper, gerade groß genug, um in Lisas Hand Platz zu finden, würde die Strapazen der Geburt kaum verkraften. Selbst wenn Luca zur Welt käme und atmete, stünden seine Chancen schlecht. Seine Lunge wäre wohl zu schwach, sie ist eines der Organe, die sich als Letztes entwickeln. Lucas Körper würde alle Funktionen drosseln, sein Herz würde stetig langsamer schlagen, ehe es versagen würde.

Die Zeit drängt. Wenn Luca sterben soll, müsste es bald geschehen. Nach der 20. Schwangerschaftswoche lehnen manche Mediziner einen Spätabbruch ab. Außerdem können Frühchen zu diesem Zeitpunkt fast schon außerhalb des Körpers der Mutter überleben. Andere Mediziner raten dazu, das Ungeborene ab der 22. Woche im Mutterleib zu töten, ehe es noch atmend in die Hände der Geburtshelfer gleitet; sonst geraten sie möglicherweise in das Dilemma, das Kind nach der Geburt versorgen zu müssen. Willigen die Eltern ein, wird das Ungeborene eingeschläfert. Spritze ins Herz, ehe die Wehen einsetzen. Als Lisa das liest, sträubt sich alles in ihr.

Wir schaffen das. Wenn es nur Down ist. Aber so einfach ist es nicht … Wir schaffen das nicht. Oder doch?
Lisa Erdinger

Luca totspritzen? Niemals. Ehe es so weit kommt, springe ich von der nächsten Brücke. Auf keinen Fall. Das schaffe ich nicht.

Montag, 26. Mai 2008. Der Frauenarzt ist verblüfft, als die Erdingers nicht wissen, was sie machen sollen. Eine weitere Fruchtwasseruntersuchung? Nicht nötig, das Ergebnis sei sicher. Lisa und Richard können sich nicht entscheiden, ob sie Luca behalten oder sein Leben beenden sollen. Lisa will wissen, ob Lucas Körper gesund ist. Der Mediziner stellt eine Überweisung für eine Klinik aus.

Dienstag, 27. Mai 2008. Ultraschall. Lucas Herz schlägt kräftig, keine Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Auch Magen und Darm sind ohne Auffälligkeiten. Nur seine Nackenfalte sei recht dick, ein Hinweis auf das Down-Syndrom. Wäre die Diagnose nicht schon gestellt, hätten die Mediziner Lisa spätestens jetzt zur Fruchtwasseruntersuchung geschickt, um das Erbgut von Luca auf Trisomie 21 prüfen zu lassen.

Wir schaffen das. Wenn es nur Down ist. Aber so einfach ist es nicht. Können wir das Lars zumuten? Was, wenn Luca doch Unterstützung braucht, ein Leben lang? Wir schaffen das nicht. Oder doch?

Mittwoch, 28. Mai 2008. Eine Woche ist seit dem Anruf von Lisas Frauenarzt vergangen. Was tun? Die Erdingers sind keinen Schritt weiter. Es bleiben nur noch wenige Tage, um, ja, was eigentlich? Der Chefarzt einer anderen Klinik nimmt sich Zeit, erklärt, weshalb die Diagnose praktisch keinen Zweifel zulässt. Termin bei der Familienhilfe pro familia zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Auf das Angebot müssen Ärzte alle Frauen hinweisen, die ihr Kind nicht bekommen wollen.

ZEIT ONLINE-Redakteur Sven Stockrahm (links) im Gespräch mit Richard Erdinger © Janine Stengel

Erneut gehen die Erdingers das Für und Wider durch. Die Beraterin ist verständnisvoll, doch eine Antwort auf die Frage, wie die Erdingers sich entscheiden sollen, kann sie nicht geben. Lisa und Richard fahren zum Jugendamt: Gibt es Unterstützung, wenn sie Luca bekommen und dann überfordert sind? Könnte der letzte Ausweg eine Pflegefamilie sein? Schon jetzt gebe es zu viele Kinder, die ein neues Zuhause bräuchten, sagt die Mitarbeiterin. Ein weiterer Tag endet in Ratlosigkeit.

Niemand hilft. Wer auch? Ein Arzt, der einem vorschreibt, was zu tun wäre? Das ist unser Leben. Was passiert, wenn wir einen der Wege einschlagen? Ich weiß es nicht.

Donnerstag, 29. Mai 2008. Lisa und Richard sitzen mit Marcels Eltern in deren Garten, es gibt Kaffee und Kuchen. Lars' Tagesmutter hat den Kontakt vermittelt. Sie habe nicht gewusst, dass ihr Sohn das Down-Syndrom hat, sagt Marcels Mutter. Erst nach der Geburt sei es festgestellt worden. Wie der Alltag aussähe mit einem Kind mit Down-Syndrom, wollen die Erdingers wissen. Es gebe gute und schlechte Tage, sagt Marcels Mutter, aber in welcher Familie sei das nicht so? Sie erzählt noch, als ihr Sohn aus der Schule kommt und zum Spielen in den Garten eilt. Ein fröhlicher Junge, ohne körperliche Behinderung.

Das könnte Luca sein.

Sie wisse nicht, was sie an Lisas und Richards Stelle tun würde, sagt Marcels Mutter. Nur die beiden könnten es herausfinden. Es ist Zeit zu gehen, wieder ohne Rat. "Gebt Bescheid, wie Ihr Euch entschieden habt", sagt Marcels Mutter. Aber wie dort hinkommen?

Ein Kind mit Down-Syndrom? Für manche Familien ist die Entscheidung eine Zerreißprobe. © Janine Stengel

Freitag, 30. Mai 2008. Die Erdingers sind am Ende ihrer Kräfte. Tagelang haben sie kaum geschlafen, viel geweint und geschrien. Abwägen. Lisa Erdinger fühlt sich alleingelassen. Richard versucht, ihr beizustehen, und scheitert. Seine Frau ist es, die den Sohn in ihrem Bauch trägt. Vielleicht ist es vernünftig, Luca nicht zu bekommen. Warum sich das Leben so schwer machen und eine ungewisse Zukunft riskieren? Lisa ist unruhig, verzweifelt. Soll sie tun, was Freunde und Familie erwarten? Entweder jetzt handeln oder es lassen. Sie hält es nicht mehr aus.

Richard beginnt, Kliniken anzurufen.

"Nein, wir nehmen heute nur Notfälle an."

"Nein, wir sind nur in Notbesetzung, Spätabbrüche machen wir nicht."

Weiter versuchen.

"Hat Ihre Frau denn Blutungen? Ansonsten am Montag."

"Hören Sie, meine Frau hat gleich Blutungen, wenn sie vom Balkon springt."

Pause.

"Gut, kommen Sie morgen früh vorbei."

VIDEO: Vor der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch ist ein Ultraschall obligatorisch – für Lisa Erdinger eine extreme emotionale Belastung. (0:23 Min)

Samstag, 31. Mai 2008. Das körnige Schwarz-Weiß-Video zeigt Luca. Nichts deutet darauf hin, dass es ihm schlecht ginge. Lisa Erdinger blickt auf den Bildschirm, während die Oberärztin mit dem Ultraschallgerät ihren Bauch abtastet.

Was machen wir hier nur?

Luca strampelt, sein Herz schlägt. Jetzt macht er Purzelbäume, spielt mit der Nabelschnur. Es sind die letzten Aufnahmen von Luca. Lisa ist überfordert. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Der Druck ist zu groß.

Ausmachen! Schaltet das ab!

Der Bildschirm wird schwarz. Die Untersuchung sei Vorschrift, sagt die Oberärztin, es täte ihr leid. Die Medizinerin ist extra länger geblieben. Sie hat ihnen alles erklärt. "Wenn wir das Zäpfchen legen, gibt es kein Zurück mehr." Dann würden die Wehen beginnen, irgendwann in den kommenden Stunden. Sie müssen sich jetzt entscheiden. Leben oder Tod. "Sollen wir die Schwangerschaft beenden?" Lisa und Richard Erdinger blicken sich an, ist das der Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage, nichts tun zu können, nichts tun zu wollen? "Ja", sagt Richard.

Die Nachtschwester betritt das Einzelzimmer, in dem Lisa auf die Geburt wartet. Sie könne nicht verstehen, was Lisa Erdinger mache, sagt sie. Sie habe selbst ein behindertes Kind. "Ich kann mich nicht so um Sie kümmern, wie ich das sollte."

Wenigstens ist die Nachtschwester ehrlich. Aber was haben wir nur gemacht?

Es ist später Abend, als Mutter und Sohn ein letztes Mal allein sind. Richard ist nach Hause gefahren, um nach Lars zu sehen, Lisas Eltern kümmern sich um den Enkel. Lisa Erdinger legt ihre Hand auf ihren Bauch, links auf die Seite. Sie spürt Luca, wie er sich darunterschiebt. Ein Tritt. Und dann nichts mehr. Nie wieder.

Wir haben ihn getötet. Luca, nicht das Down-Kind, sondern unseren Sohn.
Lisa Erdinger

Sonntag, 1. Juni 2008. Gegen 5 Uhr morgens platzt die Fruchtblase. Die Nachtschwester ist da, sie ruft im Kreißsaal an. Der ist belegt. Warten mit schmerzhaften Wehen. Noch ein paar Stunden. Die letzte heftige Wehe fühlt Lisa Erdinger noch im Krankenzimmer. Im Kreißsaal greift die Hebamme um 8.30 Uhr zu. Luca ist auf der Welt. Stille.

Ist er tot?

VIDEO: Richard, der während des Abbruchs nicht bei seiner Frau sein konnte, über seine Gefühle damals: "Es ist das Allerschlimmste überhaupt. Und Du weißt – jetzt ist dein Sohn tot." (0:38 Min)

Ein Nicken. 240 Gramm Mensch, 22 Zentimeter, Füße kleiner als der Durchmesser eines Zweieurostücks. Finger zart wie Steichhölzer. Lisa Erdinger wird vom Kreißsaal in einen OP gebracht, Ausschabung. Der Anästhesist schaut sie an: "Mein herzliches Beileid." Worte, die sonst niemand mehr an Lisa Erdinger richten wird.

Während sie operiert wird, kehrt ihr Mann Richard mit Luca ins Krankenzimmer zurück. Er ist nun allein mit dem toten Körper seines Sohnes. Luca liegt in einem kleinen Korb, umwickelt mit einem seidenen Regenbogentuch. "Er sieht aus wie ich, Haare, Gesicht, Beine, Knie, die Hände." Richard Erdinger weint, bittet um Verzeihung, schreit seine Verzweiflung heraus, starrt aus dem Fenster und zurück in das winzige Gesicht. Als Lisa aus dem OP-Saal kommt, ist die Welt nicht mehr so, wie sie sie kannten.

Wir haben ihn getötet. Luca, nicht das Down-Kind, sondern unseren Sohn.

Sie würden Luca nicht einfach entsorgen lassen. Frühchen wie er werden von einigen Kliniken verbrannt wie entfernte Organe, Gewebe oder amputierte Gliedmaßen. Kinder, die zur Geburt weniger als 500 Gramm wiegen, gelten im Jahr 2008 nicht als Personen. Rechtlich haben diese sogenannten Sternenkinder nie existiert. Neugeborene, die das Licht der Welt nicht erblickt, sondern sie schon wieder verlassen haben. Erst im Mai 2013 ändert sich das.

Lisa Erdinger weiß, dass es falsch gewesen ist, Luca zu töten. Sie hat die Kontrolle verloren, was ist ihr nur passiert? Sie stürzt sich in die Vorbereitungen für die Beerdigung, sie trifft wieder Entscheidungen. Sie besorgt einen Sarg für ihren so winzigen toten Sohn, ein Körbchen, kaum größer als ein Brotkasten. Ein kleines Unternehmen in den Niederlanden hat ihn hergestellt.

Ein zu einem Herzen geschliffener Stein erinnert an Luca (den Nachnamen hat die Redaktion unkenntlich gemacht). © privat

Freitag, 13. Juni 2008. Luca wird neben den Großeltern von Lisa Erdinger beigesetzt. Sie hat die letzten Tage viel getan, um das zu ermöglichen. Die Gemeinde hat zugestimmt, ein Bestatter hat sich um den toten Fötus gekümmert. Die Großeltern sind zur Beerdigung gekommen, und Lisas Bruder. Richards Bruder hat abgesagt, er habe Luca ja nicht gekannt. Lisa und Richard haben ein paar Sätze aufgeschrieben, die sie bei der Beerdigung vorlesen.

"... Du hattest schon einen Namen und Raum zum Leben … Dein Kommen fordert, Abschied zu nehmen … Es ist, als nähme die Nacht kein Ende …"

Der Abschied von Luca ist auch ein Abschied von der Unbeschwertheit. Lisa Erdinger verändert sich, Schuld quält sie. Sie hat falsch entschieden, Richard hat falsch entschieden. Wieso hat er nicht mehr für Luca gekämpft? Hat sie es getan? Lisa wird vom Alltag geschluckt, sie zieht sich zurück, erledigt nur noch das Nötigste. Ihr erster Sohn Lars leidet darunter. Sie bringt ihn morgens zur Tagesmutter, holt ihn abends ab, sie hört auf, mit ihm zu spielen. Sein fröhlicher zweiter Geburtstag im September wird für sie zur Qual.

Wie soll ich mich für Lars freuen? Sein Bruder wird nie Geburtstag feiern, nie lachen dürfen.

Zwei Jahre lang läuft ihr Leben an ihr vorbei. Sie steht neben sich, alles scheint dumpf und ohne Sinn. Ihr Mann Richard versucht, die Familie zusammenzuhalten. Neben der Arbeit erledigt er den Haushalt, kümmert sich um Lars. Wenn Lisas Eltern anrufen, geht sie nicht mehr ans Telefon. Als ihr Vater sie einmal besucht, wirft sie ihn aus dem Haus, sie schreit. Wut und Verzweiflung. Eine Kur soll helfen, die Trauer zu verarbeiten, sie hilft nicht. Monatelang wartet Lisa auf eine Therapie. Sie bricht den Kontakt zu Freunden ab. Niemand scheint zu verstehen, was sie durchmacht.

VIDEO: Nachdem Lisa ihr Kind aufgrund einer Down-Syndrom-Diagnose abtreiben ließ, will niemand aus ihrem Umfeld darüber sprechen – die Beziehung zu Freunden und Familie ist dadurch bis heute belastet. (0:48 Min)

Niemand will von Luca hören. Sie sagen, ich soll wieder normal werden. Wo denn mein Problem sei? Ich habe es doch so gewollt! "Ihr könnt doch noch ein Kind bekommen". Es geht aber nicht um eine Tasse aus einem Teeservice, die kaputtgegangen ist und sich ersetzen lässt.

Die Erdingers versuchen, ein weiteres Kind zu bekommen. Drei künstliche Befruchtungen, als Pflegeeltern lassen sie sich registrieren, dann geben sie auf. Lisa kämpft sich schließlich selbst zurück. Eine Therapie bricht sie nach kurzer Zeit ab. Sie sagt, sie habe gelernt, die Trauer zuzulassen, sich aber nicht beherrschen zu lassen. 2010 fängt sie wieder an, zu arbeiten.

Die Schuldgefühle bleiben. Beide Eltern haben sich ein Tattoo stechen lassen: Sterne und Lucas Namen. Drei-, vielleicht viermal hat Lisa Erdinger das Grab ihres Sohnes in den sechs Jahren besucht. Eine Steinplatte, zu einem Herzen geschliffen.

Luca Erdinger

* 01.06.2008 ✝

Ich kann da nicht hin. Es geht nicht. Wenn ich da stehe, weiß ich, was ich getan habe. Das war endgültig. Da ist ein Riss in meinem Leben, der geklebt worden ist, aber nie heilen wird. Ich versuche, ihn anzunehmen. Aber verzeihen kann ich mir nicht.

Heute sagen Lisa und Richard, sie hätten zwei Söhne. Einer habe es nicht geschafft.

*Namen von der Redaktion geändert

Familie Erdinger: der erste Sohn Lars, Richard und Lisa © Janine Stengel

2 — Diese Tests können Schwangere machen

Eine Situation, wie sie die Erdingers erlebt haben, ist nicht die Regel. Die Familie musste ihre Entscheidung unter großem Zeitdruck fällen, die Trisomie 21 ihres Ungeborenen wurde in der Mitte der Schwangerschaft entdeckt. Späte Abbrüche sind selten.

Mit den neuen Bluttests, die das Down-Syndrom früher in der Schwangerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit entdecken, wächst der Entscheidungszeitraum. Außerdem sind sie für Mutter und Nachwuchs physisch harmlos, anders als die Fruchtwasseruntersuchung, die das Risiko einer Fehlgeburt birgt.

Alle diese Untersuchungen sind freiwillig. Niemand muss das Erbgut seines Nachwuchses vor der Geburt auslesen lassen. Aus medizinischer Sicht ist die Genanalyse nicht notwendig. Schon hier müssen die Eltern entscheiden.

Die folgende Grafik zeigt, wie der in Deutschland verfügbare PraenaTest und ähnliche Blutuntersuchungen ablaufen.



Diese Blutuntersuchung ist Teil der Pränataldiagnostik, die den Fötus auf Behinderungen untersucht.

Regulär messen Mediziner Herztöne, beobachten die Entwicklung des Ungeborenen und die Gesundheit der Mutter. So sollen Probleme rechtzeitig erkannt und Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt verringert werden.

Beata Kowalska* hat sich dagegen entschieden, ihr Ungeborenes mit allen Methoden der Medizin durchleuchten zu lassen. Standarduntersuchungen ergaben nichts Auffälliges, sie ließ keine zusätzlichen vorgeburtlichen Tests machen. Heute ist sie froh darüber.

3 — Benjamin hat das Down-Syndrom

von Alina Schadwinkel

"Ärzte können grausam sein", sagt Beata Kowalska, wenn sie sich an die Tage nach der Geburt ihres Sohnes Benjamin erinnert. Ein Wunschkind. Der Junge war gerade auf der Welt, da sagten die Mediziner: Er hat das Down-Syndrom. "Ich dachte nur: Was fehlt ihm denn? Er hat Füße, er hat Hände." Ihr Mann sah es ähnlich. "Lass Dich nicht verrückt machen", sagte er, "der Junge sieht gesund aus. Und er ist süß!"

Ein Bluttest bestätigte die Diagnose. In Zukunft werde einiges auf sie zukommen, bekamen die Eltern zu hören. Der Junge wachse wahrscheinlich langsam, sein Herz könne geschädigt sein, geistig würde er sich nicht so entwickeln wie andere Kinder. Er müsse womöglich ein Leben lang betreut werden. Kowalska aber war glücklich über die Geburt ihres Sohnes. "Ich habe gar nicht richtig gehört, was sie gesagt haben."

VIDEO: Kurz erklärt – wie kommt es zum Down-Syndrom? Die Entstehung von Trisomie 21 im Überblick. (2:23 Min.)

Heute ist Benjamin fünf, spielt Fußball, tanzt, singt und geht in die Kita, eine Inklusionskita. Kowalska hatte in den vergangenen Jahren nie das Gefühl, dass ihr Sohn behindert ist. "Er schreit, macht in die Hosen, wie andere Kinder auch", sagt sie. Manchmal werde sie gefragt, ob sie noch ein "richtiges" Kind wolle. "Das verstehe ich nicht." Kowalska hat ihr Leben auf Benjamin ausgerichtet, ohne Fragen zu stellen.

Ein Tag im Leben der Kowalskas

Manchmal werde ich gefragt, ob ich noch ein 'richtiges' Kind wolle. Das verstehe ich nicht.
Beata Kowalska

6.00 Uhr. Aufstehen. Während ihr Sohn schläft, duscht Kowalska, zieht sich an, macht Frühstück. Irgendwann wacht Benjamin auf, kommt barfuß in die Küche, will Kakao. Und Musik hören.

"Er ist morgens sofort gut drauf, will loslegen", sagt die Mutter. Manchmal besteht Benjamin darauf, gefüttert zu werden, obwohl er selbst mit Gabel und Messer essen kann. Kinder merken eben, wenn man sich drauf einlässt, sagt Kowalska und lacht. Während sie abräumt und die Sachen ihres Sohnes zusammensucht, lässt Benjamin Autos über den Spielteppich rasen. Kowalska legt ihm jeden Tag ein anderes Spielzeug heraus, damit er sich freut. "Er kann sich dann auf eine Sache konzentrieren", erklärt sie.

7.30 Uhr. Anziehen. Benjamins Mutter wurstelt seinen Kopf durch den Pulliausschnitt und stülpt die Ärmel über. Der Junge windet sich, alleine findet seine Hand nicht hinaus, er quengelt, will weiterspielen.

Dann zieht Kowalska ihrem Sohn eine neue Windel an. Ist es ein Problem, wenn ein Fünfjähriger nicht allein auf die Toilette gehen kann? "Ach was, wieso?" Sie hatten es schon ohne Windel probiert, es klappte nicht. Weil Benjamin traurig wird, wenn etwas schiefgeht, wird weiter gewickelt.

Die beiden müssen pünktlich los. Freitags sind Ergotherapie und Logopädie dran, morgens, wenn die Konzentration am größten ist.

8.30 Uhr. Benjamin hat keine Lust, die Wohnung zu verlassen. Im Sommer lockt seine Mutter ihn mit dem Laufrad, dafür ist es heute zu kalt. Kowalska setzt den Jungen in den Kinderwagen und erzählt ihm, dass er gleich Patrick trifft. Benjamin ist glücklich. Auf einmal kann es nicht schnell genug zur Kita gehen.

Patrick ist Benjamins Ergotherapeut, die wöchentliche Stunde mit ihm gehört zum Kita-Programm. Benjamin mag Patrick. Er trainiert mit ihm Alltagsdinge: Anziehen, Basteln, Spielen. Der Therapeut achtet darauf, dass sich der Fünfjährige bei allem konzentriert.

"Das klappt besser, wenn ich nicht dabei bin", sagt seine Mutter. Während ihr Sohn in der Kita ist, macht sie den Haushalt und versorgt ihren pflegebedürftigen Vater. "Was man halt so macht." Ihr Mann ist selten da, er ist beruflich unterwegs.

Kitakind Benjamin © Fabian Mohr

Benjamin stapelt unter therapeutischer Beobachtung Bauklötze und versucht, Legosteine zusammenzustecken. Feinmotorik ist nicht seine Stärke.

10.30 Uhr. Sprachtraining. Strahlend rennt Benjamin auf die Logopädin zu und umarmt sie. Er fühlt sich wohl in ihrer Gegenwart, will von ihr lernen.

Seit einem halben Jahr übt die Logopädin in der Kita mit Benjamin. Sein Wortschatz erweitert sich, aber langsam. "Hin und wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: Da kommt gar nichts Neues", sagt Benjamins Mutter. Dann versuche sie, geduldiger zu sein, ihr Sohn strenge sich schließlich an. Und tanzen kann er toll. Eigentlich überrasche ihr Sohn sie jeden Tag, positiv.

Kowalska schätzt die Betreuung außer Haus, die Krankenkasse bezahlt die Förderung. Vor drei Jahren ist die Familie in die Nähe der Kita gezogen, in eine Wohnung mit kleinem Garten, der an einen Spielplatz grenzt. Benjamin soll immer raus können, Freunde treffen, ohne dass die Mutter ständig gucken muss.

13.30 Uhr. Mittagessen in der Kita. Benjamin möchte nicht. Nach gutem Zureden setzt er sich an den Tisch, bleibt aber so kurz wie möglich. Mit Brotkrümeln im Gesicht rennt er wieder hinaus, spielen mit den anderen.

Dass manche Freunde langsamer sind oder nur einzelne Wörter sagen können – die Kinder finden es normal. Ist Benjamin krank? Benjamin hat das Down-Syndrom. Mehr nicht.

15.00 Uhr. Abholen. Mit Rotznase und dreckiger Regenhose wirft sich Benjamin seiner Mutter an den Hals. Dann zieht er sie an der Hand Richtung Ausgang: "Komm, Mama!"

Zwei Wörter, die in sinnvollem Zusammenhang stehen. Ein Moment, der Kowalska stolz macht. So ist es immer, wenn ihrem Sohn etwas gelingt; vor allem, wenn es etwas ist, was Ärzte als "eventuell nie möglich" bezeichnet hatten. Vielleicht waren sie bei zu vielen Untersuchungen, bei zu vielen Ärzten. Benjamin hat inzwischen Angst vor ihnen. Neulich beim Zahnarzt ging es nur unter Narkose.

Benjamin tobt am liebsten auf dem Kita-Spielplatz. © Alina Schadwinkel

16.00 Uhr. Zu Hause. Benjamin rennt in die Küche, greift sich die Zutaten für Nudeln mit Pesto und streckt sie seiner Mutter entgegen: "Essen!"

Seit Wochen will Benjamin nur dieses eine Gericht. Was ihm daran so gut schmeckt, kann er nicht sagen. "Aber ist das wichtig?", fragt die Mutter. Er habe einen Dickkopf, eine starke Persönlichkeit. Aber er sei auch höflich: Immer sage er tschüss, wenn er einen Raum verlässt. Das bringt seine Mutter zum Lachen.

17.00 Uhr. Es klingelt. Benjamins bester Freund Elian* ist da. Benjamin zieht ihn wortlos hinein.

Ihr Sohn spiele lieber mit älteren Kindern, sagt Kowalska, vielleicht weil sie ihm viel zeigen können. Er ist kleiner als Gleichaltrige, seine Muskeln sind schwächer. Aber er hat keinen Herzfehler, wie es bei Kindern mit Trisomie 21 häufig vorkommt. "So muss ich keine Angst haben, wenn er rennt und tobt."

19.00 Uhr. Zeit fürs Bett. Benjamin würde am liebsten die ganze Nacht spielen. Elian ist noch da und hilft beim Baden und Zähneputzen.

"Auf ihn hört er, da macht er alles mit", sagt Kowalska. Wenn sie den besten Kumpel zum Nachhausegehen bewegt hat, liest sie ihrem Sohn vor – mal ein Klappbuch für Dreijährige, mal ein Märchen für Kinder ab acht. Immer wieder will er auch ein bestimmtes Kochbuch angucken. "Opa", sagt Benjamin dann und zeigt auf den Mann mit Hut auf dem Buchdeckel. "Das ist Alfred Biolek", erklärt die Mutter. "Opa!", ruft Benjamin überzeugt und wirft sich in die Kissen.

20.30 Uhr. Benjamin schläft. Zum ersten Mal hat seine Mutter Zeit für sich.

Hat sie sich ihr Leben anders vorgestellt? Würde sie gern wieder arbeiten wie früher? Nein, sagt Kowalska. Sie habe es so geplant, als Mutter nur halbtags zu arbeiten. "Ich will mein Kind doch sehen und an seinem Leben teilhaben."

*Name von der Redaktion geändert

4 — Wer darf leben?

Die Pränataldiagnostik kann für werdende Eltern Chance oder Belastung sein. Sie eröffnet eine Möglichkeit abzuwägen, wie viel Verantwortung sie sich zutrauen. Oder sie überfordert Eltern.

Wie viele Schwangere sich derzeit gegen ihr Kind entscheiden, wenn sie vor der Geburt die Down-Syndrom-Diagnose bekommen, ist statistisch nicht zuverlässig erfasst. Zwar gibt es Zahlen zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland, aber Gründe werden nicht erhoben. Ebenso wenig ist bekannt, wie viele Menschen mit Down-Syndrom hierzulande leben.



Sicher ist, dass Menschen mit Down-Syndrom heute bessere Chancen auf ein langes und erfülltes Leben haben als früher. In Deutschland gibt es vielfältige Fördermöglichkeiten und Hilfsangebote. Gute medizinische Versorgung und die Möglichkeit, Organschäden wie Herzfehler früh zu behandeln, haben die Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom in den vergangenen 50 Jahren mehr als vervierfacht.

Wenn der Erbgut-Check im Mutterleib zur Routine wird: Was folgt daraus?

Werden Menschen mit Down-Syndrom künftig stärker gesellschaftlich ausgegrenzt, weil andere aufgrund der modernen Diagnosemöglichkeiten sagen: Muss das denn heute noch sein? Wird es weniger Menschen mit solchen Besonderheiten in den Genen geben?

Debatte

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Mitwirkende: 

Autoren: Dagny Lüdemann, Alina Schadwinkel, Sven Stockrahm

Redaktionelle Koordination: Dagny Lüdemann, Fabian Mohr

Infografik: Lisa Charlotte Rost, Ela Strickert, Alina Schadwinkel, Paul Blickle

Video: Fabian Mohr, Janine Stengel

Fotografien: Janine Stengel

Redigatur: Meike Dülffer

Übersetzung: Anne Leichtfuß, Dolmetscherin für Leichte Sprache

Korrektur: Cäcilia Hille

Wissenschaftliche Beratung:

Dr. Anja Fünfstück, niedergelassene Frauenärztin in Berlin

Prof. Wolfram Henn, Humangenetiker an der Universität des Saarlandes und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer

Dr. Wera Hofmann, Biochemikerin und medizinisch-wissenschaftliche Leitung bei LifeCodexx

Dr. Thomas Mandel, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in Berlin-Neukölln

Prof. Urban Wiesing, Medizinethiker an der Universität Tübingen

Dieses Projekt wurde im Rahmen der Masterclass "Zukunft des Wissenschaftsjournalismus" der Robert-Bosch-Stiftung und des Reporter-Forums gefördert.

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