Der kreuztragende Jesus und seine Mutter: Zweiter Fall Jesu unter dem Kreuz

Anna Katharina Emmerich // Die von Schmerz ganz zerrissene Mutter Jesu hatte vor etwa einer Stunde, da das ungerechte Urteil über ihr Kind gesprochen war, das Forum mit Johannes und einigen Frauen verlassen. Sie hatten viele heilige Stellen seines Leidens wieder betreten, und als das Laufen des Volkes, das Blasen der Posaunen und der Zug des Pilatus und der Soldaten den Antritt des bitteren Kreuzwegs verkündeten, konnte Maria nicht mehr ausharren, sie mußte ihren göttlichen Sohn in seinem Leiden sehen und bat Johannes, sie an eine Stelle zu bringen, wo Jesus vorüberkomme.

Sie waren von der Gegend von Sion hergekommen. Sie gingen an einer Seite über die Gerichtsstelle, die Jesus verlassen hatte, dann durch Tore und Alleen, wo es sonst nicht offen war, aber jetzt, da alles Volk hin und herströmte. Dann kamen sie durch die abendliche Seite eines Palastes, der sich mit einem Tor nach der breiten Straße öffnet, in welche der Zug bei dem ersten Fall Jesu sich hineinwendete. Ich weiß nicht mehr ganz bestimmt, ist es ein Flügel von den Wohnungen des Pilatus, mit dessen Gebäuden es durch Höfe und Alleen zusammenzuhängen scheint, oder ist es, wie es mir heute erinnerlich ist, das eigentliche Wohnhaus des Hohenpriesters Kaiphas, denn das auf Sion ist nur das Amtshaus. — Johannes erwirkte von einem mitleidigen Diener oder Pförtner die Erlaubnis, mit Maria und ihrer Begleitung hindurch nach der anderen Seitegehen zu dürfen, und er öffnete ihnen das jenseitige Tor. — Es war einer der Neffen Josephs von Arimathia bei ihnen, und Susanna, Johanna Chusa und Salome von Jerusalem folgten der heiligen Jungfrau.

Als ich die arme Mutter Gottes, bleich, mit rotgeweinten Augen, zitternd und bebend, von oben bis unten in eine bläulich graue Hülle eingewunden, mit den anderen durch dieses Haus hineingehen sah, war es mir ganz zerreißend und schauerlich zumute. Man hörte das Getöse und Geschrei des nahenden Zuges über die Häuser hinweg und den Schall der Posaune und das Ausrufen an den Ecken, daß einer zur Kreuzigung geführt werde. — Der Diener öffnete das Tor, da ward das Getöse deutlicher und schrecklicher. Maria betete und sagte zu Johannes: «Soll ich es sehen, soll ich hinwegeilen? O wie werde ich es ertragen können!» Johannes sagte: «So du nicht bliebest, würde es dich nachher immer bitter schmerzen.» — Da traten sie hinaus unter das Tor, und sie blieb und schaute rechts den Weg hinab, der hier etwas aufstieg und bei dem Standort Marias wieder eben ward.

Ach, wie schnitt der Ton der Posaune durch ihr Herz! Der Zug nahte heran, er war etwa noch achtzig Schritte entfernt, als sie hinaustraten. Es zog hier kein Volk voraus, aber an den Seiten und hinterher einige Scharen. Vieles Gesindel, das den Gerichtsort zuletzt verlassen hatte, lief durch Nebenstraßen zerstreut voraus, andere Stellen zum Zuschauen einzunehmen.

Als die Haufen der Henkersdiener mit allem Martergeräte frech triumphierend nahten, zitterte und jammerte die Mutter Jesu und rang die Hände, und einer der Buben fragte nebenherziehendes Volk: «Was ist das für ein Weib, das so kläglich tut?» Da antwortete einer: «Es ist die Mutter des Galiläers!» Als die Schurken dies hörten, höhnten sie die jammernde Mutter mit Spottreden, zeigten mit Fingern auf sie, und einer der niedrigen Buben faßte die Kreuzesnägel in die Faust und hielt sie höhnend der heiligen Jungfrau vor das Angesicht. Sie aber sah händeringend nach Jesus hin und lehnte sich, vom Schmerz zermalmt, gegen den Pfeiler des Tores. Sie war bleich wie eine Leiche, und ihre Lippen waren blau. Die Pharisäer ritten vorüber, da kam der Knabe mit der Inschrift, und ach! ein paar Schritte hinter ihm, Gottes Sohn, ihr Sohn, der Heilige, der Erlöser, — da ging schwankend und gebückt ihr lieber Sohn Jesus, das Haupt mit der Dornenkrone schmerzlich von der schweren Kreuzeslast auf seine Schulter abwendend. Die Schergen rissen ihn an den Stricken vorwärts. Sein Angesicht war bleich und blutig und zerschlagen, sein Bart von Blut spitz zusammenklebend. Er blickte mit seinen blutigen tiefliegenden Augen so ernst und mitleidig unter dem schrecklichen verwirrten Dorngeflecht seiner Krone hervor gegen seine peinvolle Mutter und sank strauchelnd zum zweiten Mal unter der Last des Kreuzes auf die Knie und Hände nieder zur Erde. — Die Mutter in der Heftigkeit ihres Schmerzes und ihrer Liebe sah keine Soldaten, keine Henker, sie sah nur ihren geliebten, elenden, mißhandelten Sohn; händeringend stürzte sie die paar Schritte vom Tor des Hauses zwischen die auftreibenden Schergen zu Jesus hin und sank, ihn umarmend, zu ihm in die Knie. Ich hörte, ich weiß nicht, ob mit ihren Lippen gesprochen oder in ihrem Geiste, die Worte: «Mein Sohn!» —«Meine Mutter!»

Aber es ward ein Getümmel, Johannes und die Frauen wollten Maria zurückziehen, die Schergen schimpften und höhnten, einer sagte: «Weib! was willst du hier? Hättest du ihn besser erzogen, so wäre er nicht in unseren Händen.» In mehreren Soldaten fühlte ich einige Rührung. Sie trieben aber die heilige Jungfrau zurück, kein Scherge berührte sie. Johannes und die Frauen führten sie, und sie sank an einem Eckstein des Tores, welcher die Mauer stützte, vor Schmerz wie tot in die Knie. Sie drehte dem Zug den Rücken zu, und ihre Hände berührten den schräg auflaufenden Stein, gegen den sie hinsank, mehr oben als unten. Es war ein grüngeaderter Stein; wo ihre Knie ihn berührt, blieben flache Gruben, wo ihre Hände angelehnt, flachere Male. Es waren stumpfe Eindrücke gleich jenen, die ein Schlag auf einen Teig verursacht. Es war ein sehr harter Stein. Ich sah, daß er unter dem Bischof Jakobus dem Jüngeren in die erste katholische Kirche, die Kirche am Teich Bethesda, gekommen ist. — Ich habe es schon gesagt und sage es nochmals, daß ich solche Eindrücke in Stein wie hier mehrmals bei großen ernsten Ereignissen durch heilige Berührung entstehen gesehen habe. Es ist dies so wahr wie das Wort: «Ein Stein muß sich darüber erbarmen», so wahr wie das Wort: «Dieses macht Eindruck!» Die ewige Weisheit hat in ihrer Barmherzigkeit nie der Buchdruckerkunst bedurft, um der Nachwelt ein Zeugnis von Heiligen zu überliefern.

Die beiden Junger aber brachten die Mutter Jesu, da die zur Seite des Zuges mit Lanzen gehenden Soldaten vorwärtstrieben, wieder in das Tor hinein, welches dann geschlossen wurde.

Unsern Herrn hatten die Schergen unterdessen wieder aufgerissen und das Kreuz auf eine andere Art auf seine Schulter gelegt. Die oben aufgebundenen Kreuzarme waren locker geworden und einer derselben neben dem Kreuz in den Strickschlingen heruntergesunken; diesen umfaßte jetzt Jesus mit dem Arm, und so hing nun der Kreuzstamm hinten etwas mehr zur Erde.
Ich sah hie und da zwischen dem Gesindel, das den Zug mit Hohn begleitete, weinende verschleierte Frauengestalten wanken.

kath-zdw.ch
Eugenia-Sarto
Eugenia-Sarto
Kein Mensch kann sich die Schmerzen der heiligen Jungfrau vorstellen. Sie besaß trotz aller Not die Kraft, nicht in Ohnmacht zu fallen.
Möge sie uns eine gnadenreiche Todesstunde erbitten, in der wir einen kleinen Teil ihrer Schmerzen in großer Gottesliebe mittragen dürfen.
Maria coredemptrix teilt das
46