Wie griechische Impfgegner zu betrügen versuchten – und dabei selbst übers Ohr gehauen wurden

Macht sich ein Arzt schuldig, wenn er auf betrügerische Weise einen Betrug vereitelt? Ein Fall aus Griechenland liefert schönste Anschauung für ein moralisches Dilemma, wie der Philosoph Slavoj Žižek findet.

Slavoj Žižek
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In Thessaloniki protestieren im September 2021 Impfskeptiker vor dem Standbild Alexander des Grossen.

In Thessaloniki protestieren im September 2021 Impfskeptiker vor dem Standbild Alexander des Grossen.

Alexandros Avramidis / Reuters

Vor ein paar Wochen berichteten die griechischen Medien über die Aufdeckung eines Betrugs, in den über 100 000 Impfgegner sowie 200 bis 300 Ärzte und Pfleger involviert waren. Impfgegner liessen sich dabei für 400 Euro anstelle einer Vakzine eine Kochsalzlösung spritzen. Die Ärzte hingegen übertölpelten ihre Kunden und injizierten ihnen heimlich ein wirksames Impfmittel. Gleichwohl nahmen sie das Bestechungsgeld entgegen und handelten damit sowohl moralisch korrekt wie zugleich korrupt.

Eine geradezu grotesk komische Wendung wiederum nahm der Betrug für die Impfgegner. Sie meinten, das System ausgetrickst zu haben, litten nun aber teilweise trotzdem unter den bekannten Nebenwirkungen der Impfung. Nur wussten sie sich und anderen nicht zu erklären, wie es dazu hatte kommen können, da sie im Glauben waren, ein völlig harmloses Mittel gespritzt erhalten zu haben.

Auch wenn ich die am Betrug beteiligten Ärzte verurteile, so kann ich doch nicht zu hart mit ihnen ins Gericht gehen. Als sie den Impfgegnern ein Zertifikat aushändigten, schummelten sie nicht, denn die betreffende Person war tatsächlich und korrekt geimpft worden. Betrogen wurden nur jene, die zu schummeln beabsichtigt hatten, indem sie sich den Vorteil der Geimpften erschleichen wollten, ohne geimpft zu werden. Sie wurden von der Wahrheit selbst hinters Licht geführt. Sie ahnten nicht, dass sie tatsächlich waren, was sie bloss zu sein vorgaben.

Wem gehört der Körper?

Besteht ein Problem darin, dass die Ärzte nicht nur logen, indem sie den Patienten versprachen, sie würden nur zum Schein geimpft, sondern auch noch die Bestechung kassierten? Man könnte auch argumentieren, dass die Patienten hätten argwöhnisch werden können, wenn die Ärzte auf das Geld verzichtet hätten.

Die einzige vernünftige ethische Überlegung besteht darin, dass die Patienten gegen ihren Willen geimpft worden sind. Das wiederum halte ich unter den Umständen für ein geringes Vergehen, da doch eine Täuschungsabsicht vorlag. Ohne geimpft zu sein, wollten sich die Patienten eine behördliche Impfbescheinigung erschleichen. Darum brachten sie nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen in Gefahr.

Viele Impfgegner betrachten die Impfpflicht nicht nur als einen Angriff auf die persönliche Freiheit, sondern auch als eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit – vergleichbar mit einer Vergewaltigung. Sie wähnen sich vergewaltigt von den Gesundheitsbehörden. Aber gehört denn unser Körper je wirklich nur uns selbst?

Kürzlich wurde der Fall einer sehr alten Frau in Slowenien publik, die im Krankenhaus lag und künstlich ernährt werden musste. Mehrere Infusionen hielten sie am Leben. Als man sie fragte, ob sie geimpft werden möchte, lehnte sie vehement ab, da sie ja nicht wisse, woraus der Impfstoff bestehe. Sie wolle auf keinen Fall fremde Substanzen in ihrem Körper haben. Entspricht das nicht auch unserer Situation? Gleichgültig, ob wir geimpft werden, längst werden wir kontrolliert und manipuliert auf Wegen, die uns nicht bewusst sind.

Die griechische Anekdote jedoch interessiert uns darum so sehr, weil sie, ob sie stimmt oder nicht, als ein «Exemplum» in Pierre Bayards Sinn fungiert. Es zeigt uns in reinster Form, die wir in der Wirklichkeit selten antreffen, auf welche Weise wir kontrolliert und manipuliert werden. Während wir noch glauben, wir betrügen die Behörden, ist unser Betrug bereits mitberücksichtigt im Zirkel der behördlichen Selbstreproduktion.

Wir verhalten uns darum noch einfältiger als ein Lamm vor dem Metzger: Wir sind Lämmer, die eifrig für die eigene Schlachtung bezahlen. Oder, wie Jacques Lacan es formulierte: «Les non-dupes errent.» Es irren am meisten jene, die nicht hereingelegt werden. So stimmten etwa die weissen Unterschichtwähler, die vom liberalen Establishment nicht getäuscht worden waren, am Ende für Trump.

Das Glück der Naivität

Man muss auch einmal darauf hinweisen, dass die Logik der Lämmer vor dem Metzger für beide Seiten des gegenwärtigen Konflikts gilt. In den Augen der Corona-Skeptiker sind jene die Lämmer, die sich in der Warteschlange für die Impfung anstellen oder sogar, als der Impfstoff noch rar war, Ärzte bestachen, um geimpft zu werden. Die Mehrheit hingegen hält die Corona-Leugner für Lämmer, da sie eine Gefahr für sich und andere darstellen mit ihrer Weigerung, die Schutzmassnahmen einzuhalten.

Es heisst nun oft, Proteste von Impfgegnern seien nicht allein Ausdruck einer antiwissenschaftlichen Irrationalität. Vielmehr verdichte sich darin eine Reihe anderer Missstände (zunehmende Kontrolle über unser Leben, die Macht der Pharma- und anderer Industrien). Darum, so heisst es weiter, müssten wir mit ihnen in einen Dialog treten und sie nicht bloss mit Verachtung strafen. Mein Problem damit: In exakt gleicher Weise könnte man auch über den Antisemitismus oder selbst über Gewalt gegen Frauen reden.

Die eigentliche Macht der Ideologie jedoch liegt darin: Sie verführt uns nicht nur dazu, Macht zu tolerieren oder uns ihr gar willentlich zu unterwerfen. Sie betrügt uns, gerade indem sie uns davor warnt, betrogen zu werden. Sie zählt nicht auf unser Vertrauen (in die öffentliche Ordnung und ihre Werte), aber auf unser Misstrauen. Insgeheim lautet ihre Botschaft: «Trau jenen nicht, die an der Macht sind, du wirst manipuliert. Nur so kannst du verhindern, hereingelegt zu werden.» Manchmal jedoch ist Naivität die beste Waffe gegen die Täuschung.

Slavoj Žižek ist ein slowenischer Philosoph und lebt in Ljubljana. Er ist an verschiedenen Universitäten tätig, u. a. in Ljubljana, London und New York. – Übersetzung aus dem Englischen von rbl.

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