M.RAPHAEL
1601

Auch Wittgenstein muss sich auf etwas verlassen

Der Mensch will nicht lieben. Er will kontrollieren. Er will nicht der Wahrheit die Ehre geben, sondern will, dass man sich ihm unterwirft. Dafür muss er alles beherrschen. Die Weltanschauung der Moderne basiert auf diesem Willen zur Macht. Das ist sehr wichtig.

Alle sensiblen und offenen Denker haben es deshalb schwer. Der Wille zur Macht verdunkelt den Ratschluss Gottes, Seine Wahrheit. So erhält die Frage nach der Bezugnahme auf diese eine zentrale Bedeutung. Hilary Putnam, ehemals ein „eiskalter“ analytischer Philosoph jetzt in Rückkehr zu seinen jüdischen Wurzeln, nimmt Rückgriff auf Vorlesungen Wittgensteins über den religiösen Glauben, um diesem Anspruch zumindest ansatzweise gerecht zu werden:

„Sie (Lehre aus den Kämpfen der Philosophie) besagt, dass die üblichen Methoden des Philosophen – das sorgfältige Argumentieren und Unterscheiden – mehr leisten, wenn es um den Nachweis der Unrichtigkeit eines philosophischen Standpunkts geht, als wenn es darauf ankommt, die Richtigkeit einer bestimmten philosophischen Position zu begründen.“ Hilary Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, 172.

Hilary Putnam ist ein Vertreter der akademischen Weltphilosophie der Moderne. Es ist nicht unwichtig, was er schreibt. Selbst er erkennt, dass ein positiver Weltbezug nur unter Kriterien der Liebe (Verlässlichkeit, Vertrauen, usw.) möglich ist. Das ist nicht trivial.

Die Armee lehrt, dass nur die Liebesbeziehung mit Gott selbst den Menschen die Wahrheit erkennen lässt. Sonst glaubt er den schleimigen Lügen des Feindes. Er kann nicht anders. Das hat der Hl. Bernhard von Clairvaux immer gewusst. Abälard hatte Unrecht. Die analytische Philosophie hat bewiesen, dass die Zisterzienser immer schon recht hatten. Hust, hust, aber ich bin demütig. Auch die natürliche Vernunft, die Gott erkennen kann, setzt voraus, dass der Mensch nicht mehr sich, sondern der Wahrheit die Ehre geben will.

Im folgenden Zitat behandelt Putnam die Möglichkeit, dass Wittgenstein relativistisch interpretiert werden kann, weil dieser die verschiedenen Sprachspiele für inkommensurabel hält. Putnam hält Wittgenstein nicht für relativistisch, weil er an etwas Prinzipielles glaubt, auf das wir uns verlassen können/müssen. Positionen wie Relativismus und Skeptizismus sind die Folge der Herrschsucht des Menschen oder die „Unfähigkeit, die Welt und andere Menschen zu akzeptieren.“ Wie immer, es geht eben nicht ohne Gott.

„Diese Situation können wir vermutlich besser verstehen, wenn wir den Relativismus nicht als Heilmittel oder als Linderung der Krankheit des „Fehlens einer metaphysischen Grundlegung“ betrachten, sondern den Relativismus und den Wunsch nach metaphysischer Grundlegung als Äußerungen ein und derselben Krankheit sehen. Was man dem Relativisten erwidern sollte, ist dies: dass manche Dinge wahr, manche Dinge gerechtfertigt und manche Dinge vernünftig sind, aber das können wir natürlich nur sagen, wenn wir über eine geeignete Sprache verfügen. Über diese Sprache verfügen wir tatsächlich, wir können es sagen und wir sagen es tatsächlich, obwohl die Sprache ihrerseits nicht auf einer metaphysischen Garantie wie der Vernunft beruht.

Worauf beruht sie wirklich? Wittgensteins Antwort ist von bestürzender Schlichtheit: Man muss sich auf etwas verlassen.

508. Worauf kann ich mich verlassen?
509. Ich will eigentlich sagen, dass ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verlässt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen kann“.)

Unser Sprachspiel beruht weder auf Beweisen noch auf der Vernunft, sondern darauf, dass man sich auf etwas verlässt. Damit finden wir uns nicht ohne weiteres ab. Wie schwer es uns fällt, uns damit abzufinden, und wie wir uns auf der Suche nach einer transzendentalen Garantie oder einem skeptischen Ausweg drehen und wenden, ist ein Thema, dem Stanley Cavell seit The Claim of Reason in einer ganzen Reihe von eindringlichen Büchern nachgegangen ist. Nach Cavells Anschauung befasst sich Wittgenstein durchweg mit der Thematik des Skeptizismus, wobei Skeptizismus allerdings in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen ist. In Cavells umfassendem Sinn ist der Skeptiker womöglich überhaupt kein Skeptiker im üblichen Sinne. Anstatt an allem zu zweifeln oder alles zu relativieren, beansprucht er vielleicht, eine großartige metaphysische Lösung aller unserer Probleme zu kennen. Doch nach Cavell sind der Anspruch auf eine großartige metaphysische Lösung all unserer Probleme sowie der relativistische oder der nihilistische Ausweg allesamt Symptome der gleichen Krankheit. Die Krankheit selbst ist die Unfähigkeit, die Welt und andere Menschen zu akzeptieren oder, wie Cavell sagt, die Welt und andere Menschen anzuerkennen, ohne die Garantien in Anspruch zu nehmen. Es gibt etwas in uns, was sich nach mehr sehnt, als wir möglicherweise haben können, und was sich sogar der Gewissheit entzieht, über die wir tatsächlich verfügen.

Nun sind Relativismus und Skeptizismus keineswegs unwiderlegbar. Sobald Relativismus und Skeptizismus als eigene Standpunkte formuliert werden, lassen sie sich nur allzu leicht widerlegen. Aber sie sterben nie aus. denn die Einstellung der Entfremdung von der Welt und von der Gemeinschaft ist nicht bloß Theorie und lässt sich nicht durch rein intellektuelle Argumente überwinden. Im Grunde ist es nicht einmal ganz richtig, sie als Krankheit zu bezeichnen. Denn der Wunsch nach Befreiung vom Skeptizismus ist, wie Cavell darlegt, zugleich eine Form des Wunsches, sich der eigenen Menschlichkeit zu entledigen. Entfremdung gehört mit zur Conditio humana, und das Problem besteht darin, dass man lernen muss, mit der Entfremdung ebenso wie mit der Anerkennung zu leben.

Mit dem Denken Ludwig Wittgensteins habe ich mich deshalb so ausführlich auseinandergesetzt, weil ich meine, dass er ein Beispiel dafür gibt, wie es dem philosophischen Denken gelingen kann, mehr zu bewirken als neue Stürme im alten Wasserglas oder mehr ausfindig zu machen als neue Wassergläser für weitere Stürme. Bestenfalls kann uns die philosophische Reflexion einen unvermutet ehrlichen und deutlichen Ausblick auf die eigene Situation verschaffen, also nicht einen „Blick von nirgendwo“, sondern einen Blick durch die Augen dieses oder jenes klugen, schadhaften, durch und durch individuellen Menschen. Wenn Wittgenstein unsere philosophischen Eitelkeiten auf dem Scheiterhaufen verbrennen will, handelt es sich nicht bloß um rein intellektuellen Sadismus. Sofern meine Wittgenstein Deutung zutrifft, hindern uns gerade diese Eitelkeiten, wie er meint, daran, uns auf etwas zu verlassen, und außerdem sind sie – was vielleicht noch wichtiger ist – dem Mitgefühl hinderlich.“ Hilary Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, 224 – 226.
Klaus Elmar Müller
Mit "ich zweifle, also bin ich", widerlegt Augustinus die Zweifler. Für Thomas von Aquin ist Erkenntnis die Anpassung des Verstandes an eine Sache. Sprachoptimistisch ist der Syllabus Pius´ X., nach dem ein formuliertes Dogma noch nach Jahrhunderten in der gemeinten Weise gelesen und verstanden werden kann. Erkenntnis- und sprachoptimistisch sind die Altphilologen. Meine echte Frage an geschätzten …Mehr
Mit "ich zweifle, also bin ich", widerlegt Augustinus die Zweifler. Für Thomas von Aquin ist Erkenntnis die Anpassung des Verstandes an eine Sache. Sprachoptimistisch ist der Syllabus Pius´ X., nach dem ein formuliertes Dogma noch nach Jahrhunderten in der gemeinten Weise gelesen und verstanden werden kann. Erkenntnis- und sprachoptimistisch sind die Altphilologen. Meine echte Frage an geschätzten @M.RAPHAEL, dessen kenntnisreicher Artikel mich beeindruckt: 1. Steht Wittgenstein nicht in der Linie von antikem Skeptizismus, Wilhelm von Ockham, I. Kant und J. G. Fichte? 2. Gehört Wittgenstein nicht zu den Trauergestalten, die aus ihrer Depression eine Philosophie für alle zusammenknobeln?