Melchiades
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Die heilige Vorfastenzeit; Übungen während der Vorfastenzeit Teil II

Das Mysterium eines Gottes,
der um der Menschen willen Fleisch annimmt,
hat uns die Pfade des erleuchtenden Lebens erschlossen ;
aber unsere Augen sollen ein noch lebendigeres Licht schauen.
Möge darüber unser Herz nicht in Verwirrung geraten.
Am Tage des Sieges des Emmanuel sind die göttlichen Wunder von Bethelhem weit überholt;
aber wenn unser Auge diese Wunder schauen will ,
dann muß es sich reinigen ;
es muß vorher seine Scheu überwinden
und einen festen Blick in den tiefen Abgrund unseres Elendes tun.
Gott wird uns seine Leuchte nicht versagen,
wenn wir das Werk gerechter Buße erfüllen ;
und wenn wir dann zur Selbsterkenntnis gelangen,
wenn wir die tiefe unseres Falles im Anfang,
und was wir noch aus persönlicher Bosheit hinzutaten, erwägen,
wenn wir dann im Stande waren, wenigstens,
so weit überhaupt unsere Kräfte hierzu reichen,
die unendliche Barmherzigkeit Gottes gegen uns zu begreifen,
dann sind wir auf die unserer harrende heilsame Sühne,
sowie auf die darauf folgende unaussprechliche Freude vorbereitet.

Die Zeit, in welche wir jetzt eintreten,
ist also diesen schwer wiegenden Gedanken gewidmet,
und wir können die Gefühle,
welche die Kirche während derselben bei ihren Kindern voraussetzt,
nicht besser entwickeln,
als wenn wir einige Stellen aus der beredten Exhortation hier anführen,
welche der große Yves von Chatres zur Eröffnung der Septuagesima an sein Volk richtete.
„ Der Apostel hat gesagt :
Wir wissen, daß alle Geschöpfe seufzen und in den Geburtswehen liegen immer noch.
Und nicht allein sie,
sondern auch wir selbst,
die wir die Erstlinge des Geistes besitzen,
ja wir selbst seufzen innerhalb uns,
und warten auf die Annahme zu Kinder Gottes,
auf die Erlösung unseres Leibes.“

Das seufzene Geschöpf ist die von der Verderbnis der Welt abgekehrte Seele,
welche ihr Los beweint,
so vielen Eitelkeiten immer noch unterworfen zu sein.
Sie leidet an den Geburtswehen,
so lange sie von der Heimat entfernt ist.
Darum ruft der Psalmist :
„ Lange ist meine Seele ein Fremdling gewesen.“
Der Apostel selbst, der den Heiligen Geist empfangen,
der eines der vorzüglichsten Glieder der Kirche war,
sagte in seinem ängstlichen Sehnen nach der Kindschaft Gottes,
deren Hoffnung er doch bereits besaß :
„ Ich habe Verlangen, aufgelößt zu werden, und mit Christo zu sein.“
Wir müssen also in diesen Tagen mehr als zu jeder anderen Zeit
uns Seufzen und Tränen hingeben,
damit wir durch die Bitterkeit, den Jammer unserer Herzen,
uns der Rückkehr in jenes Vaterland würdig machen,
aus welchem uns todbringende Lust verbannt.
Weinen wir also während der Reise, damit wir,
am Ziele angelangt, uns freuen können.
Durcheilen wir daher die irdische Laufbahn so,
daß uns auf alle Fälle am Ende
derselben der Preis der Berufung zum Himmel bleibt.
Gleichen wir nicht jenen unsinnigen Wanderern,
die ihrer Heimat vergessen,
am Orte des Exils sich niederlassen und an der Straße liegen blieben.
Seien wir nicht wie abgestumpfte Kranke,
die das Heilmittel für ihre Leiden zu ergreifen zu träge sind.
Mit Recht verzweifelt man am Leben dessen,
der nicht einmal seines Leidens bewußt ist.
Eilen wir zum Arzte des ewigen Heiles ;
entdecken wir ihm die wunden,
die wir erhalten, und flehen wir zu ihm :
„ Erbarme Dich meiner, o Herr, denn ich bin schwach ;
heile mich Herr, denn meine Gebeine zittern.“
Dann wird unser Arzt unsere Missetat uns verzeihen,
er wird alle unsere Schwächen heilen und unser Sehnen nach dem ewigen Glücke stillen.“


Wir wir sehen, muß also der Christ während der Septuagesima,
wenn er in den Gedanken der Kirche eingehen will,
mit der falschen Sicherheit,
mit der Selbstzufriedenheit, die nur zu häufig in schwachen schmiegsamen Seelen
Wurzel schlägt und dort nichts hervorbringt,
als eine vollständige Unfruchtbarkeit, entschieden brechen.
Glücklich noch diejenigen,
bei welchen nicht eine derartige Neigung schließlich zur vollständigen Auslöschung
wahren christlichen Geistes führt !
Wer jener beständigen Wachsamkeit,
welcher der Heiland,
so sehr anempfiehlt,
sich überheben zu können glaubt,
ist schon in der Hand des Feindes.
Wer nicht mehr das Bedürfnis eines Kampfes fühlt,
eines Kampfes,
um sich aufrecht zu halten und im Guten vorwärts zu kommen,
wer sich im Besitze eines ebenso seltenen,
als gefährlichen vorrechtes dünkt,
der sollte viel mehr schon darum fürchten,
gar nicht mehr auf dem Wege zum Himmelreiche zu sein, das Gewalt leidet ;
wer die Sünden vergißt,
welche die göttliche Barmherzigkeit ihm verzeihen,
hat zu besorgen, daß er einer gefährlichen Täuschung zum Opfer fällt.
Preisen wir Gott in den Tagen,
welche wir der unverzagten Betrachtung unseres Elendes widmen
und schöpfen wir aus unserer Selbsterkenntnis neue Gründe,
unsere Hoffnungen auf Den zu setzen,
den unsere Sünden und Mängel nicht gehindert haben,
sich zu uns zu erniedrigen, um uns zu sich zu erheben.