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Artikel 2 / 77

»Auf die schiefe Ebene zur Republik«

Rudolf Augstein über das zu mächtig aufgeblähte Reich *
Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 2/1985

Der Untergang des Hitler-Reichs begann nicht 1939, als der Diktator in seinen Krieg raste; er begann nicht 1933, als er die Macht an sich riß; und er begann auch nicht am 20. April 1889. Er begann vielmehr vor Hitlers Geburt, mit dem Telegramm »periculum in mora« (Gefahr im Verzug), vom preußischen Kriegsminister Albrecht von Roon am 18. September 1862 nach Paris geschickt, wo Preußens Gesandter in Frankreich, Otto von Bismarck, ihm entgegenfieberte. Er war damals 47 Jahre alt.

Fast hätte Roon, obwohl er auf Bismarck große Stücke hielt, seinen damals 65jährigen König Wilhelm I. doch noch dazu bekommen, sich mit der Abgeordnetenkammer über die kostspielige Heeresreform zu einigen. Wilhelm, später Kaiser Wilhelm I., blieb aber starr. Und also war »periculum in mora«, Bismarck mußte her, der einzige »Konfliktsminister«, dem man zutraute, diesen gordischen Knoten zu durchhauen.

Bismarck kam, sah und siegte, obwohl er dem soliden König nicht recht geheuer war.

Der da anreiste, hatte die Vorurteile seines Standes - er war ein nicht sehr reicher Gutsherr - und verfolgte im übrigen nur ein Prinzip: dem König mehr Macht zu verschaffen, damit er selbst mehr Macht bekäme, indem er den König von sich abhängig machte.

Also mußte der Staat Preußen vergrößert, er mußte in Deutschland führend werden, unter Ausschluß der Österreicher und ihres Anhangs. Das würde schwerlich ohne Krieg abgehen, ohne siegreichen Krieg, versteht sich. Der Landwehrleutnant führte deren drei.

Skrupel gab es bei ihm so wenig wie in früheren, für barbarisch gehaltenen Zeiten.

Hatte das Königreich Hannover 1864 auf der falschen Seite gefochten, auf der Verliererseite, so wurde es einverleibt, wie Friedrich der Große ganz Sachsen geschluckt hätte, wäre sein Magen nur groß genug gewesen. Das Gottesgnadentum des früheren Königs Friedrich Wilhelm IV. wurde zum Teufel geschickt, das legitime Königtum verschwand in der Registratur.

Nun konnte Bismarck Frankreich, das von einem populistischen Diktator namens Bonaparte und dessen schöner Frau Eugenie regiert wurde, gewiß nicht schlucken, er hatte das auch nicht vor. Frankreich war die führende Großmacht auf dem europäischen Kontinent seit 1648, seit dem Westfälischen Frieden. Aber Frankreich, sollten denn Bismarcks Pläne gelingen, mußte gedemütigt und seiner Vormachtstellung beraubt werden.

Zwei Mittel boten sich dazu an. Erstens der deutsche Nationalismus, der 1862 ökonomisch schon wohl vorbereitet war. Der Norddeutsche Bund, dessen erster Kanzler der inzwischen zum Grafen erhobene Bismarck 1867 geworden war, übte seine Anziehungskraft auch vor dem Erscheinen des »Nibelungen-Enkels« schon auf die süddeutschen Staaten aus. Österreich samt seinen Trabanten konnte da nicht mithalten.

Zweitens gab es die deutschen Liberalen, die nicht so sehr ein politisch-liberales wie ein ökonomisch-liberales Gesamtdeutschland wollten, sei es mit, sei es ohne Österreich. Die innerdeutschen Wirtschaftsgrenzen sollten fallen, der Freihandel blühen.

Die Liberalen, die von Bismarck später so schnöde behandelt wurden, haben das Bismarck-Reich mit ihm zusammen geschaffen, er und sein Koch waren es nicht allein. Zudem gab es dann noch den genialen Eisenbahn-General Moltke.

Nun waren sich die Regenten des französischen Zentralstaates spätestens seit den Kardinälen Richelieu und Mazarin (1624-1661) durchaus darüber im klaren, daß man der habsburgischen Kaisermacht samt ihren zahlenmäßig überlegenen Deutschen niemals den in Paris geübten Zentralismus erlauben dürfe.

Es galt, die deutschen »Libertäten« gegenüber jeder Zentralgewalt zu sichern. Der Vater des Goethe-Gönners, der Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar, betrachtete sich noch als den obersten Henker seines Ländchens. Niemandem war er Rechenschaft schuldig, auch dem Kaiser nicht: deutsche Libertät.

Es bedurfte einer neuen, der kolonialen Welt, um Frankreich mit der Wiener Kaisermacht in ein Bündnis zu bringen. Es bedurfte dazu weiter eines so machiavellistischen und kriegstüchtigen Eroberers weiterer deutscher Libertäten, wie es der Große Friedrich war, um die beiden europäischen Großmächte Frankreich und Rußland - Preußen war noch keine - gegen ihn in eine Koalition zu bringen, die er nur mit Standfestigkeit und äußerstem Glück überlebte. Kriege zwischen »Landeskindern« (das heißt meist gepreßten Bauern-Sklaven) waren damals nichts Ungewöhnliches, anders als zu Bismarcks Ausscheiden.

Hinfort war Preußen, weil von den Zarinnen und Zaren in St. Petersburg abhängig, immer noch keine rechte Großmacht. Aber es zählte zu den Aspiranten und hatte jetzt seinen »Erbfeind«. Als der Generalstabschef Gneisenau 1815 nach der Niederlage des preußischen Heeres bei Ligny in Vertretung des verunglückten Blücher an der Mühle von Sombreffe die Weisung gab: »Die Armee marschiert nördlich nach Wavre«, machte er Preußen zum Mitgewinner von Waterloo und zu einer Fast-Großmacht. Der alte Blücher prahlte auf einem Festbankett in Paris: _____« Was die Schwerter erwerben, soll kein Kleckser » _____« verderben. »

Es gab, daran war nun kein Zweifel, eine Großmacht mehr in Europa, war sie

auch immer noch die kleinste. Italien rappelte sich erst, und die Pforte in Konstantinopel zählte nur noch wegen des Neides ihrer potentiellen Gegner.

Bei fünf Großmächten, so lautete das europäische Einmaleins, muß man sich immer mit zweien gegen die beiden verbleibenden zusammentun: eine Rechnung, die nicht so sehr Bismarck wie seine Nachfolger ungelesen in ihrem Schulranzen ließen.

Sowenig der Große Friedrich in der Lage gewesen war, seine Staaten selbst noch zu einer Großmacht zu machen, so brachte er es doch noch ohne Absicht zuwege, England in dessen Schiedsrichterrolle über den Kontinent fest zu etablieren. Und es gelang ihm weiter, wieder ohne Willen, zwei »Erbfeinde«, Paris und Habsburg, zu Bundesgenossen zu machen. Diese Lektion ließen sich Bismarcks Nachfolger gefallen, zu ihrem Unglück.

Das napoleonische Zwischenspiel können wir außer acht lassen, es brachte nicht gar soviel an politischer Zivilisation, dafür aber etliche Millionen Tote. Sonst hat es die Literatur mehr beeinflußt als die Politik. Europa war denn doch nicht dämlich genug, sich von einer Familie aus Emporkömmlingen und Schnorrern, allesamt mit Hermelin und Krone ausgestattet, unter deren Fittiche nehmen zu lassen.

Nur blieb Frankreich, was es vorher war: eine, wenn nicht die kontinentale Großmacht und zudem das Schlachtfeld aller politischen und geistigen Ideen. Niemandem wäre es eingefallen, dieses großartige Land unter Berufung auf die Schlacht von Azincourt im Jahre 1415 zu zerstückeln.

Ludwigs XIV. System gab es nicht mehr, das des großen Napoleon schon gar nicht, aber an der Vormachtstellung Frankreichs in Europa hatte sich wenig geändert.

Die Franzosen ließen sich einen Neffen des Korsen als Kaiser aufschwatzen, und Rußland verlor sogar 1855 seinen Krieg auf der Krim, ein Heimspiel sozusagen.

Bismarck erschien und hebelte den Kaiser der Franzosen schlicht vom Thron, nicht ohne Befürchtungen, jetzt könnten sich wieder Republikaner und Demokraten mausig machen. Hier ist nicht Platz, seine genialen Streiche auszubreiten. Genug, er machte Frankreich zu einer Rußland und Österreich-Ungarn gleichberechtigten Großmacht, stufte es also auf das Niveau dieser beiden herunter. Kontinentale Vormacht war jetzt das »Bismarck-Reich in schimmernder Wehr«.

Das System, das Bismarck sich erklügelte (oder erklügeln mußte), war so kompliziert, daß kein anderer als er selbst es handhaben konnte, und auch er war schließlich mit seinem Latein am Ende. Kein Kaiser oder König von Preußen konnte auf ihn verzichten.

Wenn der berühmte Arzt Rudolf Virchow 1888 »von dem nächst Gott mächtigsten Mann dieser Erde« sprach, so meinte er den 90jährigen Kaiser. Nur stimmte die Floskel nicht. Bismarck war es.

Unter Revolutionen versteht der gemeine Mann (oder die gemeine Frau) meist eine innere Umwälzung. Den großen Staatskulissenschiebern, einem Kissinger etwa, genügt es, wenn die Machtverhältnisse sich grundlegend ändern. Auch das ist in ihren Augen Revolution.

Bismarck war solch eine gelungen. Der Neffe Bonaparte, Europas mächtigster, wenn auch aufgrund jeder populistischen Gesetzmäßigkeit gefährdetster Artist, verschwand 1870 in der Versenkung. Die neu gegründete Republik erholte sich unerwartet rasch, brachte es aber zu keiner stetigen Regierung. Kein Staatsmann, Englands Premier Disraeli nicht und nicht der russische Außenminister Giers, konnte dem preußischen Junker das Wasser reichen.

Doch auch die Bismarcksche Revolution war nach 20 Jahren schon wieder gefährdet. Auch der kluge Bismarck hatte sich überfressen.

Es liegt im Wesen der Revolutionen wie der Kriege, daß sie Kräfte entbinden, die niemand berechnen kann. Übrigens wüßten wir über die Risse

im Bismarckschen Gebäude nicht annähernd soviel, gäbe es nicht die Tagebücher des engsten Giers-Vertrauten, Graf Lamsdorf, eines engen, wenn auch nicht direkten Vorfahren unseres Grafen. Dieser Junggeselle wohnte sogar im Außenministerium.

Bismarck erklärte sein Reich für »saturiert«. Wo hätte es sinnvollerweise Gebiete noch annektieren können? Und Kolonien? Davon hielt er, ebenso weise wie unvorsichtig, nicht viel. Zur See beschränkte er sich auf das Notwendige.

Es gab aber andere europäische Großmächte, die sich nicht für saturiert hielten. Rußland strebte beharrlich nach den türkischen Meerengen, und der Muschik-Heiland Dostojewski schrieb seinen Artikel »Warum Konstantinopel unser werden muß«. Indien wollte er noch dazu.

Rußland erstrebte weiter die Oberherrschaft über das christlich-orthodoxe Bulgarien, das nominell noch der Pforte gehörte. Derlei konnte die k. u. k. Monarchie in Wien nur zulassen, wenn Österreich-Ungarn das von Slawen bewohnte Serbien unter seinen Daumen brachte, »Kompensation« war das Schlüsselwort.

Hier liegen die Wurzeln des Zweiten Weltkriegs und der Stunde Null, weil das Bismarck-Reich mit seiner Machtstellung nicht fertig wurde. Mittlerweile gab es noch das neue Italien des Grafen Cavour und der Dynastie Savoyen-Piemont, keine sehr große Großmacht, aber immerhin noch eine.

Dies mußte Bismarck 1884 erkennen: Er war verbündet mit den beiden Großmächten Rußland und Österreich-Ungarn, im sogenannten »Dreikaiserbund«, die aber untereinander Interessen hatten, die nach den Vorstellungen der beiden nicht miteinander vereinbar waren. Bismarck selbst kam sich wie ein Mann vor, der zwei Kettenhunde an der Leine hielt, die er ständig hindern mußte, einander an die Kehle zu fahren.

Für seinen wichtigsten Fehler konnte Bismarck nichts. Er mußte soviel Deutsche samt Industrie und Rohstoffen in sein Reich aufnehmen, wie Österreich ihm übrigließ: entschieden zuviel.

Andere Fehler hätte er vielleicht - vielleicht! - vermeiden können. Sein größter Sieg verwandelte sich unterderhand in eine Niederlage. Er hatte Habsburg unter Aufbietung all seiner Gesichtsschmerzen und Wutausbrüche nach dem Sieg von Königgrätz 1866 derart geschont, daß er bereits 1879 mit der wieder restaurierten k. u. k. Monarchie ein Bündnis schließen konnte, an das er Rußland indirekt anhängte.

Das war gloriose Politik. Aber Bismarck war mehr ein Mann des 18. als des 19. Jahrhunderts. Er scheint geglaubt zu haben, er hätte im Ernstfall eine Option zwischen den beiden ihm verbündeten Mächten Rußland und Österreich. Dem war nicht so.

1866 hatte er noch auf Österreicher und Sachsen und Hannoveraner schießen lassen können. 1890 war das vorbei. Bismarcks Reich war in Nibelungentreue dem brüchigen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Dies sind Fehler, die selbst dem größten Staatsmann unterlaufen, weil die Geschichte sich nicht allzuweit im voraus berechnen läßt. Aber zweitens demütigte er das stolze Frankreich; ließ zu die Kaiserkrönung in Versailles; ließ zu die Wegnahme des Elsaß und Lothringens; verlangte fünf Milliarden Francs Kriegsentschädigung.

Nun stand wohl fest, daß dieser »Erbfeind« nie mehr zur Disposition in einem Bündnis stehen würde, das gegen das Reich gerichtet war. Automatisch würde es auf der Gegenseite Posten fassen.

Hat Bismarck diesen Tatbestand erkannt? Ja, und sehr nonchalanterweise auch gewollt. Sein Gedanke könnte gewesen sein: Wenn wir den Franzosen kein Zipfelchen nehmen, sogar das deutsche Straßburg nicht; wenn wir keine Kriegsentschädigung verlangen; und selbst wenn wir die Kaiserkrönung in Berlin oder Durlach vornehmen würden, es würde uns alles nichts nützen.

Wir haben sie, die Grande Nation schlechthin, deklassiert, und ohne Gloire können sie nicht leben. In jedem Krieg würden sie gegen uns sein. Vielleicht hätte er das alles gegen den König, die Militärs und den allgemeinen Siegestaumel nicht durchsetzen können, vielleicht sogar nichts davon. Nur hat er später zehnmal soviel darüber nachgedacht, den objektiven - von ihm vielleicht nicht zu verantwortenden - Fehler wiedergutzumachen, als er Zeit darauf verwandt hat, den Fehler geschehen zu lassen.

Der große Mann war mit zwei untereinander verfeindeten Kriegsgegnern verbündet, dazu mit der halben Großmacht Italien, die im Ernstfall mehr auf die britische Flotte als auf die Vertragstexte Rücksicht zu nehmen hatte, angesichts ihrer langen ungeschützten Küsten. So hatte Bismarcks Koalition ihre beträchtlichen Tücken.

Nun gab es natürlich nicht den geringsten Grund für einen Krieg in Europa, so wenig wie heute, man konnte sich mit Raub- und Kolonialkriegen außerhalb und an den Rändern begnügen. Aber so sind die Menschen nicht. Haben sie etwas, so wollen sie mehr.

Krieg würde es irgendwann geben, und darum mußte man sich auf ihn vorbereiten; und weil man ihn vorbereitete,

mußte man ihn irgendwann auch führen, und sei es präventiv. Nur ja keinen Vorteil aus der Hand geben!

Angesichts der Interessen-Gegensätze der beiden Kaiserreiche Rußland und Österreich-Ungarn konnte der »Dreikaiserbund«, der wohlwollende Neutralität vorsah, sollte ein Außenstehender einen der drei angreifen, 1887 nicht erneuert werden.

Der schlaue Bismarck, gestützt auf das in Rußland enorme Prestige seines kaiserlichen Herrn, schloß aber mit St. Petersburg den sogenannten »Rückversicherungsvertrag«, dessen anstehende Verlängerung oder Nichtverlängerung 1890 eine so unverdient große Rolle spielen sollte, als Wilhelm II. den Reichsgründer mit guten und schlechten Gründen entließ.

Der Vertrag war wenig wert, außer als Zeichen dessen, daß man im Gespräch bleiben wollte, ähnlich etwa den Rüstungsverhandlungen in Genf und Wien heute. Beide Bismarcks, der alte und sein Sohn Graf Herbert, der Außenminister, machten sich da nichts vor.

Graf Herbert meinte, der Vertrag werde dem Reich die Russen bestenfalls sechs bis acht Wochen vom Leibe halten, wenn Frankreich über Deutschland herfiele (was eine absurde Voraussetzung war). Weiter werde er das Reich ebenfalls eine Weile neutral halten können, wenn Österreich-Ungarn über Rußland herfiele (ein ebenso absurder Gedanke). Der Vertrag tue niemandem weh, nutze aber auch nichts, dies die Schlußfolgerung von Graf Herbert.

Schärfer urteilte der alte Fürst. Unter dem 28. Juli 1887 schrieb er in einem Memorandum, der Wert des Rückversicherungsvertrages liege für die Deutschen nur in der Tatsache, daß er den Abschluß eines Bündnisses zwischen den Russen und den Franzosen auf drei Jahre verhindern werde. Was sollte bis dahin noch irgendeine Rückversicherung? Entgegen deutschnationaler Schullegende war das deutsch-russische Verhältnis bereits zerstört, als Wilhelm II. die Bühne betrat. _(Bismarck, der wenig vom Militär und ) _(wenig von Wirtschaft verstand, gab 1887 ) _(aus Friedrichsruh folgende Weisung an ) _(das Auswärtige Amt: »Der Reichskanzler ) _(wünscht, daß die erfolglosen Versuche, ) _(eine russische Anleihe aufzulegen, in ) _(der ''Kölnischen Zeitung'' besprochen ) _(werden, wobei Gewicht darauf zu legen ) _(ist, daß Rußland ein Verschwender ist, ) _(der einen Vormund braucht - daß nur noch ) _(die Gerichtsentscheidung fehlt, um es ) _(für unzurechnungsfähig zu erklären. Man ) _(soll sagen, Rußland habe seinen Kredit ) _(eingebüßt, weil es ein leichtsinniges ) _(Leben führt und seine Ausgaben nicht ) _(unter Kontrolle hat.« )

Ende November 1887 schlugen die militärischen Chefs Moltke und Waldersee dem Kaiser schriftlich einen Präventivkrieg vor, weil Rußland gegen Österreich zu stark rüste. Diese Blödigkeit konnte Bismarck denn doch noch verhindern.

Preußen lebte seit dem Siebenjährigen Krieg in einer halben Abhängigkeit vom Zaren. Das Deutsche Reich hätte ohne den Beistand Rußlands gar nicht gegründet werden können. Dafür war Rußland auf dem Berliner Kongreß 1878 aus seiner Sicht übel gedankt worden.

Bismarck verstand sich mit dem Premierminister Disraeli ("Der alte Jude, das ist der Mann!") besser als mit den russischen Unterhändlern. Rußland mußte einen Teil der Beute herausgeben, die es im Frieden von San Stefano von den Türken erobert zu haben glaubte.

Das Berliner Konzert, Präsentierpunkt Bismarckscher Staatskunst, fand schon fast ohne Instrumente statt. Bismarcks Prinzipienlosigkeit rächte sich. Gedanken wurden vorweggenommen, die später in der Ära Wilhelms II. aus dem Gebräu des allgemeinen Mißtrauens hochbrodelten.

Während der Verhandlungen 1891, nach Bismarcks Entlassung, die zu den französischrussischen Militär-Konventionen führten, gefiel dem Zaren Alexander III. bereits die Idee, Bismarcks Reich solle in Stücke geschlagen werden ("break up«, schreibt George F. Kennan in seinem Standardwerk »The Fateful Alliance").

Aber zu welchem Zweck? Und zu welchem Status quo ante? Eben zu dem, der die Gefahr erst heraufbeschworen hatte? Sogar die Zarin Elisabeth und die Kaiserin Maria Theresia, von der Pompadour ganz abgesehen, hätten den Gedanken

nicht fassen können. Konnte man 1892 die Hohenzollern vernichten, ohne Gefahren für die Romanows und die Habsburger heraufzubeschwören?

Früher hatte man dynastische Kriege geführt. Man setzte sich spezielle Ziele, etwa eine Provinz zu erobern oder zu halten, etwa den eigenen Seehandel gegen Störungen abzuschirmen; etwa bestimmte dynastische Ansprüche durchzusetzen und als Schutzmacht aufzutreten oder dergleichen. Jedenfalls den Gegner zu degradieren.

Hier wollte man mehr. Gewiß, Rußland würde Österreichisch-Galizien kriegen und die Oberherrschaft über Bulgarien. Frankreich würde Elsaß-Lothringen zurücknehmen. Derlei mußte nicht einmal definiert werden.

Das eigentliche, das neue Kriegsziel aber war, den Gegner so zu schwächen, daß er keinen eigenen Willen mehr geltend machen konnte, oder ihn in Stücke aufzuspalten und derart zu vernichten.

Der alte Bismarck hatte vor einem Krieg gewarnt, weil dieser drei große Dynastien vernichten und Demokraten wie Republikanern, seinen eingeschworenen Feinden, Auftrieb geben könnte - wie recht er bekommen sollte.

Ihm war es immer um Kriegsziele, und nicht um den Krieg als solchen gegangen, obwohl er den Clausewitz wohl kaum gelesen hat. Jetzt, zu Zeiten Alexanders III., ging es um den totalen Sieg, mithin um den totalen Krieg.

Und so kann George Kennan mit Recht schreiben: _____« Es lag in dieser primitiven Auffassung, daß die » _____« Großmächte den Ersten Weltkrieg vom Zaun brachen. In dem » _____« gleichen Ungeist brachten sie den Zweiten Weltkrieg zu » _____« Ende. »

Deutschlands Stunde Null, seine Demütigung und Zerstückelung im Mai 1945, sie weisen zurück ins Jahr 1870/71. Eines Hitler hätte es nicht unbedingt bedurft. Mögen auch die anderen europäischen Staaten »Schuld« auf sich geladen haben: Deutschlands Potential und sein Hochmut, sie waren zu groß.

In der imperialistischen Kolonialzeit die Expansion zu suchen, das kommt uns nur heute wunderlich vor. Damals versuchten es alle.

Das deutsche Kaiserreich war die stärkste Landmacht und England die stärkste Seemacht. Aber mißtrauisch guckte man nicht so sehr auf Merry Old England wie auf die Bismarcksche Neuschöpfung von 1871, die sich für saturiert ausgegeben hatte, aber wegen der kleinsten Bissen noch ein Gebell anstimmte.

Ja, warum hätten wir das Deutsche Reich denn gründen sollen, fragte der Soziologe Max Weber, in dem manche so eine Art geistigen »Gegenkaiser« sahen, 1896 in seiner Antrittsvorlesung, wenn wir, die Zuspätgekommenen, uns gegen die anderen jetzt nicht durchsetzen sollten? Der Krieg 1914 war auf deutscher Seite auch ein Pastoren- und Professoren-Krieg.

England stand zwischen 1899 und 1902 nicht strahlend da. Der Burenkrieg war, Vergleiche hinken, sein damaliges Afghanistan. 18 000 Frauen und Kinder starben hinter dem Stacheldraht der Konzentrationslager von Lord Kitchener of Khartoum ("K of K"). 1916 schipperte er als Heeresminister auf einem britischen Kriegsschiff in den Tod.

Dem Reich ging es zwischen 1900 und 1914 mehr als erträglich gut. Es hätte sich auf hohem Niveau bescheiden können. Wollte es aber, unter der Regentschaft seines strahlenden Operettenkaisers Wilhelm II., seinen »Platz an der Sonne«, mußte es auf die englischen Bäume Rücksicht nehmen. Sie warfen einen langen Schatten und würden sich nicht selbst umhacken.

Bismarck selbst hatte sich mit Disraeli (Lord Beaconsfield) von Schurke zu Schurke blendend verstanden. Aber die amphibischen und konstitutionellen Grundlagen des Inselreiches scheint er nicht recht begriffen zu haben, wenn es denn stimmt, daß er dem Premier Lord Salisbury ein regelrechtes Bündnis angetragen hat. Das Parlament hätte dem ja keinesfalls zustimmen können. England gefiel sich in der Rolle des Schiedsrichters über das kontinentale Gleichgewicht.

Bismarck sah die Schwäche seines Systems sehr wohl und suchte sie zu mildern, indem er im Verein mit Italien und Österreich-Ungarn einige Mittelmeerabkommen zustande brachte, an denen England beteiligt war. Und viel mehr konnte er nicht tun.

Es gab keine englische Karte, die das Reich ausspielen konnte, was die Russen nicht hinderte, solch ein Spiel zu fürchten. _(Oben: letztes Photo vor der Erschießung ) _(1918; ) _(rechts: 4. von links. )

1892 brachte der Zar seine Militär-Konventionen mit Frankreich aus Furcht vor der englischen Karte unter Dach. Er entblößte sein Haupt, als beim französischen Flottenbesuch die Marseillaise gespielt wurde, und murrte: »Schließlich kann ich ihnen keine neue komponie ren.«

So hatte Bismarck Glück, daß er rechtzeitig abtreten mußte. Seine Nachfolger unter dem neuen Mann der Epoche, Wilhelm II., taten nun allerdings alles, um die Engländer zu brüskieren.

Hatte Bismarck manchmal nur so getan, als wolle er auf Kriegskurs, so hielten seine Nachfolger den Krieg für unvermeidlich. Irgendwann mußte er sein, warum auch nicht, die letzten Kriege waren ja halbwegs glimpflich abgelaufen für alle, die davongekommen waren. Man suchte ein Bündnis mit England, verstand aber nicht die englische Mentalität.

Der Generalstabschef Graf Schlieffen entwarf einen Kriegsplan, zu dessen Essentials es gehörte, daß Belgien überrannt wurde. Nun, was bedeutete das? Unweigerlich Krieg mit England, das seine Gegenküste nicht gerade der stärksten Kontinentalmacht ausliefern würde, wie 1700 nicht, wie 1800 nicht.

Von diesem genialen Schlieffen-Streich wußte der Großadmiral und Staatssekretär im Marineamt, Alfred von Tirpitz, bis zum Kriegsausbruch nichts, wie er glaubhaft versichert hat. Welch eine Koordination! Er seinerseits verfolgte seit 1898 den genialen Gedanken, die deutsche Kriegsflotte so stark zu machen, daß England ein Risiko eingehen würde, wenn es im Kriegsfall nicht neutral bliebe. Er baute die sogenannte »Risikoflotte«.

Wie nicht anders zu erwarten, trieb diese Risikopolitik England erst recht in den Krieg. Die Briten reagierten mit ihren »Dreadnoughts«, und Tirpitz mußte nachziehen.

Der Drang der deutschen Industrie über den Balkan in den Mittleren Osten, von Bagdad bis Stambul, war ebenfalls nicht gerade geeignet, England freundlich zu stimmen. Der Suezkanal und Indien gehörten zum englischen Handels- wie Kriegsmobiliar.

Aber die deutsche Diplomatie war gar nicht hinterlistig, sondern nur dämlich. Sie hielt sich an das Sprichwort, Bär und Wal würden nie zueinanderfinden, und setzte ganz offen hinzu, es sei denn, die Deutschen hülfen beiden dazu. Dies war ein kapitaler Irrtum. Deutschland trieb England und Rußland aufeinander zu, Bär und Wal kopulierten.

Als auf der Konferenz im spanischen Algeciras 1906 die Isolierung Deutschlands wie seines österreichischen Verbündeten offenbar wurde, wegen der recht zweitrangigen Marokko-Frage, stand die Konstellation zur Stunde Null so gut wie fest.

Allen europäischen Großmächten ging es 1914, von der Arbeiterklasse einmal abgesehen, gut, am besten dem Deutschen Reich. Als der Pulverdampf sich 1918 verzogen hatte, standen sie alle, die den Krieg begonnen hatten, schlechter da.

Es gab keine Hohenzollern und keine Habsburger mehr, die Romanows waren erschossen worden. Das britische Empire war unwiderruflich erschüttert, Frankreich ausgeblutet und nicht mehr kräftig genug, noch irgendeinen Krieg zu führen.

Aber immer noch gab es, wenn auch nicht ein ungeteiltes, so doch ein einheitlich regiertes Preußen mit einem ungeteilten Berlin. Würde die Republik von Weimar ihre Lektion gelernt haben?

Das schien nicht so. Sie hatte nicht gelernt, daß sie keinen Krieg mehr provozieren dürfe. Gelernt hatte sie, daß ein Zweifrontenkrieg von Übel sei, und so hielt sie sich nach Westen mit Hilfe der Locarno-Verträge den Rücken frei.

Aber Polen, die Tschechoslowakei und Österreich lagen in ihrem Blickfeld, darüber hinaus der Balkan. Das ehedem saturierte Reich fühlte sich gedemütigt und unsaturiert. Der Vertrag von Versailles hatte nun auch in der Tat keine vernünftige, keine haltbare Friedensordnung geschaffen.

Man kann durchaus spekulieren, daß England und Frankreich Hitler die Ostgrenzen von 1914 auf Kosten Polens, das Protektorat Böhmen auf Kosten der Tschechen, und Österreich auf dessen eigene Kosten noch zugestanden hätten.

Nur hätte Hitler ein anderer sein müssen, um sich mit Zugeständnissen, und sei es der spektakulärsten Art, besänftigen zu lassen. Sein größter politischer Erfolg, die Eingemeindung von drei Millionen Sudetendeutschen 1938, machte ihn nur rasend. Er wollte Prag, wie später Warschau, brennen sehen. Er hatte es nicht so sehr auf den Sieg wie auf die Stunde Null abgesehen.

Welchen Krieg die Deutschnationalen ohne einen Hitler angefangen hätten, die konstitutionellen Nazis also, und wie er ausgegangen wäre, darüber kann man nur rätseln. Sie hätten wohl einen provoziert, und schwer vorstellbar ist, daß sie ihn gewonnen hätten, daß er ohne Besetzung des gesamten Landes geendet hätte. Hier kann nur noch phantasiert werden. Das System von Weimar jedenfalls und das System des Genfer Völkerbundes waren 1933 schon kaputt, und nicht nur, noch nicht einmal überwiegend durch Hitler.

Daß den Zweiten Weltkrieg die Amerikaner in Europa und in Fernost gewonnen haben, steht außer Zweifel. Die Russen hingegen, so heldenmütig sie sich zur Schlachtbank treiben ließen, haben sich überfressen. Sie sind, wie Bismarck vornehm sagen würde, »periklitiert«, haben ihre Einflußmöglichkeiten und ihre Einflußsphäre überdehnt. Man sieht nicht, wie sie ihr Vorfeld räumen, wie sie Afghanistan verlassen, Kuba das Geld sperren und sich in Vietnam zurückziehen können, sie müßten ja nicht alles auf einmal tun.

Landwirtschaft, Wirtschaft und Technologie reichen bei ihnen nicht aus. Deshalb kann man sich schwer vorstellen, daß sie in 50 Jahren all diese Verpflichtungen noch wahrnehmen werden, zumal 60 Prozent der Bewohner dann nicht Russen, sondern meist Moslems oder andere Völkerschaften-sein dürften.

Konflikte werden in Europa schwerlich ausbrechen, aber leicht anderswo. Sowjets und wir und alle anderen schweben in der ständigen Gefahr eines Holocaust, den der frühere nur an unmenschlichem Willen übertreffen würde.

Und die Deutschen, wie weit sind sie seit der Stunde Null gekommen? Man kann sagen, daß diejenigen, die mit der DDR nichts zu tun haben, auch zu den Kriegsgewinnern zählen, und sicher ist das die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik.

Aber ist es möglich, sich wohl zu fühlen, wenn die westdeutschen Botschaften in den östlichen Ländern vor Flüchtlingen bersten? Wenn alle, die ihren Staat DDR verlassen wollen, und sei es nur aus materiellen Gründen, losgekauft werden müssen? Wenn eine Schlümpfe-Kultur drüben für Ahnenerbe ausgegeben wird, während man froh ist, die produktiven Künstler nach Westen ziehen zu lassen?

Kann man sich freuen, wenn wir Westdeutschen nicht souverän genug sind, Olympische Spiele zu besuchen, auf denen Großbritannien und Frankreich vertreten sind? Wenn wir nicht selbst befinden können, wem wir was exportieren dürfen? Wenn über Fragen unserer Sicherheit denn doch ein Hauch von Unmündigkeit schwebt? Wenn wir durch eine künstliche Ideologie von den Deutschen der DDR getrennt bleiben müssen, weil die drüben schon den rein ökonomischen Wettkampf der Systeme nicht bestehen können und deshalb mit Mauer und Stacheldraht und sonstigen Schikanen einen zwischen ordentlichen Ländern selbstverständlichen Austausch verhindern? Wenn denn, dann hat Japan, das keine Schuldgefühle kennt, den Krieg mitgewonnen.

Sicher, wegen der deutschen Teilung wird es keinen Krieg mehr geben. Aber von deutschem Boden aus vielleicht doch einen, unter besonderer Bevorzugung der Norddeutschen Tiefebene?

Es geht den DDR-Deutschen besser als irgendwelchen Angehörigen eines kommunistischen Systems. Nur wäre es uns Deutschen wohler, wenn die Stunde Null von Eisenhower und Montgomery bis an die heutige polnische Westgrenze, bis an Oder und Neiße herangetragen worden wäre.

Es gab ja aber keine Kriegsziele, außer dem einen, das Bismarck-Deutschland in Stücke zu zerschlagen. Warum also Leute opfern, ohne Sinn?

Man wäre sehr neugierig, wie Brüning, Papen und Schleicher auf die Stunde Null losmarschiert wären, wenn Hitlers Mutter den kleinen Adolf gar nicht zur Welt gebracht hätte. Und neugierig auch, wie sie, die Witzleben, Blomberg, Beck und Manstein, den zweiten Krieg verloren hätten. Finis Germaniae.

Eine unfaire Betrachtung, zugegeben. Fair aber die Feststellung, daß wir Null-Deutschen dann nicht mit der Bürde Auschwitz herumlaufen müßten. Dies denn doch nicht. Das war des Führers Wahnwitz und sein ureigenes Werk. Der Unterschied ist nicht gekünstelt. Zwar stimmt es, daß Europa, und mit ihm das Deutsche Reich, von einer unsäglichen Schreckensherrschaft befreit worden war. Aber nur ein Teil von Europa, ein Teil auch des Deutschen Reiches.

Ein nicht kleiner Teil wurde überhaupt nicht befreit, sondern nur einer neuen Schreckensherrschaft unterworfen.

Hitler und Stalin im Bösen zu vergleichen macht wenig Sinn, es sei denn, daß Hitler wahnhafter war. Polen, Esten, Letten und Litauer, soweit Stalin sie nicht schon umgebracht hatte, wurden nicht befreit. Auch nicht die Tschechen, Polen, Slowaken, Rumänen, Ungarn und Bulgaren. Ob man jene zehn bis fünfzehn Millionen Deutschen, die gewaltsam aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden, als »Befreite« bezeichnen

kann, mag dahinstehen. Zwei Millionen starben während dieser Umsiedlung, die gemäß dem Potsdamer Abkommen auf »eine geregelte und menschliche Weise« abgewickelt werden sollte.

Jedenfalls gelangten die Überlebenden nicht von einer Schreckensherrschaft in die andere, wenn sie die Bundesrepublik erreichten.

Waren alle aus dem deutschen Osten und aus der CSSR Vertriebenen Verbrecher, Kriegsverbrecher? »Ich glaube nicht, daß die 8 Millionen Menschen, die ausgetrieben werden, Kriegsverbrecher sind«, sagte Churchill am 21. Juli 1945 in Potsdam zu Stalin. »Sie sind alle geflohen«, behaupt ete der.

Churchill, nur noch wenige Stunden im Amt, bemängelte, Polen nehme nun ein größeres Territorium an sich als jenes, das es an Rußland habe abtreten müssen. Das könne Schwierigkeiten »für uns alle geben«. Stalin: Es sei besser, den Deutschen Schwierigkeiten zu bereiten als den Polen. »Je geringfügiger die deutsche Industrie ist, desto größer wird dann auch der Markt für amerikanische und britische Waren sein.« Ein schlauer Kerl, dieser Stalin.

Als man sich nicht einig wurde, erkrankte Stalin. Er hatte sich erkältet, laut Molotow. US-Außenminister Byrnes erklärte, die USA seien bereit, den sowjetischen Wünschen hinsichtlich der polnischen Westgrenze zu entsprechen, wenn die UdSSR in der Reparationsfrage nachgebe. Er schlug eine endgültige Festlegung der provisorischen Westgrenze Polens »westlich von Stettin zur Oder, bis zum Nebenfluß der östlichen Neiße und entlang der östlichen Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze« vor.

Molotow lehnte ab. Stalin war immer noch erkältet. Molotow schlug die westliche Neiße als Grenze vor, was bedeutete, daß Brieg, Breslau und Liegnitz, weitere 2,7 Millionen Deutsche also, Polen zugeschlagen wurden. Stalins Erkältung besserte sich nun rasch.

Es gab keinen Irrtum hinsichtlich der östlichen und der westlichen Neiße. Vielmehr gaben die beiden Westmächte ohne große Skrupel nach. Im Tagesprotokoll taucht sie dann beiläufig auf, die »Umsiedlung« der Deutschen aus der Tschechoslowakei, allerdings nicht mit der Ziffer 3,5 Millionen, wie es korrekt gewesen wäre, sondern 2,5 Millionen. Sehr viele dieser Leute mögen Nazis gewesen sein. Aber »Kriegsverbrecher« waren nur sehr wenige.

Das Gespenstische an der Potsdamer Konferenz lag darin, daß hier ein Kriegsverbrechergericht von Siegern beschlossen wurde, die nach den Maßstäben des späteren Nürnberger Prozesses allesamt hätten hängen müssen. Stalin zumindest für Katyn, wenn nicht überhaupt, Truman für die überflüssige Bombardierung von Nagasaki, wenn nicht schon von Hiroschima, und Churchill zumindest als Ober-Bomber von Dresden, zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon erledigt war.

Alle drei hatten »Bevölkerungsumsiedlungen« verrückten Ausmaßes beschlossen, alle drei wußten, wie verbrecherisch diese vor sich gingen. Gemessen am Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz Sauckel, der Hitler die Arbeitskräfte zutreiben mußte, hätten sie alle drei hängen müssen. Denn sie haben sowohl angeordnet wie gewußt, was man von dem Tölpel Sauckel nicht unbedingt sagen kann. Auch gemessen an Generaloberst Jodl wäre ihr Schicksal der Strick gewesen.

Die USA nahmen jene Japaner in ihre Dienste, die Tausende von Menschenversuchen durchgeführt hatten. Sie und der Vatikan retteten die Barbies.

Sie holten sich Wernher von Braun, den ein Major Taggert weichzuklopfen suchte, indem er ihn den »Erfinder der teuflischsten Vernichtungswaffe« nannte, die die Menschheit je besessen habe. Von Braun müsse hängen, »weil er diese grauenhafte Waffe der verbrecherischsten Regierung aller Zeiten in die Hände gegeben« habe.

Nun war selbst Hitler, als ihn die Peenemünder V-2-Wissenschaftler einmal besuchten, der Satz entfahren, künftig werde Krieg dann ja wohl nicht mehr möglich sein.

Aber weder Hitler noch Major Taggert noch Wernher von Braun wußten damals von der Hiroschima-Bombe. Und Wernher von Braun mußte man auch gar nicht weichklopfen. Er selbst hatte seinen jüngeren Bruder Magnus auf dem Fahrrad zu den Amerikanern geschickt, um auf sich und seine Leute aufmerksam zu machen.

Die Befreiung vom Hitler-Joch mal wieder zu feiern, als ob es nichts Dringlicheres zu tun gäbe, mag also zwiespältig sein. Laßt doch die Amerikaner mit den Sowjets zusammen feiern. Wir können dem, wie in der Normandie, ohne Aufregung zugucken.

Nicht zwiespältig ist die Meinung derer, die überhaupt eine Wahl hatten, ob sie unter dem Kommando der Russen oder unter dem der Engländer, Amerikaner und Franzosen leben wollten.

Zwar hatte sich der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau jr. einige aparte Rachegedanken einfallen lassen. Er wollte die deutschen Kinder ihren Eltern wegnehmen, damit sie nicht im Geist des Hitlerismus groß würden. Kriegsminister Stimson war dabei nicht ganz wohl, aber er protestierte nicht.

Weiter wollte Morgenthau alle Industrieanlagen aus Deutschland entfernen und die Deutschen einfach zu einer Nation

von Kleinbauern machen. Stimson meinte, daß man dazu einen Großteil der deutschen Bevölkerung »wegschaffen« müsse. Darauf Morgenthau: »Nun, das ist nicht annähernd so schlimm, wie wenn man sie in Gaskammern schickt.« Spiegelbildlich also der Madagaskar-Plan des SS-Mannes Eichmann.

Erschrocken stellte Morgenthau fest, die Deutschen brauchten einen Tagessatz von 2000 Kalorien, notfalls müsse man diese Menge durch Importe sicherstellen. Er alarmierte seinen Präsidenten Roosevelt.

Auch der war aufgebracht: »Ich will nicht, daß sie verhungern, aber wenn sie zum Beispiel Nahrung brauchen, dann sollen sie dreimal täglich mit Suppe aus der Feldküche versorgt werden. Sie werden ihr Leben lang daran denken.« Schließlich habe die ganze Nation an einer ungesetzlichen Verschwörung gegen die Regeln der modernen Zivilisation teilgenommen. Gelegentlich denkt man, die Welt werde von Idioten regiert.

Morgenthau ließ nicht locker. Die ganze SS-Gesellschaft müsse man aus Deutschland wegschaffen, in irgendeine andere Ecke der Erde. »Sie einfach körperlich wegschaffen. Und es macht mir gar nichts aus, diesen Vorschlag genauso unbarmherzig zu formulieren, wie seine Ausführung notwendig ist.«

Offensichtlich hatte der Führer hier einen guten Gefolgsmann verpaßt. Morgenthau will die Kohlengruben, Eisenwerke und chemischen Werke im Ruhrgebiet sämtlich stillegen. Ein Konferenzteilnehmer äußert, die Feldküchen würden zur Verpflegung von 15 Millionen Menschen einfach nicht ausreichen. Morgenthau: »Um die Bevölkerung werden wir uns erst in zweiter Linie Sorgen machen.« Und noch einmal: »Ich kümmere mich nicht darum, was aus der Bevölkerung des Ruhrgebietes wird.« Seinen Präsidenten hatte er schon so weit gebracht, daß er ausrufen konnte: »Er ist soweit, er ist soweit, er ist soweit.«

Winston Churchill unterschrieb mit dem Präsidenten in Quebec, man werde aus Deutschland »a country primarily agricultural and pastoral in its character«, ein Land von im wesentlichen landwirtschaftlichem und Weidecharakter machen. Morgenthau jubelte: »Der Höhepunkt meiner ganzen Laufbahn.«

Doch gab es auch Leute, die meinten, Churchills Unterschrift sei mit der Zusage eines Sechs-Milliarden-Dollar-Kredits an England erkauft worden, demgemäß nicht viel wert. Jedenfalls log der Präsident, wie des öfteren, indem er behauptete, es gebe innerhalb der US-Regierung keine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Behandlung Deutschlands nach dem Kriege. Außen-, Kriegs- und Finanzminister hätten voll zugestimmt.

Dies war, wie gesagt, gelogen. Kriegsminister Stimson, nicht gerade eine Taube, war und blieb strikt dagegen. Als Morgenthau den Generalstabschef General Marshal einweihte, sagte dieser: _____« Wir haben Lautsprecher vor den deutschen Linien » _____« aufgestellt, über die wir die Deutschen auffordern, sich » _____« uns zu ergeben. Wir haben dabei keine Erfolge. Jetzt weiß » _____« ich auch, warum. »

Zwischen 15 bis 30 Millionen Menschen im Dienste des Weltfriedens auszuhungern, dafür hatte er kein Verständnis. Als Morgenthau behauptete, die Initiative sei entweder aus dem Kriegsministerium oder aus dem Außenministerium gekommen, fuhr ihn der General hart an: »Sprechen Sie etwa von meinem Minister?«

Gromyko, damals Sowjetbotschafter in Washington, behauptete, nichts Amtliches zu wissen. Aber er nehme doch an, man stehe dem, was Morgenthau-Plan genannt werde, sehr nahe oder noch näher. Reparationen freilich wollte er auch.

Bereits am 29. September 1944 war soviel von Morgenthaus Plänen durchgesickert, daß der Präsident, besorgt um seine Wiederwahl, seine Unterschrift zurückzog, vierzehn Tage nachdem er sie geleistet hatte. Und der kluge Churchill bekam seinen Kredit erst recht. _(Damit man nicht glaubt, Hitler habe den ) _(Wahnsinn für sich allein gepachtet, sei ) _(auf das 1941 erschienene Buch des ) _(Präsidenten der amerikanischen ) _(Friedensgesellschaft, Theodore Nathan ) _(Kaufman, verwiesen, der die gesamte ) _(deutsche Bevölkerung für immer vom ) _(Erdboden verschwinden lassen wollte, und ) _(zwar durch totale Zwangssterilisation. ) _(Damals wußte man noch nichts von Hitlers ) _(Gaskammern. )

Es scheint wohl so, daß General Marshal die Wirkung des Morgenthau-Planes nicht ganz richtig eingeschätzt hat. Die meisten Deutschen nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis oder glaubten einfach nicht an diesen Unfug. Wenn sich so wenige Überläufer bei seinen Truppen meldeten, so mag das daran gelegen haben, daß sich sehr schnell herumsprach, wie wenig die Gefangenenlager den Lockungen des gedruckten Papiers entsprachen.

Auch von Bomber-Harris wird man nicht sagen können, daß er den Krieg nennenswert verlängert hat. Er hat ihn nur nicht verkürzt, weil Menschen, die derart zertrampelt werden, ihre Energien aufs Überleben richten und notgedrungen eine Solidarität an den Tag legen, die ihnen sonst fremd bliebe. Es gab wegen Harris nicht mehr Nazis und Nicht-Nazis, sondern nur noch Gebombte.

Der Mensch in sich und als solcher ist ein Kriegsverbrecher, und nicht nur Hitler, nicht nur Stalin, nicht nur die Deutschen und nicht nur die Russen. Wer das begreift, darf auf Frieden hoffen, immer einen relativen Frieden.

Hitlers Bismarck-Reich brach zusammen, weil es schon im Moment seines Entstehens die anachronistischen Züge eines militärischen Gewaltstaates hatte, wo Personen, von Kanzler und Kaiser angefangen, eine so unvergleichlich viel größere Rolle gespielt haben als Institutionen (dies die Theorie von Nicolaus Sombart). Das Bismarck-Reich hatte keine Verfassung, die geeignet gewesen wäre, eine kontinuierliche und den Umständen sich anpassende Entwicklung zu ermöglichen.

Man kann nicht gleichzeitig das Ziel verfolgen, das Deutsche Reich dürfe niemals

»auf die schiefe Ebene zur Republik geraten«, wie Bismarck und der junge Kaiser und dessen Anti-Bismarck-Einflüsterer Philipp Fürst zu Eulenburg - seine Worte - gleichermaßen glaubten, und dennoch, entgegen allen Strömungen der Zeit, einige Jahrhunderte versäumter Beutemacherei in einer Generation nachholen wollen.

So absurd die These von der Kontinuität charakterlicher Fehlentwicklung von Luther über Wallenstein, Friedrich den Großen und Bismarck über Ludendorff bis zu Hitler sein mag: Es ließ sich im Bismarck-Reich für die meisten sehr wohl leben. Das Bismarck-Reich selbst aber war ein Monstrum, nur mit Glück in der Lage, selbst zu überleben. Es hatte Pech, es bekam den Selbstmörder Hitler.

Die Befreiung vom Naziterror zu feiern, das kann nur einem Tölpel eingefallen sein. Wir haben uns nicht selbst befreit, und ein beträchtlicher Teil Europas ist überhaupt nicht befreit worden. Ob man nun ein Konzentrationslager künstlich im Kölner Dom wiederaufbaut, oder ob man den Kölner Dom in ein Konzentrationslager verpflanzt: Uns bleibt immer noch der muntere Scherz unseres gewählten Kanzlers Helmut Kohl auf den Lippen, der freimütig bekennt: »Ich stehe zu unserer deutschen Vergangenheit.«

Das wird die deutsche Vergangenheit recht beruhigen. Die Frage bleibt nur, ob die deutsche Zukunft zu einem solchen Vergangenheitsbewältiger noch stehen kann.

Wie doppelzüngig und verrückt Kriege sein können, läßt sich an folgendem Beispiel dartun: Den 250 000 Soldaten der Heeresgruppe C, der Luftwaffe und der Marine, die am 3. Mai 1945 in die Kriegsgefangenschaft gingen, ließ der englische Feldmarschall Lord Alexander of Tunis, Stellvertreter Eisenhowers in Italien, das folgende würdigende Wort zukommen: »Nicht einmal der offensichtlich bevorstehende Zusammenbruch der das Vaterland verteidigenden Armeen konnte in Italien den deutschen Soldaten verführen, seine soldatischen Pflichten im Stich zu lassen.«

Das waren nun wieder ganz andere Worte, als sie in »Stars and stripes«, der amerikanischen Soldatenzeitschrift, standen: »In jedem deutschen Soldaten steckt ein Hitler.« Sagen wir lieber: In jedem Menschen steckt ein potentieller Kriegsverbrecher.

Ob die Anti-Hitler-Verbündeten weniger Verbrechen begangen hatten als Hitler, steht gar nicht fest. Angefangen mit Menschheitsverbrechen hatte jedenfalls 1928 Stalin. Hitlers Verbrechen richteten sich nicht so sehr gegen die eigenen Volksgenossen wie gegen das Ausland und gegen die zahlenmäßig ungleich stärkeren ausländischen Juden, im Reich waren es 500 000. Er hatte die Bismarck-Macht zur Verfügung, die mit Gewalt zerbrochen werden mußte.

Das Unglück des Zweiten Weltkriegs war, daß man gegen Hitler unbedingt Krieg machen mußte. Die USA gewannen das Unternehmen absolut. Sie könnten dem Gedanken Raum geben, daß sie auch einen dritten, einen atomaren Krieg zu gewinnen hätten.

Die Sowjets nun wiederum haben sich im Krieg überfressen, keine ungefährliche Situation, auch für die USA nicht. Franzosen, Deutsche und Italiener leben materiell besser als vor 1933, vor allem die Deutschen.

Daß Deutschland mit Mauer, Stacheldraht und Flüchtlingsmengen in den bundesrepublikanischen Botschaften der Ostblockstaaten der eigentliche Gewinner des Krieges sei, geteilt und ohne die - gewiß relative - Souveränität Frankreichs und Englands, dem mag man so fröhlich nicht zustimmen. Da kann man mit Alfred Dregger ausnahmsweise einmal einig sein: Laßt sie feiern, weil sie den Krieg gewonnen haben. Wir gucken zu und feiern nicht mit, sowenig wie in der Normandie.

Bismarck, der wenig vom Militär und wenig von Wirtschaft verstand,gab 1887 aus Friedrichsruh folgende Weisung an das Auswärtige Amt:"Der Reichskanzler wünscht, daß die erfolglosen Versuche, einerussische Anleihe aufzulegen, in der ''Kölnischen Zeitung'' besprochenwerden, wobei Gewicht darauf zu legen ist, daß Rußland einVerschwender ist, der einen Vormund braucht - daß nur noch dieGerichtsentscheidung fehlt, um es für unzurechnungsfähig zuerklären. Man soll sagen, Rußland habe seinen Kredit eingebüßt, weiles ein leichtsinniges Leben führt und seine Ausgaben nicht unterKontrolle hat.«Oben: letztes Photo vor der Erschießung 1918;rechts: 4. von links.Damit man nicht glaubt, Hitler habe den Wahnsinn für sich alleingepachtet, sei auf das 1941 erschienene Buch des Präsidenten deramerikanischen Friedensgesellschaft, Theodore Nathan Kaufman,verwiesen, der die gesamte deutsche Bevölkerung für immer vomErdboden verschwinden lassen wollte, und zwar durch totaleZwangssterilisation. Damals wußte man noch nichts von HitlersGaskammern.

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