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„Auf der Platte“

Obdachlos in Sachsen: Not in Dresden und Leipzig nimmt zu

Sichtbare Obdachlosigkeit hat in den vergangenen Jahren auch in der Leipziger Innenstadt zugenommen.

Sichtbare Obdachlosigkeit hat in den vergangenen Jahren auch in der Leipziger Innenstadt zugenommen.

Dresden/Leipzig. „Manche geben sich einfach auf. Wer das dritte Mal eine Räumungsklage erhalten hat, verliert den Optimismus, dass es mit einer Wohnung doch noch klappen könnte“, sagt Michael Schulz. Der 39-Jährige ist Leiter der Wohnungsnotfallhilfe bei der Diakonie in Dresden, einer von drei Anlaufstellen in der Landeshauptstadt. Über seinen Tisch gehen pro Jahr etwa 1000 Fälle, in denen Menschen nicht mal ein Dach über dem Kopf haben. Manche stehen plötzlich einfach ohne Wohnung da, weil zum Beispiel langjährige Partnerschaften zerbrechen. Andere reagieren zu spät, wenn der Vermieter nach der Kündigung die Zwangsräumung folgen lässt. Immer häufiger hat Schulz aber auch Klienten, die schon länger in Abrisshäusern oder Parkanlagen schlafen – weil sie trotz Verkettung widriger Umstände den Weg ins Hilfesystem nicht gefunden haben. „Seit wir verstärkt aufsuchend arbeiten, mehren sich Fälle, die vorher schon Platte gemacht haben“, sagt er. „Platte machen“ – so heißt im Milieu das Schlafen auf dem Asphalt.

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Sichtbare Obdachlosigkeit kennt man inzwischen auch aus Leipzig. „Die meisten Betroffenen sind Männer zwischen 40 und 50 Jahren und für sie ist die Lage besonders schwierig, wenn neben Wohnungslosigkeit noch weitere Probleme wie psychische oder Suchterkrankungen dazukommen“, sagt Sandy Feldbacher, Redakteurin bei der „Kippe“. Das Straßenmagazin wird von Menschen in Wohnungsnot und in sozialen Schieflagen verkauft. Inzwischen eilt die „Kippe“ von einem Auflagenrekord zum nächsten – der Bedarf bei Betroffenen steigt rapide, 200 Verkäufer gibt es bereits. Lange Zeit sei Obdachlosigkeit in der Messestadt eher nur ein Randthema gewesen. „Durch den Zuzug in den vergangenen Jahren, auch aus dem europäischen Ausland, und der zunehmenden Knappheit von günstigem Wohnraum, hat sich das aber geändert“, sagt Feldbacher.

Michael Schulz  und Viola Vogler von der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie in Dresden

Michael Schulz und Viola Vogler von der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie in Dresden. (Archivfoto)

Hilfesysteme scheitern an Wohnungsmarkt

Theoretisch müsste kein Bundesbürger obdachlos sein, so sieht es die Sozialgesetzgebung vor. Die Hilfesysteme in den Kommunen sind darauf ausgerichtet, beim Beantragen von Wohngeld und der Organisation einer neuen Bleibe zu helfen. Inzwischen hätten seine Mitarbeiter aber große Probleme, überhaupt noch Unterkünfte für Menschen in Not zu finden, sagt Michael Schulz. 2006 wurden in Dresden fast alle kommunalen Wohnungen verkauft, die Stadt damit auf einen Schlag schuldenfrei. „Das war sicher gut, aber praktisch wurde auch jeglicher Einfluss auf den Wohnungsmarkt abgegeben. Jetzt dominieren börsennotierte Unternehmen die Mieten und dort lächelt man nur milde, wenn es um Sozialverträglichkeit geht“, sagt der Leiter der Wohnungsnotfallhilfe. Gerade in der Kerngruppe der Klienten, die Ein- bis Zweiraumwohnungen benötigten, sei der Markt hart umkämpft. „Die Vermieter haben immer eine Auswahl an Interessenten und entscheiden sich in der Regel für denjenigen mit mehr Einkommen.“

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Am Ende bleibt für die meisten Dresdner Obdachlosen häufig nur ein Platz im Wohnheim – wo Privatsphäre praktisch ausgeschlossen ist. Knapp 342 vorbehaltene Plätze für Menschen in Wohnungsnot gibt es in der Stadt, sagt Sprecherin Anke Hoffmann. 85 Prozent davon sind in Heimen. Im Schnitt werden permanent 300 Plätze belegt, Tendenz steigend. „Zum Teil leben unsere Klienten über Jahre hinweg in Wohnheimen und je länger man dort ist, umso schwerer wird es, wieder herauszukommen“, sagt Schulz. Inzwischen habe Dresden den Malus immerhin erkannt. Im September wurde der Bau von 800 neuen Sozialwohnungen beschlossen – Kostenpunkt mehr als 100 Millionen Euro. Das ist viel Geld, sagt der Sozialarbeiter. „Allerdings werden die 800 Wohnungen wohl nur einen verschwindend geringen Einfluss auf die Gesamtsituation haben.“

Auch in Leipzig zieht der Wohnungsmarkt seit Jahren kräftig an – wachsen überall neue Eigentumswohnungen aus dem Boden, steigt parallel zu den Mieten auch die Zahl von Wohnungsnotfällen. Mehr als 3500 sind es pro Jahr an der Pleiße. Damit sich die Situation nicht weiter verschärft, hat Leipzig ebenfalls ein Investitionsprogramm gegen Wohnungsnot in Angriff genommen. Neben mehr Geld zur Anmietung von Wohnraum für soziale Notfälle geht es dabei auch um Details, wie die Schaffung von Unterkünften, in denen Hunde erlaubt sind. Denn einige Obdachlose schlafen allein deshalb noch auf der Straße, weil sie ihre Tiere dort nicht allein lassen wollen. Auch ein kommunaler Hilfebus ist beschlossene Sache – fehlt aber noch immer. Die Mühlen der Kommunalpolitik malen eben langsam, „aber wir hoffen, dass obdach- und wohnungslose Menschen noch vor Ende des Winters davon profitieren können“, sagt Kippe-Redakteurin Sandy Feldbacher.

EU-Migranten rutschen durchs soziale Netz

Zu den Problemen, die nur mittelfristig gelöst werden können, gehören die Begleiterscheinungen der EU-Freizügigkeit. Nicht nur Europäer mit hoch qualifizierten Fachabschlüssen nehmen die freie Wahl des Arbeitsplatzes für sich in Anspruch, „sondern eben auch Menschen in schwierigen sozialen Situationen, die zur Jobsuche nach Deutschland kommen“, erklärt Feldbacher. Zum Teil springen für jene temporäre Tätigkeiten auf Baustellen heraus, wenn diese aber abgeschlossen sind, fallen die EU-Migranten in ein finanzielles Loch. Und dort gibt es bisher auch keinerlei soziales Netz wie für Bundesbürger.

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„Seit einer Gesetzesänderung 2016 haben EU-Migranten ohne Job fünf Jahre lang keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen. So geraten sie schnell in Notlagen und landen hier auf der Straße.“ Um dem entgegenzuwirken, bedürfe es eines gesamteuropäischen Konzepts, das nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile im Blick habe. Abgewiesen wird natürlich auch jetzt bei den Sozialarbeitern in Dresden und Leipzig niemand. „Eine Notversorgung gibt es immer. Wer einen Schlafsack oder eine Dusche benötigt, der bekommt dies, egal ob er aus Tschechien, Syrien oder Deutschland kommt“, sagt Michael Schulze.

Abseits der beiden sächsischen Metropolen gehört drohende Obdachlosigkeit eher noch zu Randerscheinungen – vor allem, weil der Wohnungsmarkt dort weniger angespannt ist. Bis zu 100 Wohnungsnotfälle gibt es trotzdem jedes Jahr in Görlitz, sagt Sozialamtschef Sebastian Kubasch. Die Anzahl sei seit Jahren aber konstant. Im ersten Schritt könnten Betroffenen meist in Belegwohnungen der Kommune unterkommen, ehe nach Alternativen gesucht wird. In Bautzen war die Nutzung der Notunterkünfte zuletzt sogar rückläufig. Petra Hempel, Abteilungsleiterin Wohnen, macht die gute Präventionsarbeit der örtlichen Beratungsstelle dafür verantwortlich. Allerdings beobachtet sie auch, „dass die Problemlagen vielschichtiger werden. Aktuell sind viele Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 25 und 35 Jahren in Wohnungsnotsituationen, welche die Notunterkünfte nicht nutzen, dafür andere Übernachtungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen.“ Couch-Hopping nennt sie das. Klingt auf jeden Fall besser, als Notunterkunft, taugt aber auch nicht als dauerhafte Lösung.

Einige der Jugendlichen ziehen deshalb vielleicht demnächst in die Großstadt. In Leipzig und Dresden gehören junge Menschen, „die Platte machen“, inzwischen auch zum Straßenbild. „Natürlich ist die Lage bei uns noch nicht so dramatisch, wie in Hamburg, wo 7000 Menschen wohnungs- und obdachlos sind“, sagt Feldbacher. „Aber sie ist durchaus alarmierend.“

Von Matthias Puppe

DNN

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