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Missbrauch im Bistum Münster In der schlimmsten Zeit zwei Sexualstraftaten durch Priester – pro Woche

Eine Missbrauchsstudie aus dem Bistum Münster zählt 610 Betroffene seit Weltkriegsende. Tatsächlich könnten es zehnmal so viele sein, so die Autoren. Die meisten Opfer waren jünger als 14, viele später suizidgefährdet.
St.-Paulus-Dom in Münster

St.-Paulus-Dom in Münster

Foto: Friso Gentsch/ picture alliance / dpa

Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im katholischen Bistum Münster ist einer unabhängigen Studie zufolge deutlich größer als bisher bekannt. Aus den Akten des Bistums ergebe sich eine Zahl von 610 Missbrauchsopfern und 196 beschuldigten Klerikern – über ein Drittel mehr, als in der 2018 präsentierten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz erfasst wurde, teilten Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) am Montag mit.

Die an der Studie beteiligte Historikerin Natalie Powroznik betonte, die 610 Opfer seien nur das Hellfeld, das sich aus den Akten ergebe. Aus vergleichbaren Fällen sei von einem Dunkelfeld auszugehen, das acht- bis zehnmal so groß sei. Man könne also von »etwa 5000 bis 6000 betroffenen Mädchen und Jungen« im Bistum Münster ausgehen.

An den 610 namentlich bekannten Opfern seien mindestens 5700 Einzeltaten sexuellen Missbrauchs verübt worden. In der Hauptphase der Taten – den Sechziger- und Siebzigerjahren – habe es in den Gemeinden des Bistums Münster im Durchschnitt zwei Missbrauchstaten durch Priester pro Woche gegeben. Drei Viertel der Opfer seien Jungen, ein Viertel Mädchen, der Großteil sei zwischen zehn und 14 Jahre alt.

Täter verkauften Missbrauch als »gottgefällige« Handlung

Die Studienautoren berichteten von zum großen Teil massiven Missbrauchstaten mit erheblichen psychischen Folgen für die Opfer bis hin zu Suizidgedanken. Bei 27 der namentlich bekannten Missbrauchsopfer im Bistum Münster seien Hinweise auf Suizidversuche gefunden worden. Powroznik sagte, immer wieder hätten Priester den Missbrauch zu einer »gottgefälligen« Handlung umgedeutet.

Die Betroffeneninitiative »Eckiger Tisch« bezeichnete die Masse der Mehrfachtäter - 40 Prozent der Beschuldigten - als erschreckend. »Hätte die Leitungsebene des Bistums das rechtlich Richtige und das moralisch Gebotene getan und diese Täter aus dem Klerikerstand entfernt, dann wäre vielen Kindern Leid erspart blieben«, sagte Sprecher Matthias Katsch.

Der Münsteraner Bischof Felix Genn will sich am kommenden Freitag zu der Studie äußern. Die Studienautoren werfen dem seit 2009 in Münster als Bischof tätigen Genn Versäumnisse vor. Wenn ein Missbrauchstäter Reue gezeigt habe, sei Genn kirchenrechtlich nicht immer konsequent vorgegangen.

Massive Vorwürfe machen die Forscher dem verstorbenen Bischof Reinhard Lettmann, der immer wieder als pädophil bekannte Priester in der Seelsorge eingesetzt habe.

Die Bischöfe wussten Bescheid

David Rüschenschmidt, Mitautor der Studie, erklärte, die Bischöfe seien über die Vorkommnisse breit informiert gewesen. 145 Belege zeigten, dass Bischöfe persönlich von Straftaten wussten. Dies spiegele aber nicht den realen Kenntnisstand wider – es habe eine ausgesprochene Präferenz für mündliche Absprachen gegeben.

Mehr als zwei Jahre hatten die Historiker der Universität Münster für die Studie geforscht, die heute vorgestellt wurde. Untersucht wurde die Zeit zwischen 1945 und 2020. Einen ersten Zwischenbericht hatte die Gruppe um die Historiker Thomas Großbölting, heute Professor in Hamburg, und Klaus Große Kracht im Dezember 2020 vorgestellt. Sie kündigten an, Namen von verantwortlichen Bischöfen und Personalchefs nennen zu wollen. Die Vorwürfe reichen von anzüglichen Kommentaren bis zu schwerem sexuellen Missbrauch über viele Jahre in der katholischen Kirche.

Die Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster

Die Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster

Foto: Guido Kirchner / dpa

Dabei stehen die drei Bischöfe Joseph Höffner (1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) im Mittelpunkt der Forschung. Mehrere Mitarbeiter an der Bistumsspitze des 2013 verstorbenen Lettmann wurden später Bischöfe in anderen deutschen Diözesen. Darunter der spätere Bischof von Hamburg, Werner Thissen, der in Münster Generalvikar und später Weihbischof war.

Zum Bistum Münster in Nordrhein-Westfalen zählt auch ein Teil des Oldenburger Landes in Niedersachsen. Hier leben in rund 40 Pfarreien rund 265.000 Katholiken.

2018 hatte eine Studie im Auftrag der Bischofskonferenz ergeben, dass zwischen 1946 und 2014 mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 meist männliche Minderjährige missbraucht haben sollen.

ala/AFP