Dreimal Franziskus

2. Oktober 2013


Übermorgen hat er Namenstag, bereits heute erscheinen im Herder-Verlag drei Bücher von und mit Papst Franziskus: 1.) Über die Selbstanklage. Eine Meditation über das Gewissen, ein schmales Bändchen über Dorotheus von Gaza, das es aber in sich hat, 2.) „Und jetzt beginnen wir diesen Weg“. Die ersten Botschaften des Pontifikats, eine Sammlung der ersten Katechesen, Predigten und Ansprachen aus dem März und April dieses denkwürdigen Jahres und 3.) Das Licht des Glaubens. Die Enzyklika „Lumen Fidei“, die in der Herder-Ausgabe „ökumenisch kommentiert“ wird, und zwar von jeweils ranghöchster Stelle: für die Katholische Kirche von Erzbischof Robert Zollitsch als Vorsitzendem der Deutschen Bischofskonferenz, von Nikolaus Schneider, dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Vorsitzenden der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland, Metropolit Augoustinos. In diesen drei Ausgaben zeigt uns der Herder-Verlag Papst Franziskus in unterschiedlichen publizistischen Rollen: als Kommentator und Herausgeber spiritueller Texte, als Redner und Verfasser erster Leitgedanken für sein Pontifikat und als Vollender der Glaubensenzyklika seines Amtsvorgängers Benedikt XVI., mit der dessen Verlautbarungsreihe zu den drei christlichen Tugenden nach Deus caritas est (2006) und Spe Salvi (2007) einen Abschluss findet.

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1. Es kann unterschiedliche Leitmotive geben, an denen man sich bei der Lektüre der drei Franziskus-Bücher orientiert. Sicherlich ist eines die Suche nach der Differenz, dem unterscheidenden Neuen, der Abgrenzung zu seinem Vorgänger, zu Benedikt. Dies mag vor allem für den Text mit dem programmatischen Titel „Und jetzt beginnen wir diesen Weg“ gelten, ein Zitat aus seiner Ansprache nach der Wahl zum Papst, bei der Franziskus schon in kleinen und großen Gesten und Zeichen einen anderen Stil vorgab. Schon die Namenswahl zeigte: Es soll etwas Neues von Rom ausgehen. Als erster Lateinamerikaner und erster Jesuit für Premieren prädestiniert, folgten zahlreiche Protokolländerungen in Richtung Einfachheit, Schlichtheit, Innerlichkeit. Das ist die eine, medial gut ausgeleuchtete Seite.

Auf der anderen Seite zeigen seine ersten Reden ganz deutlich die theologische und ekklesiologische Kontinuität zu seinem Vorgänger, auf den er immer wieder in höchsten Tönen Bezug nimmt und implizit andeutet, das Amt des Petrusnachfolgers in dessen Sinne fortführen zu wollen („Mit großer Zuneigung und tiefer Dankbarkeit denke ich an meinen verehrten Vorgänger Benedikt XVI., der in diesen Jahren seines Pontifikats die Kirche mit seiner Lehre, mit seiner Güte, mit seiner Demut und seiner Sanftmut bereichert und bestärkt hat. […] Wir spüren, dass Benedikt XVI. tief in unseren Herzen eine Flamme entzündet hat. Diese brennt weiter, weil sie von seinem Gebet genährt wird, das die Kirche auf ihrem geistlichen und missionarischen Weg stützen wird.“, Ansprache vor den Kardinälen am 15. März 2013).

In der Morallehre mahnt Franziskus nicht deshalb zu einer anderen Perspektive, welche die Sexualmoral nicht mehr so fokussiert, weil er sie für unwichtig oder gar falsch hielte, sondern, weil er die Weisheit der christlichen Ethik katholischer Prägung auch wieder in anderen Kontexten fruchtbar machen will, etwa in wirtschaftlichen Fragen. Ihm als Lateinamerikaner fällt es da offenbar leichter als dem Papst aus Deutschland, mit dem Aufruf „Vergiss die Armen nicht!“ bei den adressierten Medienvertretern Gehör zu finden (Ansprache am 16. März), die Barmherzigkeit ins Zentrum zu rücken (Predigt und Ansprache am 17. März) und an Güte und Zärtlichkeit zu erinnern (Predigt am 19. März). Das alles gab es bei Benedikt zwar auch, aber bei ihm, so konnte man den Eindruck gewinnen, hörten die Menschen regelmäßig etwas ganz anderes heraus als bei Franziskus.

Der Bonus des Neuen scheint gerechtfertigt, wenn Franziskus nach innen spricht, zu den Hirten, von denen er „Schafsgeruch“ erwartet (Predigt am 28. März), vor allem aber, wenn er selbst den verlorenen Schafen nachgeht, etwa ins Jugendgefängnis „Casal del Marmo“, um den Strafgefangenen an Gründonnerstag die Füße zu waschen und ihnen vom Wert des Dienstes zu predigen. Doch auch hier übernimmt er Benedikts Entweltlichungstopos – und dessen Demut. Die Friedensbotschaften an die Politik (Ansprache in der Audienz für das am Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps am 22. März), die Bereitschaft, sich mit Andersgläubigen darauf zu verständigen, dass es gut ist, dem Absoluten nachzuspüren (Ansprache vor Vertretern verschiedener Kirchen und Religionen am 20. März) und die überzeugende Verkündigung der lebensbejahenden, hoffnungsfrohen Osterbotschaft vom Auferstandenen („Die Kraft der Liebe Gottes überwindet alles“, Video-Botschaft zur Ausstellung des Turiner Grabtuchs am 30. März) – all das ist keine Erfindung des neuen Papstes, sondern liegt ziemlich genau auf der Linie seiner beiden wirkmächtigen Vorgänger.

Erzbischof Zollitsch lobt in seinem Geleitwort den neuen Papst als „Mann der Zeichen und Symbole“ und damit als Verkörperung einer „durch und durch katholischen, einer sakramentalen Denk- und Lebensform“. Dazu passt sein schlichter Gruß an die Gläubigen am Abend seiner Wahl, das Bezahlen von Rechnungen („wie ein ganz normaler Mensch“) und der Umstand, dass er „die Gottesdienstbesucher nach der Messe am Portal persönlich verabschiedet“. Doch mal solle sich nicht täuschen lassen: „Wer aber glaubt, Papst Franziskus habe keine theologische Botschaft, der täuscht sich gewaltig.“ Diese habe er noch im Konklave verkündet – „und diese Rede dürfte nicht unwesentlich zu seiner Wahl beigetragen haben“. Überscheiben könnte man die Ansprache, die Zollitsch kursorisch rekonstruiert, mit zwei Benedikt-Begriffen: Entweltlichung und Neuevangelisierung.

Allein: Die öffentliche Wahrnehmung innerhalb und außerhalb der Kirche sieht nur das Zeichen, nicht aber die Katholizität, die es beinhaltet, sieht nur das Neue, nicht aber die Tradition, in der es steht, rühmt Franziskus – und hat Benedikt längst vergessen. Während die einen fürchten, der Neue auf dem Stuhl Petri zerstöre die Tradition und das Wesen der Kirche, hoffen die anderen genau dies. Beide werden wohl in einigen Jahren enttäuscht sein, denn Franziskus ist kein Revoluzzer, sondern ein echter Nachfolger Benedikts, der in pastoralen Fragen vielleicht etwas offener ist, in lehramtlichen jedoch nur anders rezipiert wird. Wer die ersten Texten liest, merkt schnell: Sowohl die Furcht vor einer drohenden Erschütterung als auch die Vorfreude darauf entbehren einer belastbaren Grundlage. Die eigentliche Überraschung könnte für viele am Ende die sein, dass nicht der Papst die Kirche führt, sondern der Heilige Geist. Und der ist immer derselbe.

2. Wenn es ein Moment gab im letzten halben Jahr, das die Nahtlosigkeit des Übergangs perfekt veranschaulichte, dann die Veröffentlichung der Enzyklika Lumen Fidei am 29. Juni. Sie gilt als Enzyklika Papst Franziskus‘, der Text stammt jedoch zu einem großen Teil von Papst Benedikt XVI. Die schlichte Diktion des Dorfpfarrers, die Franziskus so kirchenvolksnah macht, weicht hier wieder der philosophisch und theologisch durchtränkten Denk- und Schreibweise des unnahbaren Gelehrten, der neben Thomas von Aquin und Augustinus auch Friedrich Nietzsche zitiert. So mag es erscheinen, doch täte man damit dem beachtlichen Versuch Benedikts (und auch den Ergänzungen Franziskus‘) Unrecht, zeigt sich doch darin ein ernstes Bemühen, das schwierige Thema des Glaubens in eine glaubensschwache Zeit hineinzurufen.

Erzbischof Zollitsch finden dazu in seinem Kommentar die richtigen Worte, wenn er die Enzyklika als Bekenntnisschrift charakterisiert, die Gläubige im Glauben bestärken, aber auch Nichtgläubige zum Glauben einladen soll. Sie stehe daher im engen Zusammenhang mit dem „Jahr des Glaubens“ und den Bemühungen um eine „Neuevangelisierung“ und ziele darauf ab, den Menschen zu verdeutlichen, dass der Glaube keine „Fülle von Verboten und Vorschriften“ ist, sondern ein „Weg, das Geheimnis Gottes zu entdecken und mit dem Sinn des eigenen Lebens zu verbinden“. Damit richte sich diese Enzyklika ganz besonders auch an die „Menschen guten Willens“, an „alle, die wissen wollen, wo das Herz des christlichen Glaubens schlägt und was der katholischen Kirche heilig ist“.

Zwei Nichtkatholiken guten Willens kommentieren schließlich das vierhändige Werk kompetent und wohlwollend. Nikolaus Schneider sieht „ökumenische Übereinstimmungen“, so dass dem Tenor von Lumen Fidei „auch evangelische Leserinnen und Leser über weite Strecken zustimmen können“. Differenzen gebe es jedoch „bei der Rolle der Kirche im Verständnis des Glaubens“: Während es der „Anspruch päpstlicher Autorität“ sei, die „Wahrheit des Glaubens“ könne „mit Sicherheit“ nur in der „römisch-katholischen Kirche“ gefunden werden, stehe für die evangelische Theologie allein die Bibel als Orientierung in Glaubensfragen zur Disposition, wobei die Heilige Schrift „stetig“ und „immer neu“ diskursiv erschlossen werden müsse, um zu jener „Glaubens- und Wahrheitsgewissheit“ zu gelangen, für die es, kurz gesagt, im Katholizismus das Lehramt gibt. Das ist ein wesentliches Ergebnis der Reformation, das auch in den letzten 500 Jahren nichts von seiner trennenden Brisanz verloren hat. Das hindert Schneider aber nicht daran, ein positives Fazit zu ziehen: die gemeinschaftsbildende Kraft des Glaubens und die „existentielle und soziale Verantwortung des Glaubenden für eine freie, gerechte und der Schöpfung gegenüber verantwortliche Welt“ könne „von der evangelischen Tradition sehr gut nachvollzogen werden“.

Metropolit Augoustinos, ein Schüler Ratzingers, sieht in Lumen Fidei tatsächlich einen „Brückenschlag des Pontifex Maximus zum Protestantismus“. Aus Sicht des Vorsitzenden der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland sei es auffällig, dass Benedikt / Franziskus „auf die ausführliche Erwähnung der Heiligen“ verzichtet und „eine diskrete Rücksichtnahme auf die Kirchen der Reformation zu erkennen“ gegeben hätten. Die Verfasser verbänden zudem „Licht“ und „Glauben“, was aus orthodoxer Sicht gewöhnungsbedürftig sei (Die „Kombination der Lichtsymbolik mit der Erfahrung des Glaubens [ist] in der griechischen Patristik und im christlichen Osten nicht üblich“.), aber auch nicht als falsch zurückgewiesen werden könne. Dennoch scheint Metropolit Augoustinos enttäuscht zu sein. Die Tatsache, dass „in der Enzyklika das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel gar keine Erwähnung findet“, ist für ihn „überhaupt nicht nachvollziehbar“, ebensowenig das bereits erwähnte Verschweigen der Heiligen, deren Zeugnis „eher hilfreich gewesen“ wäre, „eher“ als der von Benedikt verfolgte „christologische bzw. soteriologische Ansatz“, zumal mit Blick auf die Zielgruppe der Glaubensschwachen: „Hier scheint mir auch eine pädagogische Chance für ein besseres Verständnis seitens des theologisch nicht vorgebildeten oder zweifelnden Lesers verpasst worden zu sein.“

3. Schließlich noch zu der kurzen Schrift über Dorotheus von Gazas Über die Selbstanklage (ein Auszug aus dessen Doctrinae diversae). Nicht nur die von Judith Pauli übersetzte Quelle liegt darin vor, sondern auch ein Begleittext zu dem spätantiken spirituellen Ratgeber, den Franziskus als Erzbischof von Buenos Aires verfasste und der 2005 auf Spanisch erschien. Nun liegt er unter dem Titel Über die Selbstanklage. Eine Meditation über das Gewissen erstmals in deutscher Sprache vor, kenntnisreich eingeleitet von Franziskus‘ Ordensbruder Michael Sievernich.

Der zentrale Begriff der „Selbstanklage“, der die Gewissensspiegelung bestimmt, wird von Sievernich bestimmt als „Element der Selbsterkenntnis“, das „Achtsamkeit für die Seele“ offenbare. Dorotheus von Gaza knüpfe dabei an unsere Erfahrung mit der Anklage Dritter an – und rufe den Menschen auf, diese Schuldzuweisung an sich selbst zu richten. Die Selbstanklage ist ein „geistlich-moralisches Geschehen im inneren Forum des Gewissens“, welches für Dorotheus von „größtem Wert“ sei, „etwas Göttliches“ und zugleich das „natürliche Gesetz“. Das Gewissen ist „allen gegeben und unverlierbar, auch wenn es verschüttet werden kann“; eine Konzeption des Gewissens, die durchaus auf den aktuellen Stand katholischer Gewissenstheorie verweist, wie sie etwa während des Zweiten Vatikanischen Konzils im Rückgriff auf das thomistische Naturrecht erarbeitet wurde.

Sowohl der Quellentext als auch die verständlich und nachvollziehbar geschriebenen Deutungen des „Lesemeisters“ Bergoglio / Franziskus dienen der Gewissenserforschung, ein Akt, der für jeden katholischen Christen zur moralischen Lebensführung gehört – zumal im Rahmen der Vorbereitung auf das Sakrament der Versöhnung, die heilige Beichte. Für die Jesuiten ist es eine tägliche Übung. Insoweit wird der Einfluss Dorotheus von Gazas auf Ignatius von Loyola, den Gründer der Gesellschaft Jesu, verständlich, der mit seinen Geistlichen Übungen ebenfalls die Selbstprüfung des Gewissens anzuleiten beabsichtigte. Mit den einführenden, erläuternden und stellenweise auch thematisch erweiternden und aktualisierenden Anmerkungen des Kardinals und jetzigen Papstes werden diese Techniken der für Ordensleute erdachten Gewissensspiegelung zur Betrachtung und Anwendung für jeden Christen zugänglich – und für die besagten „Menschen guten Willens“ freilich auch. Das ist das besondere Verdienst dieser kommentierten Quellenedition.

Entscheidend ist, dass die Einübung in spirituelle Analysemethoden, die über die „Verschiebung von der Fremdanklage zu Selbstanklage“ hin zur Überwindung von „Misstrauen“, „Verdacht“ und „Schlechtreden über andere“, ja, bis zur „Askese“ führen kann, nicht als „autoplastische Anthropotechnik zur Höherentwicklung der Spezies“ betrieben wird (wenn auch, wie Sievernich bemerkt, „das Christentum die geistige und ethische Entwicklung gefördert hat“), sondern allein „im responsorischen Nachvollzug der Erniedrigung Jesu am Kreuz“. Andernfalls werden „Grund und Ziel“ der Übung verfehlt – zumindest aus christlicher Sicht.

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Der Herder-Verlag leistet mit den drei Büchern zu Franziskus all denen eine wertvolle Orientierungshilfe, die wissen wollen, wie der neue Papst wirklich denkt. Damit können die drei Texte als ein Beitrag zur Einordnung des fliegenden Wechsels gelten, den einige mediale Beobachter vorschnell zu einem epochalen Wandel überhöht haben. Es ist gut, dass diese drei Ausgaben gleichzeitig erscheinen, führen sie doch zu einem abgerundeten Bild Jorge Mario Bergoglios / Papst Franziskus‘, das den neuen Pontifex in seiner tiefen Verwurzelung in der jesuitischen Spiritualität, seiner theologischen Überzeugungskraft, seiner pastoralen Beherztheit und seinem richtungsweisenden Gestus zeigt, als jemanden, der die Einheit von Lehre und Leben anstrebt, als jemanden, dem es in seinem Amt nicht um Effekte geht, sondern um Zeichen, und in der Kirche nicht um die Struktur, sondern um den Dienst an Gott und den Menschen, kurz: als echten katholischen Christen.

Bibliographische Daten:

Papst Franziskus: „Und jetzt beginnen wir diesen Weg“. Die ersten Botschaften des Pontifikats.
Freiburg i. Br.: Herder (2013)
128 Seiten, € 12,00
ISBN 978-3-451-33455-9

Papst Franziskus: Das Licht des Glaubens. Die Enzyklika „Lumen Fidei“
Freiburg i. Br.: Herder (2013)
176 Seiten, € 10,00
ISBN 978-3-451-33451-1

Jorge Mario Bergoglio / Papst Franziskus: Über die Selbstanklage. Eine Meditation über das Gewissen.
Freiburg i. Br.: Herder (2013)
80 Seiten, € 12,00
ISBN 978-3-451-33457-3

(Josef Bordat)

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