Mit Anselm Grün die Bibel weichspülen

Der Benediktinerpater Anselm Grün will in seinem neuen Buch «schwierige Bibelstellen» erschliessen. «Pseudopsychologischer Unsinn», urteilt der Professor für das Alte Testament an der Theologischen Fakultät in Zürich, Thomas Krüger. Eine Buchkritik.

(Bild: Screenshot youtube.com)

Die Bibel ist voll von Passagen, die schwer verständlich sind. Sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament gibt es «dunkle» Stellen, die heutigen Leserinnen und Lesern Rätsel aufgeben, sie ärgern oder ihnen Angst machen. Einige solcher Stellen will Anselm Grün in seinem Buch «Schwierige Bibel- stellen spirituell erschlossen» auslegen. Dazu schreibt er: «Ich möchte mir die Bibelstellen nicht zurechtbiegen, so dass sie in meine Theologie passen. Ich möchte vielmehr mit ihnen ringen, so lange, bis ich sie verstehe.»

«Verstehen» hat nach Anselm Grün «nicht nur mit dem Text zu tun, der mir gegenübersteht. Es hat auch mit mir zu tun: Nur wer sein eigenes Leben versteht, nur wer die Texte, die er liest, versteht, nur wer letztlich sein Dasein versteht, kann zu sich stehen.»

Sei dein eigener Freund

Einen Bibeltext zu verstehen heisst für Anselm Grün immer auch, ihm zuzustimmen. Dafür ist es seiner Meinung nach wichtig, sich selbst zuzustimmen: «Solange du dein eigener Feind bist, ist auch das Wort Gottes dein Feind. Sei dein eigener Freund, dann ist auch das Wort Gottes mit dir im Einklang.»

Wie das funktioniert, zeigt etwa Anselm Grüns Auslegung von Matthäus 5,29–30. Da fordert Jesus dazu auf, sich lieber sein rechtes Auge auszureissen oder seine rechte Hand abzuhacken, als sich von ihnen zur Sünde verführen zu lassen und in die Hölle zu fahren. Dazu meint Anselm Grün: «Jesus ist Jude. Und für die Juden war es absolut verboten, sich selbst zu verstümmeln. Jesus hat also sicher nicht zur Selbstverstümmelung aufgerufen.»

Vielmehr verhalte es sich so: Das rechte Auge sei das Auge, das alles beurteilt, das vereinnahmt, das gierig ist, das den andern fixiert und besitzen möchte. Wenn wir nur mit dem rechten Auge sähen, gerieten wir in die Hölle unserer Gier. Diese rechte, männliche, gierige Seite müsse zurückgenommen werden, damit das linke Auge in uns zum Zug komme. Das linke Auge bewerte nicht, es schaue an und lasse den anderen sein, wie er ist.

Pseudopsychologischer Unsinn

Mit solchem pseudopsychologischen Unsinn werden die provokativen, aber auch zur Kritik herausfordernden Worte, die Matthäus Jesus in den Mund gelegt hat, «spirituell» weichgespült und in Übereinstimmung gebracht mit dem, was sich Anselm Grün über Gott, die Welt und den Menschen zurechtgelegt hat. Auch wenn das nicht seine Absicht sein mag: Bei diesem «Ringen» mit der Bibel hat die Bibel kaum eine Chance, etwas Eigenes zu sagen. Meist wird sie gnadenlos «spirituell» niedergerungen. An die theologischen (und auch spirituellen!) Einsichten, die eine sorgfältige historisch-kritische Auslegung der Bibel freisetzen kann, reichen Anselm Grüns «spirituelle Erschliessungen» nicht von ferne heran.


Anselm Grün: Schwierige Bibelstellen spirituell erschlossen. Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau 2014. 160 Seiten, Fr. 21.90.


Diese Buchbesprechung erschien erstmals in der Reformierten Presse vom 10. Juli 2015.