Ausgabe Juni 2001

Die Geschichte nicht instrumentalisieren. Positionspapier des Parteivorstandes der PDS vom 6. Mai 2001 (Wortlaut)

1. Die Auseinandersetzungen aus Anlass des 55. Jahrestages der Vereinigung von KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone haben noch einmal die Tragik der Geschichte der sozialistischen Bewegung im 20. Jahrhundert ins Bewusstsein gerufen.

Das Versagen der deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale am Vorabend und Beginn des I. Weltkrieges, ihre Unfähigkeit, mehrheitlich eine antiimperialistische und antinationalistische Position zu beziehen und sich als Gegenmacht gegen Krieg und Unterdrückung zu bewähren, hat die organisatorische und geistige Spaltung der Linken in Europa herbeigeführt. Die Ermordung Rosa Luxemburgs und anderer demokratischer linkssozialistischer Führer und schließlich deren Verdrängung im Maße der Bolschewisierung der neuen Kommunistischen Parteien bzw. ihre Liquidierung durch die stalinisierte Komintern der dreißiger Jahre sowie die These von der Sozialdemokratie als Sozialfaschismus haben den unheilvollen Gegensatz zwischen SPD und KPD verfestigt. Auch in den Zeiten des Widerstandes gegen den deutschen Nationalsozialismus konnte er nicht überwunden werden.

Die Vereinigung von KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone war einerseits der ernst gemeinte Versuch vieler überzeugter Sozialdemokraten und Kommunisten, durch diese Vereinigung die Ursachen der Niederlagen von 1914, 1918 und 1933 zu überwinden. Andererseits war es von Seiten entscheidender Funktionäre der KPD und der Stalinschen Führung in der Sowjetunion ein Schritt, um die Sozialdemokratie zu instrumentalisieren, sie sich unterzuordnen und letztlich als eigenständige Kraft zu beseitigen. Dazu wurde auch zu Betrug, Repression, Verfolgung und politischer Gewalt gegriffen. Nach 1948 setzte sich diese Tendenz durch. Die Geschichte der SED ist eine Geschichte der Verdrängung, Unterdrückung und letztlich der Beseitigung des sozialdemokratischen Erbes. Spätestens seit den siebziger Jahren verstand sich die SED selbst als rein kommunistische Partei.

Die Tragödie der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung ist Teil der Tragödie des 20. Jahrhunderts. Sie wirkt bis heute nach und erschwert politische Kooperation. Es muss der Ursachen erinnert werden, es muss der Opfer gedacht werden, es müssen die Verantwortlichen klar benannt werden. Politische Organisationen haben die Pflicht, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Dazu gehört auch das Bekenntnis zur eigenen Verantwortung. Entschuldigungen gegenüber den von Repression Betroffenen sind ein Zeichen dafür. Sie sind keine Demutsgesten, sondern ein Ausdruck von kritischem Selbstbewusstsein.

2. Die Vereinigung von KPD und SPD war historisch legitim und bedarf als solcher keiner Entschuldigung. Nicht die Vereinigung, sondern die Art und Weise der Vereinigung beider Parteien und vor allem die spätere Vereinheitlichung, die das sozialdemokratische Element unterdrückte, aber auch kritische Kommunisten, ehemalige Mitglieder der KPDO, der SAP oder des Leninbundes sowie Westemigranten betraf, muss Gegenstand unserer historischen Kritik sein. Dadurch waren frühzeitig Strukturen der SED entstanden, die nicht nur das Scheitern der Einheitspartei, sondern auch das Scheitern der DDR mitverursacht haben. Unser Respekt vor den Generationen des Aufbaus und der Gestaltung der DDR gebietet es, diese historischen Zusammenhänge nicht zu verdrängen. Ihrer Lebensleistungen werden wir nur gerecht, wenn wir die Bedingungen betrachten, unter denen sie handeln mussten und unter denen sie – trotz aufopferungsvollem gemeinsamen Engagement von SED-Mitgliedern und anderen DDR-Bürgern für ihren Staat – das Ende der DDR nicht abwenden konnten.

Wenn wir heute an die unglaubliche Selbstbeschneidung und den Verlust der kreativen politischen Potentiale denken, die dem Sozialismus in der DDR verloren gegangen sind, dann haben wir vor allem der betroffenen Menschen und ihrer Schicksale zu gedenken, darunter vieler ehemals sozialdemokratischer Mitglieder der SED: „Durch Flucht, Austritt, Ausschluss und Haft war bis Anfang der 50er Jahre die Mehrzahl der Sozialdemokraten aus der Gründerzeit wieder ausgeschieden. (...) Seit 1948 waren zirka 5 000 ehemalige Sozialdemokraten, vor allem als Schumacher-Agenten beschuldigt, durch sowjetische Militärtribunale bzw. DDR-Gerichte zu hohen Strafen verurteilt worden; von ihnen verstarben rund 400 in sowjetischen Zwangsarbeitslagern und Zuchthäusern der DDR.“ (Wilfriede Otto, ND vom 21./22.4.2001)

3. Die Debatten zum Jahrestag der Vereinigung von KPD und SPD haben gezeigt, dass innerhalb und außerhalb der PDS unsere Gründungsdokumente, vor allem das Referat von Michael Schumann auf dem Sonderparteitag 1989, aber auch die Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand aus dem Jahre 1996 nicht hinreichend bekannt sind. Vor diesem Hintergrund fällt es um so leichter, die Auseinandersetzung mit der Geschichte von verschiedener Seite zu instrumentalisieren.

Mit dem notorischen Hinweis auf die vermeintlich mangelnde Auseinandersetzung der PDS mit ihrer Geschichte versuchen die etablierten Parteien die gewonnene Politikfähigkeit der PDS zu schwächen. Dies gelingt ihnen immer weniger.

Wir haben und werden uns für die Vereinigung von KPD und SPD, für die Gründung der DDR nicht entschuldigen. Wir haben und werden aber aus Anlass von Gedenktagen jene um Verzeihung bitten, die unter SED und DDR gelitten haben. Uns selbst werden wir jedoch das Scheitern von Einheitspartei und DDR niemals verzeihen.

4. Die Absage an die gescheiterte Idee der Einheitspartei und das Bekenntnis zur Pluralität der Linken schafft überhaupt erst die Voraussetzung für eine dauerhafte, eigenständige Existenz der PDS als der demokratisch-sozialistischen Partei links der SPD in Deutschland.

Wir halten alle Spekulationen über eine die Differenz verwischende Annäherung oder gar Vereinigung von SPD und PDS für abwegig. Wir brauchen ein politisches Verhältnis zur SPD und zur rot-grünen Bundesregierung. Um gestärkt aus den Bundestagswahlen 2002 hervorgehen und damit die politische Achse in Deutschland nach links verschieben zu können, müssen wir unsere bundespolitischen Alternativen formulieren. Hierfür benötigt die PDS programmatisch und politisch strategische Autonomie. Mit dem vorgelegten Programmentwurf und der begonnenen Debatte schärfen wir unser sozialistisches Profil, mit dem zu erarbeitenden Wahlprogramm werden wir unsere Eigenständigkeit im Bundestagswahlkampf beweisen.

 

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