Der Bankrott eines Systems

Ohne Krieg, sondern in aller Stille löste sich vor 25 Jahren die UdSSR auf. Die Sowjetnostalgie ist allerdings bis heute nicht verschwunden, und der Kreml trauert dem verlorenen Grossmachtstatus nach.

Ulrich M. Schmid
Drucken
Der letzte Akt des Dramas: In einer Fernsehrede erklärt Gorbatschow am 25. Dezember 1991 seinen Rücktritt. (Bild: Sergei Kharpukhin / AP)

Der letzte Akt des Dramas: In einer Fernsehrede erklärt Gorbatschow am 25. Dezember 1991 seinen Rücktritt. (Bild: Sergei Kharpukhin / AP)

Im letzten Jahr der Sowjetunion wurde es im Moskauer Kreml eng. Zwischen dem Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, und jenem der russischen Teilrepublik, Boris Jelzin, gab es ein Gerangel um die Büros, von denen aus die Geschicke des Landes gelenkt werden sollten. Zwölf Wochen lang residierten die Präsidenten von zwei Staatsgebilden gemeinsam im Kreml und stritten sich über Kompetenzen, Hoheitszeichen und das diplomatische Protokoll. Zuletzt überstürzten sich die Ereignisse. Am 12. Dezember 1991 erklärte das Parlament der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik den Unionsvertrag für ungültig. Am 25. Dezember trat Gorbatschow zurück (NZZ v. 27.12.1991, PDF), die sowjetische Flagge wurde eingeholt und stattdessen die russische Trikolore gehisst.

Später bekannte Gorbatschow, er habe seinen Rücktrittsentscheid einsam gefällt, weil weder die Intellektuellen noch die Bevölkerung sich für das Weiterbestehen der Sowjetunion engagiert hätten. Trotz dieser Passivität ist bei den Russen eine gewisse Nostalgie weit verbreitet: In einer Umfrage aus dem Jahr 1992 bedauerten zwei Drittel der Befragten den Zerfall der Sowjetunion, heute sind es immerhin noch 56 Prozent.

Gorbatschows Illusion

1991 lag das sowjetische Projekt zerstört am Boden. («Abschied von Lenins letztem Erben», NZZ v. 21.12.1991, PDF) Alle lichten Zukunftserwartungen hatten sich in nichts aufgelöst. Noch 1961 hatte Nikita Chruschtschow auf dem 22. Parteikongress vollmundig erklärt, dass man in zwanzig Jahren den Kommunismus erreicht haben werde. Als sich dann abzeichnete, dass der sozialistische Aufbau doch nicht so schnell abgeschlossen sein würde, erliess Leonid Breschnew 1977 eine neue Verfassung, die als neue Geschichtsepoche den «reifen Sozialismus» einführte. Problematisch war natürlich für die Sowjetführung die marxistische Erwartung, dass im Kommunismus der Staat «abwelken» würde. Das hätte die Selbstabschaffung des sowjetischen Machtapparats bedeutet. Deshalb richtete sich die Gesellschaft in einem zeitlosen Schwebezustand zwischen tristem Alltagsdasein und ideologischer Selbstbeweihräucherung ein.

Als Michail Gorbatschow 1985 an die Macht kam, schien ein neuer Wind zu wehen. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei startete ein umfangreiches Reformprogramm, das die marode Sowjetwirtschaft durch marktwirtschaftliche Elemente reanimieren sollte. Allerdings gab sich Gorbatschow einer fatalen Illusion hin: Er glaubte, dass die Bürger der Sowjetunion bei nachlassender Repression aus freien Stücken den Sozialismus als überlegene Gesellschaftsordnung anerkennen würden. Das Gegenteil war der Fall: Durch die siebzig Jahre staatlicher Misswirtschaft waren die Bürger bereits an die Mechanismen des Schwarzmarkts gewöhnt. Als die Kontrolle nachliess, öffnete sich ein einzigartiges Fenster: In kürzester Zeit konnte man reich werden, wenn man die noch bestehenden staatlichen Regulierungen geschickt ausnutzte.

Die Mechanismen waren im Grossen und im Kleinen dieselben: So konnte man 1990 auf der Strasse kaputte Glühbirnen kaufen. Der Sinn dieses auf den ersten Blick absurden Angebots erschliesst sich erst im Kontext der Planwirtschaft. Die kaputte Glühbirne konnte am Arbeitsplatz heimlich gegen eine funktionierende ausgetauscht werden. Mit solchen Praktiken hatte sich die erträumte kommunistische Aufhebung des kapitalistischen Eigennutzes in ihr Gegenteil pervertiert, Gemeinschaftsgüter wurden schamlos geplündert.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion («Sowjetunion - Ende einer Epoche?», NZZ v. 28.12.1991, PDF) wechselten staatliche Immobilien, Industriewerke oder die Fluggesellschaft Aeroflot den Besitzer, indem Gewinne privatisiert und Verluste vergesellschaftet wurden. Jegor Gaidar war zu Beginn der neunziger Jahre einer der wichtigsten Architekten der kapitalistischen Schocktherapie. Er erblickte den massgeblichsten Grund für den Zerfall der Sowjetunion in der Unfähigkeit des Systems, eine effiziente Agrarpolitik zu betreiben. Während der gesamten Sowjetzeit war das Land gezwungen gewesen, Getreide zu importieren, obwohl Südrussland und die Ukraine über die fruchtbarsten Ackerflächen Europas verfügen. Entsprechend abhängig war die Sowjetunion vom Export von Rohstoffen. Das allgemeine Malaise verschlimmerte sich Ende der achtziger Jahre durch den fallenden Ölpreis. 1989 wies die sowjetische Staatsrechnung ein Rekorddefizit auf.

Die Sowjetunion scheiterte aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Ebenso krisenanfällig war die komplexe Nationalitätenpolitik. Der Sowjetföderalismus sollte in Lenins Plan sicherstellen, dass die einzelnen Nationen sich innerhalb der Sowjetunion frei entfalten können. Alle drei Verfassungen der UdSSR aus den Jahren 1924, 1936 und 1977 gaben deshalb den Teilrepubliken formell das Recht, die Union zu verlassen. Die marxistisch-leninistische Theorie ging davon aus, dass die nationalen Unterschiede sich allenfalls noch in der Kultur der Völker niederschlagen würden. Daneben versuchte man einen Sowjetpatriotismus zu propagieren, der gerade nicht auf nationalen oder ethnischen Merkmalen beruhte, sondern auf einer sozialistischen Identität.

Als die Zentralmacht unter Gorbatschow ihren Griff auf die sowjetische Peripherie lockerte, zeigten sich überall unbewältigte Nationalitätenkonflikte. Am 9. April 1989 wurde in Tbilissi eine georgische Demonstration gegen den abchasischen Separatismus gewaltsam aufgelöst, zwanzig Personen verloren dabei ihr Leben. In den baltischen Staaten galt die Sowjetherrschaft seit 1944 als russische Besatzung. Im Frühjahr 1990 verstärkten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeitsbestrebungen und unterminierten damit die Autorität der Sowjetunion. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Nagorni Karabach eskalierte, auf beiden Seiten kam es zu Pogromen. In der Moldau forderten die Gagausen und die Russen mehr Autonomie. Die Ukraine führte am 1. Dezember 1991 ein Referendum über die Unabhängigkeitserklärung durch. Es wurde mit 92 Prozent angenommen, der Donbass stimmte mit 83 Prozent zu, selbst auf der Krim wurden noch 54 Prozent Ja-Stimmen erreicht.

Häufung von Hiobsbotschaften

Eine Plenarsitzung des Zentralkomitees der Partei hatte zwar 1989 noch versucht, dem Grundsatz Nachachtung zu verschaffen, dass es «ohne eine starke Union auch keine starken Republiken» gebe. Die meisten Teilrepubliken hegten aber nach dem Augustputsch 1991 keinen Wunsch mehr, in einer zentralistisch geführten Sowjetunion zu verbleiben. Eine wichtige Ausnahme war Tadschikistan, wo die Pax sovietica als wirksames Disziplinierungsinstrument gegen gewaltbereite Clans geschätzt wurde. Kaum waren die sowjetischen Machtstrukturen verschwunden, versank das Land in einem blutigen Bürgerkrieg.

Der wirtschaftliche und politische Niedergang der Sowjetunion wurde Ende der achtziger Jahre durch eine Reihe von Katastrophen und Unglücksfällen begleitet. An erster Stelle zu nennen ist die Reaktorexplosion von Tschernobyl am 26. April 1986. Fatal waren dabei nicht nur die Fehlmanipulationen der Bedienungsmannschaft, sondern auch die Vertuschungsversuche der Sowjetführung, die am 1. Mai im 80 Kilometer entfernten Kiew noch den Tag der Arbeit in einer grossangelegten Parade feiern liess. Im Dezember 1988 bebte in Armenien die Erde. 25 000 Personen kamen ums Leben, eine Million wurde obdachlos. Der Kreml konnte die Notlage nur mit westlicher Hilfe lindern. Im Juni 1989 gestand die Sowjetführung erstmals ein, dass sich 1957 in einer Atomwaffenfabrik bei Tscheljabinsk eine Explosion ereignet hatte, die weite Teile des umliegenden Gebiets radioaktiv verseuchte. Ebenfalls im Juni 1989 explodierte im Ural eine schlecht gewartete Gaspipeline. 575 Passagiere, unter ihnen viele Kinder, kamen dabei in zwei vorbeifahrenden Fernzügen ums Leben.

Zu diesen tragischen Ereignissen kamen verschiedene schleichende Umweltkatastrophen, die auch unmittelbar die Lebensqualität der Sowjetbürger beeinträchtigten. Immer deutlicher zeigten sich die schlimmen Folgen der Austrocknung des Aralsees, aber auch die Verseuchung des Atomtestgeländes von Semipalatinsk oder der Industriestaub in Norilsk wurden zu Themen in den Medien, die ihre neue Freiheit unter der Glasnost-Politik nutzten. Die Häufung der Hiobsbotschaften signalisierte den Sowjetbürgern den Bankrott des staatlichen Systems in allen Bereichen.

Im heutigen Russland ist die offizielle Erinnerung an die Sowjetunion ambivalent. Oft wird Putins Rede aus dem Jahr 2005 zitiert, in der er den Zusammenbruch der UdSSR als «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnete. Daraus zog man den falschen Schluss, Putin wolle zurück zu sowjetischen Verhältnissen. Bereits 1999 hatte Putin in einem programmatischen Artikel den Kommunismus als gesellschaftspolitische Sackgasse bezeichnet.

Ausschliesslich die imperiale Dimension der Sowjetunion ist für den Kreml interessant – und nicht weniger wichtig sind in dieser Hinsicht das Zarenreich oder neuerdings sogar sein Vorläuferstaat, die Kiewer Rus. Die staatliche Geschichtspolitik betrachtet die Vergangenheit als Ressource, mit der die Legitimität der Regierung gestützt werden kann. So ist etwa Fürst Wladimir, der im Jahr 988 die Kiewer Rus christianisiert hatte, eine wichtige Orientierungsfigur. Unlängst wurde für ihn im Stadtzentrum Moskaus ein Denkmal errichtet. Damit wurde Russlands symbolischer Anspruch auf das älteste ostslawische Staatsgebilde in eine eherne Form gegossen. Auch der autoritär regierende Zar Alexander III. übt eine Vorbildfunktion aus. Sein Leitspruch «Russland hat nur zwei Freunde: die Armee und die Flotte» fasst die Aussenpolitik des Kremls prägnant zusammen.

Angst vor weiterem Zerfall

Aus der Sowjetzeit gibt es dagegen nur wenige Lichtgestalten. Die Staatskultur hält vorsichtig Distanz zu Stalin. Keine Berührungsängste zeigt indes die das System stützende Kommunistische Partei: Nach der demütigenden Niederlage der Nationalelf gegen Wales wurde etwa in einem offiziellen Tweet eine «stalinistische Mobilisierung» des Teams gefordert. In einer gegenwärtigen Moskauer Multimedia-Ausstellung wird für die dreissiger Jahre unter den «interessanten Fakten der Sowjetepoche» die erfolglose Lancierung eines kommunistischen Ketchup oder die Aufnahme von 4000 spanischen Bürgerkriegswaisen erwähnt. Der Stalin-Terror erscheint nur am Rande. Scharf kritisiert wird jedoch Lenin. Putin warf dem Revolutionsführer kürzlich vor, er habe durch die Einführung des Sowjetföderalismus ein Pulverfass unter die Union gelegt. In dieser Einschätzung spiegelt sich die Angst des Kremls, der Russischen Föderation könnte dasselbe passieren wie der Sowjetunion: der Zerfall.

In der neuen Sicherheitsstrategie, die vor einem Jahr in Kraft getreten ist, bildet die russische Kultur den stärksten Kitt gegen zentrifugale Tendenzen. So wird die junge Generation auf eine «richtige Haltung zur russischen Geschichte» verpflichtet. Unter den konservativen Werten, die «das Fundament der russischen Staatlichkeit» bilden, finden sich «der Frieden und die Eintracht zwischen den Nationalitäten», «die kulturelle Einheit der multinationalen Bevölkerung» und der Patriotismus. Zurzeit arbeitet die Duma ein «Gesetz über die russländische Nation» aus. Es steht zu erwarten, dass in diesem Gesetz von einem russischen Kulturkern die Rede sein wird, der das Land zusammenhält.