Zu ihrem ersten öffentlichen Auftritt kommt die neue Fraktionschefin der SPD fast eine Stunde zu spät. Während dutzende Journalisten im Bundestag auf Andrea Nahles warten, beginnen die Spekulationen: Polarisiert die ehemalige Generalsekretärin und aktuelle Arbeitsministerin so sehr, dass sich die Abgeordneten nicht einigen können? Ist der Redebedarf so groß? Gibt es Zoff?

Als Nahles dann statt um zwölf Uhr gegen kurz vor eins vor die Kameras tritt, versichert sie fröhlich: nichts dergleichen. "Ich habe halt so lang geredet." Außerdem, so erzählen es Teilnehmer, habe die Danksagung an ihren Vorgänger Thomas Oppermann viel Zeit eingenommen.

Die erste Fraktionsvorsitzende in 150 Jahren Parteigeschichte

Mit Nahles hat die SPD in ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte nun erstmals eine weibliche Fraktionsvorsitzende. Das ist eine Zäsur für die Partei, genauso wie der Wahlabend am Sonntag. Auf 20,5 Prozentpunkte ist die SPD gefallen. Ist sie noch eine Volkspartei, wenn nur jeder Fünfte sie wählt? Die deutsche Sozialdemokratie ist tief verunsichert. Davon profitiert nun Nahles, die ohne das historisch schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl wohl nicht in die Fraktionsspitze gerückt wäre. Es ist ironisch: Wie auch die CDU muss die SPD erst in eine existenzielle Krise geraten, um eine Frau nach ganz oben zu lassen.

Unterschätzt wird Nahles in der SPD allerdings von niemanden. Keine ist so gut vernetzt wie sie, auch unter den "Jungs", wie sie ihre männlichen Parteikollegen nennt. Ihr Vorbild, sagt Nahles, sei Peter Struck, der bei ihrem Einzug in den Bundestag nach der Bundestagswahl 1998 ihr erster Fraktionsvorsitzender war. Struck habe auch zu rot-grünen Regierungszeiten die eigenständige Rolle des Parlamentarismus stets sehr ernst genommen und "für Disziplin" gesorgt. "Alles Dinge, die Sie später auch mal gerne über mich sagen dürfen."

Wird sie die SPD nach links verschieben?

Ein erster Schritt in Sachen Disziplin ist schon gemacht: Nur 14 der 152 Abgeordneten stimmten bei der Wahl am Mittwoch gegen Nahles – das 90-Prozent-Ergebnis ist gut, wenn man bedenkt, dass vor allem die Konservativen gegen ihre überstürzte Nominierung aufgemuckt hatten. Nahles fällt damit nicht ab gegen die vorherigen SPD-Fraktionschefs, die alle ähnliche Wahlergebnisse hatten.

Nahles, die einstige Linke und heutige Pragmatikerin, soll die SPD nun zur markanten Oppositionspartei machen. Da ist der Fraktionsvorsitz ein prägendes Amt. Wie Nahles ihren Job künftig interpretiert, entscheidet darüber, wie sich die SPD aufstellt. SPD-Chef Martin Schulz hat jedenfalls bereits klargemacht, dass die Partei in Zukunft prägnanter, streitbarer und wahrnehmbarer werden will.

Für Nahles bedeutet das einen Rollenwechsel: Vier Jahre lang war sie Arbeitsministerin in der großen Koalition, hat vertrauensvoll mit der Bundeskanzlerin zusammengearbeitet. Am Mittwoch bat Nahles Angela Merkel um ihre Entlassung – bald wird sie eine von Merkels größten Kritikerinnen werden müssen.

"Die AfD ist nicht unser Hauptgegner"

Nun müsse sie halt "den Schalter umlegen", sagt Nahles. Nachdem sie am Vormittag ein letztes Mal am Regierungstisch Platz genommen habe, fühle sie sich ein bisschen wehmütig, erzählte Nahles den Journalisten: "Aber ab morgen kriegen sie in die Fresse." "Sie", das ist die neue Bundesregierung. Die Neue will vom Start weg jeden Zweifel beseitigen, ob sie der Rolle als streitlustige Oppositionsführerin gewachsen ist.

Doch Straßenslang gefällt nicht jedem: "Verbale Ausfälle", heißt es von Genossen, würden in der aktuellen Lage auch nicht weiterhelfen. Das sei ein typischer und gefährlicher Lapsus der ehemaligen Juso-Chefin gewesen. Nahles weiß selbst, dass sie aufpassen muss, dass ihr nicht wieder das Image der schrillen Nervensäge zufällt, das ihr in den Jahren als Jusos-Vorsitzende und Generalsekretärin unter Sigmar Gabriel immer angehängt wurde.

Auch inhaltlich wird es nicht einfach: Niemand in der SPD, das sagen viele Genossen ganz offen, hat derzeit einen genauen Plan, wie man die 20,5-Prozent-Klatsche thematisch auffangen soll. Was will der Wähler denn von uns? Das müsse man jetzt beantworten, sinniert ein führender Genosse auf dem Raucherbalkon im Bundestag. Im Arbeitermilieu, der einstigen Stammwählerschaft, habe die AfD gewildert. Auch darauf muss die SPD eine Antwort finden.

Muss die Partei wieder linker werden? "Ich denke nicht, dass das einfach eine Frage von Richtungen ist, da sucht man sich eine aus, marschiert los und liegt richtig", so Nahles. "Es ist komplizierter." Und doch gibt es nicht wenige in der SPD, die sich endlich eine Gesprächsbasis mit der Linkspartei wünschen würden. Das muss nicht gleich Zusammenarbeit bedeuten: "Es wird kein Oppositionsbündnis geben", sagt ein Abgeordneter. In der Sitzung spricht Nahles so auch erst mal darüber, künftig die Unterschiede zwischen den Volksparteien deutlicher machen zu wollen. "Die AfD ist nicht unser Hauptgegner."