Weil in der Quarantäne alle plötzlich viel Zeit haben, kann man einen aktuellen Text ja auch einmal mit etwas ganz und gar Zeitlosem beginnen: mit Ernst Bloch. Vor knapp 90 Jahren hatte sich der Philosoph mit dem Aufstieg des Faschismus beschäftigt und eine Formel für das Verständnis geschichtlicher Entwicklungen gefunden: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Bloch beschrieb damit das Nebeneinander von gesellschaftlicher Modernisierung und fortlebenden Traditionen, von Fortschritt und Beharrung. "Nicht alle sind im selben Jetzt da", lautet Blochs berühmte Formulierung. "Verschiedene Jahre schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her." Das Gestern ragt in die Gegenwart.

Auch in diesen Tagen hat man hin und wieder das Gefühl, in mindestens zwei Zeiten zu leben. Bloß dass das Jetzt erst vor ungefähr zehn Tagen begonnen hat.

Trotzdem gibt es bereits Momente, in denen man das Gefühl hat, zuschauen zu können, wie die Zeitschichten ineinander krachen. Zum Beispiel am Wochenende: Da wurde diskutiert, was der beste Weg sei, um das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 zu verlangsamen. Manche, wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), befürworteten Ausgangsbeschränkungen, andere, wie der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, waren für eine sogenannte "Kontaktsperre". Grundsätzlich zielen beide Regelungen darauf, dass die Bürger möglichst selten ihr Zuhause verlassen und möglichst wenig Kontakt untereinander haben.

Nur zur Erinnerung: Kein halbwegs zurechnungsfähiger Mensch hätte es noch vor zwei Wochen für möglich gehalten, dass weite Teile des Landes de facto für den Publikumsverkehr gesperrt werden. Dass Großeltern ihre Enkel nicht mehr sehen können und Freunde sich nicht mehr treffen. Und vieles von dem, was gesundheitlich, ökonomisch und politisch auf uns zuzukommen droht, liegt weit außerhalb unser Vorstellungskraft. Es sieht ganz danach aus, dass sich die Welt in einer Situation befindet, in der alle Riesenwörter, die sonst immer ein bisschen albern und alarmistisch klangen, auf einmal eine nüchterne Zustandsbeschreibung sind: Zäsur, Menschheitskrise und so weiter.

Die Gegenwart galoppiert nicht mehr, sie scheint sich zu teleportieren. Doch in ihr existieren zugleich all jene Kategorien, Begriffe und Maßstäbe fort, mit denen man Politik noch vor ein paar Tagen beschrieben hat, nur wirken sie jetzt so, als würde man mitten im Tsunami nach seinem Regenschirm suchen.