Veröffentlicht am 2020-01-27 In Kentenich, Kolumne - Ignacio Serrano del Pozo

Nach dem 31. Mai. Eine Aktualisierung des Denkens von Joseph Kentenich

Interview mit Prof. Ignacio Serrano del Pozo, Herausgeber des Buches  “Después del 31 de mayo. Una actualización del pensamiento de José Kentenich” (Nach dem 31. Mai. Eine Aktualisierung des Denkens von Joseph Kentenich) •

Ignacio Serrano del Pozo, Universität Santo Tomás, Santiago de Chile, Mitglied des Schönstatt-Männerbundes, anerkannter und beliebter Autor auf schoenstatt.org mit Themen zu Pater Kentenich und seiner Mission (Drei Haltungen der Kindlichkeit gegenüber Pater Kentenich;  Die Mission des 31. Mai – mehr als ein Schlagwort: eine Antwort genau für heute Inkarnation, Gemeinschaft in Multiformität, Dezentralisierung in Einheit, Synodalität) hat ein Buch herausgegeben, das man aufschlägt und nicht mehr zumacht, bis man es zu Ende gelesen hat, und dabei handelt es sich keinesfalls um leichte Kost. Es ist ein Buch, das zum Denken anregt, das Denken und Nach-Denken einfordert und versucht, einen Schlüsselmoment der Geschichte und Spiritualität Josef Kentenichs und seines Werkes, Schönstatt, verständlicher zu machen: die Sendung des 31. Mai, eine Aufgabe, „bei der nicht einmal der Gründer Schönstatts selbst viel Erfolg hatte“, wie der Autor sagt. —

Wir hatten das Glück, Ignacio Serrano del Pozo über dieses Buch und seine Bedeutung und Herausforderung in der Zeit von Papst Franziskus und mehr als 50 Jahre nach dem Tod von Joseph Kentenich interviewen zu können.

 

Im Oktober 2019 hat Editorial Patris Chile Ihr Buch Después del 31 de mayo: Una actualización del pensamiento de José Kentenich (Nach dem 31. Mai. Eine Aktualisierung des Denkens von Joseph Kentenich) herausgegeben. Warum dieses Buch über den 31. Mai und warum jetzt?

Zuerst einmal, es ist nicht mein Buch, sondern ich fungiere darin als Herausgeber und als Autor eines Artikels. Das Buch ist eine Sammlung von Werken, die die Mission des 31. Mai besser verstehen wollen. Das ist eine mühsame Aufgabe, bei der nicht einmal der Gründer Schönstatts selbst viel Erfolg hatte. Der 31. Mai wurde in der Kirche nicht verstanden, aber auch nicht im Innern seiner Familie, außer vielleicht von einigen wenigen Jüngern. Wir sind bewegt von der Hoffnung, dass nach 70 Jahren, dank der durch die Zeit gegebenen Distanz und angesichts der neuen kirchlichen und kulturellen Bedingungen, die Angelegenheit besser verstanden werden könnte. Dieser Text erscheint somit im Kontext der Jubiläumsfeierlichkeiten, ein in sich zur Reflexion geeigneter Moment. Zum anderen versucht diese Arbeit aber auch, die Probleme unserer Zeit, beispielsweise die Frage des Feminismus und die Prozesse der Resilienz aus den Kentenich-Kategorien „organisches Denken“ und „mechanistische Mentalität“ zu beleuchten. Joseph Kentenich benutzte diese Begriffe, um deutlich zu machen, wie die Bazillen des Massenbolschewismus und des aufgeklärten Rationalismus die Vitalität des Christentums aufzulösen drohten und es in eine Reihe von abstrakten Ideen, mechanischen Riten und leeren Strukturen verwandelten. Die Frage, die sich uns jetzt stellen sollte, ist, worin heute die Herausforderungen bestehen, die uns anfallen, was unsere „Viren“ sind, um es einmal so zu sagen, um dann zu prüfen, ob sie aus den genialen Intuitionen, die in der Mission des 31. Mai vorzufinden sind, besser diagnostiziert oder überwunden werden können.

Haben Sie den Eindruck, dass die Botschaft von Joseph Kentenich im Laufe der Jahre an Gültigkeit gewinnt oder verliert? Warum eine Aktualisierung?

„Aktualisierung“ entspricht der gleichen Forderung, die der Gründer selbst an die Schönstätter gestellt hat: alle 50 Jahre neu zu gründen, damit sich jede Generation sein geistiges Erbe neu aneignen kann.
Sicherlich kann der Untertitel einer „Aktualisierung des Denkens von Joseph Kentenich“ vermessen klingen. Kentenich ist ein Prophet, der sich auf Fragen bezog, über die erst nach Jahrhunderten entschieden werden kann. Aber die Aktualisierung entspricht der gleichen Forderung, die der Gründer selbst an die Schönstätter gestellt hat: alle 50 Jahre neu zu gründen, damit sich jede Generation sein geistiges Erbe neu aneignen kann. Ein weiteres Bild, das zum Verständnis dieser Aktualisierung beitragen kann, ist das des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Botschaft des Evangeliums erfordert ein Aggiornamento oder eine Aktualisierung, nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihren Akzenten, in ihrer Sprache oder in ihrer Art, sich der Welt zu nähern. Dieses Buch will auch eine Aktualisierung in dieser Richtung sein. Die Texte vom 31. Mai, die es gibt und die in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben wurden, ich denke an das, was P. Rafael Fernández auf Spanisch oder P. Jonathan Niehaus auf Englisch veröffentlicht hat, entsprechen eher dem apologetischen Genre, das der Predigt eigen ist. Auch vieles von dem, was der Gründer Schönstatts zur Erklärung des Ereignisses vom 31. Mai schrieb, gehört zu diesem homiletischen Stil. In diesem Raum geht es nicht darum, die Problematik eines Sachverhaltes darzustellen und zu diskutieren, sondern vielmehr die Tiefe oder die Auswirkungen eines Themas aufzuzeigen, zu dem sich alle mehr oder weniger einig sind. Die Werke in unserem Buch haben dagegen einen akademischen Anspruch, der die Analyse und Diskussion bestimmter Voraussetzungen oder die Prüfung und das Überdenken bestimmter Thesen beinhaltet, auch wenn diese vom Vater und Gründer selbst ausgesprochen wurden. Tatsächlich könnten die Arbeiten aus „Nach dem 31. Mai“  in angesehenen akademischen Zeitschriften der Psychologie, Soziologie, Philosophie oder Theologie veröffentlicht worden sein. Diese Aktualisierung im Stil der Vermittlung der Schönstattbotschaft scheint mir ungeheuer notwendig und keineswegs verwerflich zu sein.

31. Mai Ignacio Serrano

In der Sprache von Marketing: Wäre dieser akademische Anspruch USP (Unique Selling Proposition) oder Alleinstellungsmerkmal des Buches?

Wir haben uns sehr bewusst dagegen gesträubt, vom „Vater“ oder vom „Gründer“ zu sprechen ohne weiteren Zusatz, und zogen es vor, Pater Kentenich oder Gründer Schönstatts zu sagen. Diese Forderung, den Blick zu erweitern, aus dieser etwas „esoterischen“ Position herauszukommen, die in Schönstatt (wie in jeder charismatischen Bewegung) üblich ist, ist ein Alleinstellungsmerkmal.
Im Januar des Jahres 2019 haben wir sehr breit zu Beiträgen aufgerufen, damit verschiedene Personen aus verschiedenen Schönstatt-Gemeinschaften über den 31. Mai schreiben. Die Artikel konnten in Englisch, Spanisch oder Deutsch eingereicht werden. Aber dieser Aufruf verlangte von den Autoren, sich dem akademischen Kanon anzupassen. Das bedeutet keineswegs, dass man in schwierigen Worten sprechen oder sich auf abstrakte Fragen beziehen sollte, im Gegenteil, es bedeutete den Versuch, wissenschaftlich objektiv zu sein, so dass viele, auch Menschen außerhalb Schönstatts (die nicht diese Spiritualität leben, der inneren Geschichte fremd sind oder die interne Sprache nicht beherrschen) die Botschaft verstehen könnten, die mit dem Meilenstein des 31. Mai verbunden ist. Nach einer von einem kleinen Redaktionsausschuss getroffenen Auswahl wurden acht Papiere ausgewählt. Es mag anekdotenhaft erscheinen, aber wir fragen uns sogar, ob wir den Vater und Gründer als José Kentenich (wie allgemein im spanisch-schönstättischen Sprachraum) oder doch besser als Joseph Kentenich bezeichnen sollen. So wie die öffentliche Meinung von Josef Ratzinger oder Karl Marx spricht, und niemand in einem akademischen Werk mit dem Anspruch der Objektivität sie als José oder Carlos bezeichnen würde, dachten wir ursprünglich,  nur Joseph Kentenich zu schreiben, und zwar in seiner originalen Schreibweise. Letztendlich hielten wir nicht an dieser Option fest, aber wir haben uns sehr bewusst dagegen gesträubt, vom „Vater“ oder vom „Gründer“ zu sprechen ohne weiteren Zusatz, und zogen es vor, Pater Kentenich oder Gründer Schönstatts zu sagen. Diese Forderung, den Blick zu erweitern, aus dieser etwas „esoterischen“ Position herauszukommen, die in Schönstatt (wie in jeder charismatischen Bewegung) üblich ist, ist ein Alleinstellungsmerkmal. Darüber hinaus war diese redaktionelle Strategie bewusst auf ein „Schönstatt auf dem Weg nach draußen“ ausgerichtet. Aber das ist noch nicht alles. Die breit angelegte Anforderung von Arbeiten und die Tatsache, dass das Buch nicht die Vision einer Person oder das Projekt eines Einzelnen darstellte, ermöglichte eine weitere Differenzierung. Dieses Werk als Ganzes hat den Reichtum, sich aus verschiedenen Ansätzen zu konstituieren.  Auch wenn das offensichtlich ist, muss man es doch immer wieder sagen: Es gibt keinen offiziellen Interpreten von Joseph Kentenich, wenngleich es auch schon einflussreichere Stimmen gab (ich denke z.B. an P. Alex Menningen oder P. Humberto Anwandter), aber jeder Mensch liest ihn aus seiner Originalität und nach den Zeichen seiner Zeit, und jede Gemeinschaft empfängt seine Worte aus ihren Anliegen und Idealen. Diese „Synodalität“, dieses „gemeinsame Gehen“ spiegelt sich auch in diesem Buch wider. Das Buch enthält zwar ein offizielles Dokument, den Brief des Generalpräsidiums (von 1999) und ein Lexikon von Begriffen, das Lexikon des 31. Mai; diese Texte sollen aber nur einen allgemeinen Rahmen geben. Der Ton ist durch die Vielzahl der mit großer Freiheit geschriebenen Arbeiten gegeben. So ziehen es einige Artikel vor, den eher psychologischen Aspekt der Kategorie der Bindung anzusprechen, andere beziehen sich eher auf das historische Problem, das in dem Konflikt aufgeworfen wurde, den Kentenich mit der Hierarchie der deutschen Kirche hatte.

 

Das Buch entstand in einem Jahr großer Herausforderungen und Krisen in kirchlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht in Chile, aber nicht nur in Chile: Inwiefern sind die Überlegungen Pater Kentenichs von vor 70 Jahren für diese konkrete Zeit aktuell?

Ich muss zugeben, dass das Buch in keinem seiner Artikel die Krise innerhalb der chilenischen Kirche behandelt und auch nicht die soziale Explosion, die am 18. Oktober in Chile begann. Aber es scheint mir, dass dieser Mangel auf etwas zurückzuführen ist, den das Buch selbst zu beheben versucht. Meine Intuition ist, dass die Generationen vor uns, vor allem die Schönstatt-Patres, die Marienschwestern und -brüder, aber auch einige Laien, eine Lektüre Kentenichs als Vater, als Psychologe und Pädagoge bevorzugt haben. Vielleicht ist dies darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die die Verantwortung für die Weitergabe des Gründers übernahmen, direkten Kontakt mit ihm hatten, so dass sie von dieser Facette des „Seelenbildners“ und der Art und Weise, wie er in ihrem Leben Leben geweckt hat, sehr beeindruckt waren. Der Nachteil dieses Ansatzes (was die Sache aber auch interessant macht) ist, dass er dazu geführt hat, dass andere Aspekte von P. Kentenichs Botschaft in den Hintergrund getreten oder sogar gänzlich unerforscht oder sogar unbekannt geblieben sind. Ich denke zum Beispiel an seine Dimension als Geschichtsphilosoph, an seine Sichtweise als Kultursoziologe, aber auch an seine noch nicht entwickelte Theologie des Symbols oder an seine noch nicht weit verbreitete Ehe- und Sexualpastoral. Dieses Buch zeigt, dass eine Annäherung an einige dieser Dimensionen eine ungeheuer produktive Denkschmiede sein kann; zum Beispiel gibt es in Nach dem 31. Mai eine Arbeit, die sich mit dem historischen Denken Pater Kentenichs befasst, und eine weitere zum Phänomen der Säkularisierung im Hinblick auf einen Dialog Kentenichs mit Max Weber und Friedrich Nietzsche.

Was erhoffen Sie sich in Blick auf die Leser dieses Buches? Was sollte es wecken?

Es scheint mir, dass die Auseinandersetzung mit der Kritik grundlegend ist, um frischen Wind in die geistige Welt Schönstatts zu bringen. Es gibt nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit.
Ich muss sagen, dass ich schon zufrieden bin, wenn es gekauft und gelesen wird, das ist  in diesen Zeiten schon viel. Sobald diese erste Phase durchgeführt ist, würde ich mich freuen, wenn das Buch diskutiert werden könnte. Es scheint mir, dass die Auseinandersetzung mit der Kritik grundlegend ist, um frischen Wind in die geistige Welt Schönstatts zu bringen. Es gibt nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit. In einer dritten Phase, um es so zu nennen, würde ich mir sehr wünschen, dass diese Arbeit ähnliche Projekte hervorbringen könnte.

Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir weiterhin die altbekannten Kategorien wiederholen, bald glauben, dass Kentenich keine Antwort gibt und ist und wir so am Ende zum Propheten des Augenblicks gehen. In diesem Sinne träume ich von anderen Studien, die aktuelle Probleme oder Herausforderungen aufgreifen, um von Schönstatt aus zu antworten: Ich denke zum Beispiel an die ökologische Frage aus dem organischen Denken oder an  kirchliche Synodalität und das Prinzip der Dezentralisierung aus den Regierungsgesetzen Kentenichs, um zwei Themen zu nennen, die im Pontifikat von Papst Franziskus präsent sind. Die Gnadentheologie hat seit der vorkonziliaren Zeit große Fortschritte gemacht, aber wir haben sie nicht in unser Verständnis des „Gnadenkapitals“ aufgenommen. Auch die „soziale Frage“ und die Rolle der fordert eine wissenschaftliche Untersuchung. Was können wir von diesem Buch erwarten? Mehr als nur neue Ausgaben, hoffe ich, dass es andere ähnliche Verlagsprojekte inspirieren wird.

ISBN: 978-956-246-918-0

Editorial Nueva Patris, Chile

Jahr der Publikation: 2019

 

In Chile

In den Buchhandlungen der Bewegung und online bei Nueva Patris Chile

Außerhalb Chiles

In den Buchhandlungen der Schönstatt-Bewegung in Argentinien, USA, Costa Rica, Ecuador, Paraguay, Perú. Möglicherweise erscheint das Buch in 2020 auch als E-Book.

 

 

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