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Georg Blume

Deutsche Solidarität Notre-Dame, Europas Chance!

Kein Kirchenbrand der Geschichte hat je eine solche weltweite Aufmerksamkeit erhalten - doch aus Berlin kommen nur dürre Verlautbarungen. Dabei könnte Notre-Dame zum Symbol eines europäischen Neustarts werden.
Notre-Dame: Epizentrum des französischen Zentralismus

Notre-Dame: Epizentrum des französischen Zentralismus

Foto: Christophe Ena / AP

Ein Dachstuhlbrand ist in der Menschheitsgeschichte wahrlich nichts Besonderes. Und doch war der Dachstuhlbrand von Notre-Dame ein Menschheitsereignis ganz neuer, unbekannter Art. Über die Handys der Touristen aus aller Welt, die zu Ostern in Paris weilen, fand der Brand in unendlich vielen, privaten Wohnstuben statt. Präsidenten rund um den Globus kommentierten ihn in Echtzeit, nicht nur Donald Trump. Im Hintergrund stand der Eiffelturm - wer in entlegenen Erdwinkeln die größte Kirche von Paris nicht kennt, kennt doch ihn, das berühmteste Bauwerk der Welt. So wussten fast alle, auch in indischen Dörfern, wo die Katastrophe stattfand.

Und dann diese Symbolik: War es nicht das westliche Abendland, das brannte? Lacht man in China nicht längst über die alte Weltmacht Frankreich als Museum des 21. Jahrhunderts? Kein Wunder, kein Schaden, wenn eine alte Kirche mal brennt, dürften sich die Manager in Shanghais brandgeschützten Wolkenkratzern gesagt haben. Und wer weiß, wer in Berlin noch wusste, was Notre-Dame wirklich wert ist?

Stets das hohe Ziel im Auge

Deshalb war es so wichtig, dass jemand reagierte, und zwar nicht nur die Feuerwehr. Gestern versuchte es Emmanuel Macron. Jetzt weiß die ganze Welt, dass Notre-Dame in fünf Jahren in neuem Glanz erstehen wird, oder die Franzosen machen sich tatsächlich vor aller Welt lächerlich. Und dann wählt auch kein Franzose mehr Macron. Doch genau dieses Risiko einzugehen, während die Experten noch von der Notwendigkeit jahrzehntelanger Renovierungsarbeiten sprachen, zeichnet den französischen Präsidenten nun aus. Er sagte: "Wir sind ein Volk, das aufbaut". Er vertraute seinen Zimmerleuten. Er verlangte, dass "wir aus der Katastrophe eine Gelegenheit machen, besser zu werden als das, was wir sind." Ein hohes Ziel? Eine arrogante Anmaßung gegenüber den Bürgern? Aber wozu dient politische Führung, wenn sie nicht vermag, für alle verständliche, ehrgeizige Ziele zu setzen?

Emmanuel Macron: "Wir sind ein Volk, das aufbaut"

Emmanuel Macron: "Wir sind ein Volk, das aufbaut"

Foto: Yoan Valat / DPA

Macron hat genau das auch für Europa getan. Denn den Untergang Europas, den der Brand von Notre-Dame jetzt zu versinnbildlichen schien, hat er seit seiner Wahl im Frühjahr 2017 vor Augen. Er sagt es auch heute noch bei jeder Gelegenheit: Europa kann nicht so weitermachen, sein soziales Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd ist zu groß, seine Verteidigung zu schwach, seine demokratischen Institutionen zu unvollkommen. Und genau so, wie er jetzt den Franzosen den Neubau von Notre-Dame binnen fünf Jahren vorschlug, bot er Europa vor zwei Jahren, nach seinen Worten, die "Neugründung" an: mit einem Eurozonen-Haushalt für den sozialen Ausgleich, einer gemeinsamen Interventionsarmee und transnationalen Wahllisten zum Europäischen Parlament. Aus Deutschland gab es zu all dem bestenfalls Lippenbekenntnisse.

Ein Symbol für Europa

Wie jetzt nach der Brandkatastrophe: Eine dürre Verlautbarung aus dem Kanzleramt an die "französischen Freunde". Lässt man so ein echtes Verhältnis zu Notre-Dame erkennen, wo Helmut Kohl Tränen um François Mitterrand weinte? Deutsche Bomben zerstörten im Ersten Weltkrieg die Kathedrale von Reims, aber kein Deutscher, außer den Jagdpiloten, konnte zusehen. Solidarität war damals, und im Krieg sowieso, schwer möglich. Wie anders ist das, wenn alle Deutschen heute in Frieden an ihren Bildschirmen dem Flammenmeer über Paris zuschauen? Geht da nicht was?

Fotostrecke

Feuer in Notre-Dame: Der Kampf gegen die Flammen

Foto: FRANCOIS GUILLOT/ AFP

Offenbar nicht. Notre-Dame mag vielen Deutschen fremd sein. Die Kirche bildet den Mittelpunkt von Paris, von dem jede Kilometerentfernung zur Hauptstadt gemessen wird. Sie ist das Epizentrum des französischen Zentralismus. Sie hat alle großen Staatsführern in Frankreich gedient, von Heinrich IV. über Napoleon bis Charles de Gaulle und damit dem Etatismus in Frankreich sein religiöses Zuhause gegeben. Gerade Zentralismus und Etatismus Frankreichs hatte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kürzlich im europäischen Wahlkampf scharf kritisiert. Ist Notre-Dame also gar nicht unsere Kirche?

Doch man musste gegenwartsignorant sein, um beim Anblick der brennenden Kathedrale von Paris nicht die Symbolik für Europa zu erkennen. Was dann bedarf es noch, damit sich in Europa eine politische Führung herausschält? Anders als in Frankreich gibt es gerade in Deutschland aufgrund schlechter Erfahrungen viel Skepsis gegenüber einer offensiven Darstellung von politischer Macht. Bis hin zur Unkenntlichkeit deutscher Politik auf der Weltbühne. Wenn aber gerade die Weltöffentlichkeit zuschaut, weil der Himmel über Paris brennt, darf es diese Unkenntlichkeit auf europäischer Ebene nicht geben.

Im Video: So wurde der Brand im Inneren bekämpft

SPIEGEL ONLINE

Notre-Dame, das ist eines der großen Zentren der Christenheit, das während der französischen Revolution zum "Tempel der Vernunft" ausgerufen und von Walt Disney 200 Jahre später per Trickfilm in die globale Populärkultur eingeführt wurde. Für nichts kann Europa leichter Reklame machen. Nur schafft es Macron nicht allein.