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Warum „Stille Nacht“ wieder gesungen werden darf

Überrascht? In allen originalen Handschriften wie hier einer des Komponisten Franz Xaver Gruber von 1836 hat das Lied „Stille Nacht“ sechs Strophen. Gesungen werden bis heute aber nur drei. Zumindest in Österreich soll sich das jetzt ändern. Überrascht? In allen originalen Handschriften wie hier einer des Komponisten Franz Xaver Gruber von 1836 hat das Lied „Stille Nacht“ sechs Strophen. Gesungen werden bis heute aber nur drei. Zumindest in Österreich soll sich das jetzt ändern.
Überrascht? In allen originalen Handschriften wie hier einer des Komponisten Franz Xaver Gruber von 1836 hat das Lied „Stille Nacht“ sechs Strophen. Gesungen werden bis heute aber ...nur drei. Zumindest in Österreich soll sich das jetzt ändern
Quelle: Stille Nacht Gesellschaft/Tourismusverband Oberndorf
Die katholische Kirche schämte sich lange für das beliebteste Weihnachtslied der Welt – und versteckte es ohne Melodie in ihrem Gesangbuch. Jetzt beugt sie sich dem Geschmack der Gläubigen.

An den Tagen vor Heiligabend packte Pater Norbert ein heiliger Zorn. Es war Ende der 90er-Jahre, als der Autor noch mit sich rang, ob nicht doch vielleicht eine Zukunft als Organist im Schoße der katholischen Kirche etwas glücklich, wenn nicht selig Machendes sein könnte. Pater Norbert unterrichtete damals an der Berufsfachschule für Musik in Altötting im Fach Liturgie. Die Weihnachtstage waren dem Mann in der braunen Kutte dabei ganz besonders wichtig.

Grundlage jeder Lektion war das Gotteslob. Jenes Buch mit Liedern und Gebeten, das die Gläubigen seit 1975 in den katholischen Diözesen des deutschsprachigen Raums benutzten. Eine Seite provozierte den Kapuziner und Musiker immer wieder aufs Neue zu einer Tirade: Seite 219. Unter der Nummer 145 steht dort ein Lied, das wirklich jeder kennt: „Stille Nacht, heilige Nacht.“

„Das ist das einzige eigenständige Lied, das ohne Melodie abgedruckt ist, dahinter steckt eine böse Absicht“, schimpfte Pater Norbert. „Die wollten, dass es das Volk vergisst. Ganz rauswerfen – das haben sie sich nicht getraut, aber die Melodie haben sie gestrichen und die Strophen vertauscht. Es sollte den Leuten vergällt werden.“ Irgendwann werde man den Fehler beheben müssen.

Übrigens hielt Pater Norbert es auch für falsch, dass Frauen nicht zum Priesteramt zugelassen sind. Der nächste Papst werde das ändern, war er sicher. Darin hat er sich freilich im nächsten Papst – Benedikt XVI. – getäuscht.

Vier Millionen neue Gesangbücher

Recht behalten hat er in Bezug auf „Stille Nacht“. Hätte er das Jahr 2013 erlebt, Pater Norbert starb 2000, er hätte sich gefreut. An Heiligabend wird in vielen Kirchen ein neues Gotteslob ausliegen. Zehn Jahre haben rund 100 Frauen und Männer daran gearbeitet, von der Idee bis zum Druck. Seit dem ersten Advent werden die vier Millionen Stück nun an die Gemeinden verteilt. Von 37 Diözesen wurden allerdings erst rund 25 beliefert.

Ein Teil der Auflage war auf zu dünnem Papier gedruckt, Noten und Texte auf der Vorder- und Rückseite schienen einander zu überlagern. Die Neuproduktion dauert an. An Ostern, spätestens im Sommer, soll die Verteilaktion abgeschlossen sein.

Wer schon das neue Buch in Händen hält, dem könnte am Ende der Christmette, wenn das künstliche Licht erlischt und die neue Nummer 249 auf der Liedertafel erscheint, zweierlei auffallen: „Stille Nacht“ hat seine Melodie zurück erhalten. Nach fast 40 Jahren. Auch die Strophen sind getauscht worden. Den Hirten wird Christi Geburt durch der Engel Halleluja nun wieder in der zweiten kundgemacht. In der dritten schlägt den Gläubigen dann die rettende Stund’ und Kinder fragen sich, wer denn der ominöse Owie ist, der da immer lacht.

Viele Lieder waren dem Zeitgeist geopfert worden

Erzbischof Robert Zollitsch mit dem neuen Gotteslob, das in den kommenden Monaten in den katholischen Gemeinden eingeführt wird. Es ersetzt den fast 40 Jahre alten Vorgänger.
Erzbischof Robert Zollitsch mit dem neuen Gotteslob, das in den kommenden Monaten in den katholischen Gemeinden eingeführt wird. Es ersetzt den fast 40 Jahre alten Vorgänger.
Quelle: dpa

Das neue Gotteslob restauriert, ja rehabilitiert das Weihnachtslied. Eine Tat, die sinnbildlich für die gesamte Neufassung steht. „Es ist ein anderer Geist in dem Buch als in dem alten“, sagt Diakon Winfried Vogel, der als Referent für den Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann daran mitgearbeitet hat. Eine gewisse Wissenschaftsgläubigkeit habe in den 70er-Jahren auch dazu geführt, dass gerade die Lieder des 18. und 19. Jahrhunderts in Ungnade gefallen seien.

Lieder etwa, die fast erotisch die Gottesmutter Maria als Geliebte besingen, in denen mächtig viel Süßkram vorkommt. „Diese Haltung hat sich deutlich verändert“, sagt Vogel. Einige Lieder, die für die damaligen Autoren ohne Diskussion dem Zeitgeist geopfert wurden, finden sich im neuen Buch wieder. Darunter das Marienlied „Segne Du Maria“.

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2003 waren einige Tausend Organisten, Chorleiter und Seelsorger befragt worden, welches Lied ihnen im Gotteslob am meisten fehlt. Mit großem Abstand vorn: der vermeintlich kitschige Mariengesang. Nun ist er wieder drin. Ein Beispiel von mehreren. Es zeigt, dass sich die Kirche offenbar leichter tut mit dem, was das Volk liebt.

Protestanten haben Stille Nacht früher rehabilitiert

Auch der Umgang mit Gefühlen – bei „Stille Nacht“ geht es ja wesentlich um Gefühle – habe sich geändert, sagt Winfried Vogel. Er sei weniger von Befangenheit geprägt. „Es gab jedenfalls nie eine Diskussion, das Lied herauszunehmen und es war immer klar, dass Stille Nacht seine Melodie zurückbekommt“, sagt Vogel.

Etwas länger sei diskutiert worden, ob die Strophenfolge wieder geändert werden soll. „Wir haben uns für die Reihenfolge entschieden, die eigentlich die gebräuchliche ist.“ Es ist übrigens die, die auch in der evangelischen Kirche üblich ist. Dort hat man den Liebhabern von „Stille Nacht“ schon vor rund 20 Jahren nachgegeben und es ins Gesangbuch übernommen. Davor war das Lied dort ebenfalls nur in den Eigenteilen der Landeskirchen oder unter der Rubrik „Geistliche Volkslieder“ zu finden. Als wäre Volk und Geist ein Widerspruch.

Der Pragmatismus der katholischen Autoren aber hat zu einem kapitalen Fehler geführt. Denn die „falsche“ Strophenfolge der 70er war eigentlich die „richtige“ und die „richtige“ von heute ist eigentlich die „falsche“. Verwirrt? Kein Wunder. Die Verwirrung herrscht seit mehr als 180 Jahren. Schuld ist wohl Johann Hinrich Wichern, der Gründer der Inneren Mission, die später in der Diakonie aufging.

War die Orgel an allem schuld?

Die Stille-Nacht-Gedächtniskapelle in Oberndorf
Die Stille-Nacht-Gedächtniskapelle in Oberndorf
Quelle: Stille Nacht Gesellschaft/Tourismusverband Oberndorf

Der Ort Oberndorf im Salzburger Land war im Jahre 1818 nicht gerade der Nabel der Welt. Eher das Ende derselben. Die Legende besagt, dass die Orgel in der Dorfkirche St. Nikolaus von Mäusen so sehr malträtiert worden war, dass sie an Heiligabend nur noch ein Röcheln hervorbrachte. „Eine gut erfundene Geschichte“, sagt der Präsident der Stille-Nacht-Gesellschaft, Michael Neureiter. „Wahrscheinlich haben die zwei jungen Leute Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber das Stück einfach für die Aufführung an der Krippe geschaffen, deshalb die schlichte Gitarrenbegleitung.“

Dass das Lied von der Christnacht 1818 den Weg hinaus in alle Welt fand, hatte aber doch mit der Orgel zu tun. Ein gewisser Karl Mauracher aus Fügen im Zillertal wurde nach Oberndorf bestellt, um das offenbar tatsächlich schwächliche Instrument zu reparieren. Dabei muss er das neue Stück gehört haben. Er brachte es mit nach Fügen, wo es die Rainer-Sänger bereits 1819 in der Mette sangen. Auch die Strasser-Sänger nahmen es in ihr Repertoire auf.

Strassers waren viel unterwegs und kamen um 1830 als Handschuhhändler nach Leipzig. Mit Auftritten verdienten sie sich etwas hinzu. Leipzig war zu Beginn der 30er-Jahre auf dem Weg, zur führenden Musikstadt in Deutschland zu werden. Das Publikum hatte also musikalischen Sinn und Verstand, das Stück verbreitete sich.

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Jetzt schlug die Stunde des Johann Hinrich Wichern. Er druckte das Lied in seine Sammlung „Rauhes Haus“ – mit entscheidenden Veränderungen: Aus der sechsten Strophe ist bei Wichern die zweite geworden, aus der zweiten die dritte. Die anderen drei Strophen fehlen. Wicherns Version ging um die Welt.

Gemeinden taten sich mit Neufassung schwer

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts kamen bei den Autoren des ersten Gotteslobs wohl zwei Motive zusammen, das Lied wieder zu ändern. Zum einen mag mancher wirklich gehofft haben, dass sich durch die Umstellung der Strophen das kitschverliebte Volk verwirren lassen würde. Zum anderen wandten sich damals Musik- und Literaturwissenschaft den Urtexten, also den Erstfassungen zu. Tradition war Schlamperei.

Die Autoren schrieben „Urfassung“ unter den melodielosen Text und legitimierten so ihr Tun. Aus dem tradierten „Christ der Retter ist da“ wurde wieder wie beim Hilfspfarrer Joseph Mohr „Jesus der Retter ist da“. 40 Jahre lang verstolperten sich daran Auswendig-Singer und Mitleser. An der nämlichen Stelle kann man bisweilen quasi als Kompromiss das Wort „Christus“ hören.

Im neuen Gotteslob folgt auf die erste Strophe wieder die sechste, dann die zweite. So wie bei Wichern. Wie bei den Protestanten. Einfach, weil die Menschen sich über ein Jahrhundert daran gewöhnt hatten. „Es ging uns auch darum zu realisieren, was in den Gemeinden üblich ist“, sagt Diakon Vogel. Eine Frage aber bleibt: Was ist aus den übrigen drei Strophen geworden?

In Österreich kann man alle sechs Strophen singen

Als Michael Neureiter von der Stille-Nacht-Gesellschaft von der Neufassung des Gotteslobes hörte, wandte er sich an den Salzburger Bischof. Das „Welt-Friedenslied Stille Nacht“ solle vollständig gesungen werden, mit allen Versen. Die sind teils gewöhnungsbedürftig. So heißt es in der vierten Strophe: „Wo sich heut alle Macht/ Väterlicher Liebe ergoss/ Und als Bruder huldvoll umschloss/ Jesus die Völker der Welt“.

Dies auf die Töne des Lieds zu verteilen, erfordert Geschick. Neureiters Gesuch hatte Erfolg. In Österreich enthält das Gotteslob alle sechs Strophen. Daneben Übersetzungen auf Slowenisch, Kroatisch, Romani und Ungarisch, die Sprachen der größten ethnischen Minderheiten.

In Deutschland blieb es bei drei Strophen. Schade eigentlich. Ein Lied, das nur einmal im Jahr gesungen wird, könnte ruhig etwas länger sein. Vielleicht beim nächsten Mal, in 40 Jahren. Wenn wieder ein neuer Geist durch die katholische Kirche und sein Gesangbuch weht. Dass Frauen dann Priester werden dürfen, wie von Pater Norbert prophezeit, ist dabei weniger wahrscheinlich, als dass „Stille Nacht“ immer noch das beliebteste Weihnachtslied der Welt sein wird.

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