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Deutschland Claudia Roth

„Europa muss diesen asylrechtswidrigen Flüchtlingsdeal aufkündigen“

„Letztlich plant Erdogan eine ethnische Vertreibung“

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth kritisiert den türkischen Präsidenten: „Das Vorgehen Erdogans verletzt das Völkerrecht und hat die humanitäre Katastrophe in der Region noch verschärft“, sagt Roth.

Quelle: WELT / Laura Fritsch

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Grünen-Politikerin Claudia Roth verlangt verstärkten wirtschaftlichen Druck auf den türkischen Präsidenten Erdogan – sowie einen Ausstieg aus dem EU-Türkei-Abkommen. Deutsche IS-Kämpfer müssten heimgeholt werden, fordert die Bundestagsvizepräsidentin.

WELT: Frau Roth, die USA und die Türkei haben sich auf eine fünftägige Feuerpause in Nordsyrien geeinigt. Was halten Sie von dieser Vereinbarung?

Claudia Roth: Ich traue der Waffenruhe nicht. Die Kurden waren in die Gespräche ja gar nicht eingebunden. Und auch, wenn die Kurdenmiliz YPG nun angekündigt hat, sich unter bestimmten Bedingungen zurückziehen zu wollen, gehen die Kämpfe ja weiter. Vor allem ist der Deal zwischen Washington und Ankara der Versuch der US-Amerikaner, von ihrer verantwortungslosen Politik abzulenken. Und das Ergebnis ist verheerend: Der türkische Präsident Erdogan kriegt, was er will; das Schreckensregime von Baschar al-Assad kehrt in die mehrheitlich kurdischen Gebiete zurück; auch Moskau geht gestärkt hervor; und die Kurden zahlen den Preis.

Eines jedenfalls steht fest: Das Vorgehen Erdogans verletzt das Völkerrecht und hat die humanitäre Katastrophe in der Region noch verschärft. Vor allem Frauen und Kinder sind betroffen. Und wenn Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats nicht mehr festgehalten werden, gefährdet das nicht nur den gesamten Nahen Osten, sondern auch Europa. Die Nato aber schweigt, die Bundesregierung reagiert wie immer: halbherzig. Wir erleben eine dramatische Erosion all dessen, was Grundlage unserer internationalen Ordnung sein sollte.

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WELT: Die Vereinbarung zwischen Ankara und Washington beinhaltet, dass die Türkei jenseits ihrer Südgrenze auf syrischem Territorium eine sogenannte Sicherheitszone errichten kann.

Roth: Und dann will er Millionen syrischer Geflüchteter ins mehrheitlich kurdische Nordsyrien zwangsumsiedeln und damit die dortige Bevölkerungsstruktur umschichten. Letztlich plant Erdogan also eine ethnische Vertreibung, zumindest mittelfristig. Bereits jetzt gibt es dramatische Berichte aus der Region. Die Menschen wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Viele fliehen in den Irak, wo die Flüchtlingslager ohnehin überfüllt sind. Die Lage ist extrem fragil.

WELT: Die Situation in Nordsyrien hat auch Auswirkungen auf die türkischen und kurdischen Communitys in Deutschland. In mehreren Moscheen der Islamverbände Ditib und Milli Görus wurde für den Sieg der Türkei gebetet. Wie bewerten Sie das?

Roth: Erdogan hat schon immer versucht, Deutschland als Spielfeld für seine nationalistische Stimmungsmache zu missbrauchen. Dieser nationalistische Overkill auch bei uns macht mir große Sorgen, ebenso wie die riesige Verzweiflung der Menschen mit kurdischen Wurzeln. Die Kurdinnen und Kurden haben im Kampf gegen den sogenannten IS in Syrien viele Opfer gebracht – auch für unsere Sicherheit. Jetzt werden sie wieder einmal im Stich gelassen.

Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung und auch die Nato deutlich machen: Wir unterstützen Erdogan nicht, er darf keinen Beistand erwarten – und wir stehen an der Seite derjenigen, die Angst um ihre Verwandten in den kurdischen Gebieten haben.

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Seit Jahren führt Erdogan einen dreifachen Krieg gegen die Kurden: innerhalb der Türkei, in Syrien und im Irak. Gegen Sezgin Tanrikulu beispielsweise, den kurdischen Abgeordneten der türkischen Oppositionspartei CHP, wird ermittelt, bloß weil er den Einmarsch in Nordsyrien kritisiert hat. Erdogan bekämpft alle, die Kritik üben. Damit will er die Spaltung der Opposition vorantreiben. Ich befürchte: teilweise mit Erfolg.

WELT: Was muss Berlin jetzt tun?

Roth: Es wäre ein Anfang, wenn die Bundesregierung den Einmarsch unmissverständlich als völkerrechtswidrig verurteilen würde. Wir erinnern uns an den Angriff der Türkei auf das syrische Kurdengebiet Afrin im Januar 2018. Schon damals hat die Bundesregierung, hat auch die Nato wachsweich reagiert. Und Erdogan hat das Signal verstanden: Ich muss auch diesmal keine Konsequenzen fürchten.

Stattdessen bräuchte es den vollumfänglichen Stopp aller Rüstungsexporte aus Deutschland und der EU, inklusive der Aufhebung bereits erteilter Genehmigungen. Seit dem Angriff auf Afrin sind Kriegswaffen im Wert von fast 500 Millionen Euro aus Deutschland an die Türkei geliefert worden. Schon im August dieses Jahres hatten wir mehr exportiert als in jedem Jahr seit 2005. Das verstößt nicht nur gegen die eigenen Exportrichtlinien: Es ist vollkommen irre.

Und dann ist da noch der Flüchtlingsdeal. Ich finde es unerträglich, wie erpresserisch Erdogan hier auftritt. Einmal mehr rächt sich, dass sich die EU-Mitgliedstaaten – übrigens auf Druck der Bundesregierung – mit dem EU-Türkei-Deal von einer Regierung abhängig gemacht haben, die die Menschenrechte mit Füßen tritt und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht umsetzt. Wenn Europa glaubwürdig sein will, müssen wir diesen asylrechtswidrigen Deal aufkündigen.

WELT: Das hätte eine weitere Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa zur Folge.

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Roth: Und deshalb sollen wir uns also von einem Mann erpressen lassen, der sagt: Wenn ihr mich kritisiert oder kein Geld überweist, dann schick ich die Menschen aufs Wasser? Das ist doch erbärmlich. Recep Tayyip Erdogan nimmt Kriegsflüchtlinge und auch uns als politischen Pfand für seine wahnwitzige Großmachtpolitik. Europa hat eine humanitäre Schutzverantwortung, die müssen und können wir wahrnehmen, wenn wir endlich die entsprechenden Weichen stellen.

Zu Recht fordert nun ja sogar Innenminister Horst Seehofer (CSU) eine neue Lösung, weil auch er erkannt hat, dass das Dublin-Abkommen schlichtweg gescheitert ist. Das wird auch Aufgabe der neuen Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) sein.

WELT: Welche Druckmittel hat Deutschland denn gegen diese Politik der türkischen Regierung?

Roth: Was Erdogan tatsächlich wehtun würde, ist wirtschaftlicher Druck – gerade die Verweigerung von Exportkreditgarantien, sogenannten Hermes-Bürgschaften. Seit dem Einmarsch in Afrin hat die Bundesregierung derartige Bürgschaften in Höhe von 2,6 Milliarden Euro gewährt. Das muss aufhören!

Zum Glück wachsen auch in der deutschen Wirtschaft die Zweifel. VW beispielsweise hat jüngst die Entscheidung über eine Werksgründung in Izmir zumindest vertagt. Aber auch die Teilnahme der Bundeswehr an der Operation „Inherent Resolve“ muss zurückgenommen werden. Es kann doch nicht sein, dass deutsche Tornados ihre Aufklärungsdaten, die sie über Syrien und dem Irak ermitteln, dem Nato-Partner Türkei zur Verfügung stellen, der in ebendiesem Gebiet gerade völkerrechtswidrig vorrückt.

WELT: Statt die Beteiligung an der Anti-IS-Mission vollständig abzubrechen, könnte Deutschland die Luftaufnahmen nicht mehr an die Türkei weitergeben. So machen es die Amerikaner jetzt. Wäre das nicht klüger?

Roth: Bis heute kann die Bundesregierung nicht garantieren, dass die Daten letztlich nicht doch bei der Türkei landen. Ohnehin: Wir Grüne waren von Beginn an gegen die Operation – allein schon, weil die völkerrechtliche Grundlage fehlt. Zudem erfolgt die Mission in einer hochproblematischen Konstellation. Wie unkalkulierbar derartige „Koalitionen der Willigen“ sind, zeigt sich doch gerade an den erratischen Manövern des US-Präsidenten. Wir müssen feststellen: Die USA sind kein vertrauenswürdiger Bündnispartner mehr.

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WELT: In Nordsyrien sind auch IS-Kämpfer aus Deutschland inhaftiert.

Roth: Und die Bundesregierung hat dieses Problem viel zu lange kleingeredet! Ich verstehe ja, dass der Gedanke vielen nicht gefällt, aber Deutschland ist dazu verpflichtet, seine eigenen Staatsbürger unter den islamistischen Kämpfern hier vor Gericht zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen. Was sind denn die Alternativen? Entweder sie kommen irgendwann frei und richten weiteres Unheil in der Region an. Oder sie werden zum Risiko für uns.

Seit Monaten fordern Vertreter kurdischer Gruppen, die für die Gefangenenlager in Syrien und dem Irak verantwortlich sind, dass Deutschland seine Staatsbürger hier vor Gericht stellt. Es ist Ausdruck unfassbarer Doppelmoral, von anderen Ländern zu erwarten, Geflüchtete aus Deutschland zurückzunehmen, dann aber wegzuschauen, wenn es um deutsche Staatsangehörige geht.

Unzählige IS-Terroristen sollen bereits entkommen sein

Die kurdischen Kämpfer in Nordsyrien können oder wollen ihre IS-Gefangenen wegen der türkischen Invasion nicht mehr ausreichend bewachen. Die Angst vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz wächst.

Quelle: WELT / Christoph Wanner

WELT: Andererseits hat gerade die Türkei sehr viele Flüchtlinge aufgenommen.

Roth: Das stimmt, die Türkei hat weit mehr Geflüchtete aufgenommen als alle EU-Mitgliedstaaten zusammen. Es ist deshalb richtig, deren humanitäre Versorgung und Unterbringung finanziell umfassend zu unterstützen. Dazu braucht es aber keinen asylrechtswidrigen Flüchtlingsdeal.

Vergessen wir außerdem nicht, dass auch Erdogan den Syrien-Krieg aktiv befeuert hat. Zehntausende islamistische Kämpfer sind über die Türkei nach Syrien gelangt. Es war die oppositionelle Zeitung „Cumhuriyet“, die unter ihrem damaligen Chefredakteur Can Dündar über Waffenlieferungen aus der Türkei an Dschihadisten in Syrien berichtet hat. Erdogan stilisiert sich gern als das große Opfer, aber er ist auch Täter.

WELT: Vor ihrem Abzug haben die USA ja die Bundesrepublik und andere europäische Staaten gebeten, Bodentruppen zur Sicherung des Kurdengebietes in Nordostsyrien zu stellen. Aus Europa kam keine Antwort. War das ein Fehler?

Roth: Als würde noch mehr militärisches Eingreifen weiterhelfen! Syrien braucht Friedensgespräche und einen verfassungsgebenden Prozess. Was stimmt: Gesamteuropa hätte sich dahingehend viel früher und intensiver einbringen sollen.

„Die ganze Welt schaut nur zu. Das macht mich wahnsinnig“

Erdogans Einmarsch in Nordsyrien – der Konflikt ist auch auf Deutschlands Straßen angekommen. In vielen Städten wird demonstriert, unter anderem in Berlin, Frankfurt am Main und Hannover.

Quelle: WELT / Jan-Friedrich Funk

WELT: Aber es war doch absehbar, dass Erdogan einmarschieren würde, wenn die USA sich zurückziehen. Hätten die Europäer das nicht mit eigenen Truppen verhindern können?

Roth: Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage? Mit welchem Ziel? Zum Zwecke einer weiteren militärischen Eskalation? Die Tragödie der Syrerinnen und Syrer ist es doch gerade, dass andere Staaten die unterschiedlichsten Interessen seit acht Jahren kämpferisch vor ihrer Haustür austragen. Was dieses Land braucht, ist eine internationale diplomatische Offensive, keine weiteren Kriegsparteien. Und dafür sind die Vereinten Nationen der richtige Rahmen.

Gerade erst habe ich eine Delegation der prokurdischen Oppositionspartei HDP aus der Türkei empfangen. Auch sie fordern, Erdogan politisch von seiner Invasion abzubringen, nicht militärisch. Dazu muss dann aber auch die Bundesregierung bereit sein, ihren bisherigen Normalisierungskurs gegenüber der Türkei zu beenden. Denn der ist kläglich gescheitert.

WELT: SPD-Fraktionschef Mützenich fordert eine Anklage Erdogans vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Wie sehen Sie das?

Roth: Die Forderung ist nachvollziehbar, zumal der Internationale Strafgerichtshof mittlerweile auch für sogenannte Verbrechen der Aggression zuständig ist. Aber auch Rolf Mützenich, den ich sehr schätze, weiß natürlich, dass der Sachverhalt komplexer ist, als er zunächst klingen mag. Weder die Türkei noch Syrien erkennen den Gerichtshof an, ebenso wenig wie übrigens die USA und Russland. Ermittlungen wären also prinzipiell nur nach einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats möglich.

Im Fall von Baschar al-Assad wird gerade versucht, diese Einschränkung zu umgehen, doch der Erfolg ist mindestens ungewiss. Kurzum: Die Hürden sind hoch und zahlreich. Dennoch bleibt es natürlich richtig, dass Beobachtungsstellen und Initiativen vor Ort nun möglichst viele Menschenrechtsverletzungen genau dokumentieren, egal, von wem sie begangen werden. Sollte es zu Ermittlungen kommen, ist die Beweislage entscheidend.

Völkerwanderung - Die Reportagen

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