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Berliner Jugendamt vermittelte Kinder an Pädophile "Von mir hat er auch Videos gemacht. In der Badewanne und so"

Das Berliner Jugendamt gab jahrelang Pflegekinder in die Obhut pädosexueller Männer. Zwei Betroffene berichten nun erstmals von ihrem Leid.
Betroffene Marco, Sven in Berlin: "Ich will da nicht dran denken."

Betroffene Marco, Sven in Berlin: "Ich will da nicht dran denken."

Foto: Nele Martensen / DER SPIEGEL

Marco und Sven sitzen in einem Wohnzimmer in Berlin. Marco fragt: "Hast du auch gesehen, dass er Videoaufnahmen hatte? Wo Jan sich einen runterholt und so was. Die hatte der selbst gedreht." Sven sitzt auf der Kante der Couch und starrt auf seine Füße.

Marco: "Von mir hat er auch Videos gemacht. In der Badewanne und so. Erinnerst du dich da dran? Der hat doch sogar welche von uns zusammen gemacht, oder?" Sven: "Ja." Er schaut kurz hoch. "Krass, kacke." Er drückt die Handballen auf die Augen, als wolle er Tränen stoppen. "Ich will da nicht dran denken." Dies ist die Geschichte von Marco und Sven. Sie sind Pflegebrüder. Eigentlich heißen sie anders, doch sie wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. "Er" ist ihr Pflegevater, an den sie das Bezirksamt Schöneberg vermittelt hatte. Jan ist ein älterer Pflegebruder.

2013 wurde durch Artikel im SPIEGEL und in der "taz" bekannt, dass die Westberliner Senatsverwaltung Ende der Sechzigerjahre ein Projekt genehmigte, bei dem Kinder aus der Obhut des Jugendamts zu pädosexuellen Männern vermittelt wurden. Diese nähmen die "schwachsinnigen Jungen" gern auf, "weil sie eben in sie verliebt, verknallt und vernarrt waren", begründete Helmut Kentler das Experiment. Kentler war der Mann, der die theoretischen Grundlagen für das Projekt lieferte - und es praktisch mit umsetzte. Er suchte Pflegeväter aus, betreute sie.

Kentler war damals Abteilungsdirektor des Pädagogischen Zentrums in Berlin, seit Ende der Sechzigerjahre trat er dafür ein, Sex mit Kindern zu legalisieren. Die Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie schätzte seine Meinung und finanzierte mehrere Pflegestellen bei Pädosexuellen. Kentler war es auch, der sich beim Jugendamt für Fritz H. einsetzte, jenen Mann, den Marco und Sven beschuldigen, sie missbraucht zu haben. Er sorgte dafür, dass H. 30 Jahre lang Pflegevater sein durfte. Marco und Sven haben ihre Geschichte noch nie zuvor erzählt.


Zwei Brüder

Marco ist ein großer, kräftiger Mann mit schwarzen Haaren und dunklen Augen.

Er war ungefähr fünf Jahre alt, als er begann, nachts durch Berlin zu laufen, an der Skalitzer Straße entlang, durch halb Kreuzberg, "wie ein Penner", sagt er. Seine leiblichen Eltern ließen sich früh scheiden, es gab viel Streit und Gewalt, so viel ist aktenkundig. Einmal band der Vater ihm die Beine an den Knöcheln zusammen, damit er nicht weglaufen konnte. Dann schlug er mit einem Gürtel so lange auf die Unterbeine, bis sie bluteten. Oder er setzte ihn in die Badewanne, Beine und Arme gefesselt, und ließ das Wasser laufen, bis Marco nach Luft schnappte. "So was war ganz normal zu Hause." Die Kita alarmierte das Jugendamt. Er bekam ein Aktenzeichen: 2917.

Im März 1989 zog Marco zu Fritz H., nach nur wenigen Wochen in der Obhut des Jugendamts. Er war sechs Jahre alt. Am Anfang lief es noch ganz gut, sagt Marco. Als er H. das erste Mal sah, dachte er: "Der ist ja alt." Und: "Der hat einen komischen Mund." H.s linker Mundwinkel hing nach unten.

Aber H. schien nett zu sein, und die Wohnung war groß, 170 Quadratmeter, Marco hatte sein eigenes Zimmer. "Endlich weg von der Straße, das war gut." Außerdem gab es einen Computer, auf dem er spielen konnte, zwei Zwergkaninchen, Hoppi und Klopfer. Für sie hatte H. einen großen Kleiderschrank zu einem Stall umgebaut. "In die beiden war ich ganz vernarrt", sagt Marco.

Das erste Mal seit Langem fühlte er, was es heißt, glücklich zu sein.

Dann änderte sich Fritz H. Er fing an, Marco anzuschreien und zu schlagen, mit der Hand, mit Kleiderbügeln. Nach etwa einem halben Jahr, als ein älterer Pflegebruder ausgezogen war, Marco sich eingelebt hatte und H. endlich "Papa" oder "Paps" nannte, wie der es forderte, da begann es, sagt Marco.

Es war ein Abend im Herbst 1989, H. kam ins Zimmer. Er sagte, er möchte "kuscheln". Dann forderte er, dass Marco seinen Penis in den Mund nimmt. "Das machen Söhne mit ihrem Papa so, wenn sie sich lieb haben", erklärte er ihm, als er nicht sofort mitmachte. Marco war sieben, er glaubte ihm. An dem Abend drang H. anal in ihn ein. So schildert es Marco.

Zehn Jahre lang habe H. ihn missbraucht, sagt er. Die ersten Jahre habe er ihn etwa einmal pro Woche zu sich in sein Schlafzimmer gerufen oder ihm aufgelauert, wenn er nachts zur Toilette ging. Oft habe er danach am Hintern geblutet, sagt Marco. "Das ist normal, das hört wieder auf", habe H. gesagt. Die Narben hat er heute noch. Marco geht davon aus, dass er auch im Schlaf missbraucht wurde. H. habe ihm Tabletten gegeben, die ihn müde machten.

Marco sagt, er habe sich damals vorgestellt, er sei ein Ritter.

Mit einer Rüstung, die nur er abnehmen kann.

Mit einem scharfen Schwert, mit dem er seine Burg verteidigt.

Sein Hochbett war die Burg.

Es nutzte nichts.

Im Laufe der Zeit wurden die Übergriffe seltener, sagt Marco. Als er zwölf Jahre alt war, sei H. nur noch alle paar Wochen in sein Zimmer gekommen. Mit 17 oder 18 Jahren habe es aufgehört. "Da habe ich mich so richtig gewehrt", sagt Marco.

Manchmal fragt sich Marco, warum er das nicht früher getan hat. Aber, sagt er, die Antwort sei einfach: Er wusste einfach nicht, dass nichts davon "normal" war. Es gab auch keinen Weg raus. Denn zurück zu seiner Familie konnte er nicht.

Mit der Mutter gab es nur alle vier Wochen Besuchskontakt, so hatte es das Jugendamt entschieden, so steht es in den Akten. Aber selbst wenn Marco sie sah, war Fritz H. fast immer dabei. Noch dazu verriet die Mutter anfangs dem leiblichen Vater, wo sie sich trafen, sodass er in der Nähe auftauchte. Vor seinem Vater hatte Marco noch mehr Angst als vor Fritz H.

Wie Marco war auch Sven in der Wohnung von H. gefangen; er war zunächst froh, überhaupt ein Zuhause zu haben.

Mit sieben Jahren wurde er von seinen Eltern ausgesetzt, erzählt er. Als die Polizei ihn aufgriff, musste er erst einmal ins Krankenhaus, Hepatitis B. Viele Monate blieb er dort, dann nahm Fritz H. ihn bei sich auf. Ende 1990 war das. "Keiner wollte dich mit deiner Krankheit haben", habe er dem Achtjährigen gesagt. "Ich war ihm so dankbar", sagt Sven. "Ich hatte endlich wieder eine Wohnung, ein Leben." Auch bei ihm wartete H., bis er sich eingelebt hatte. Dann habe der Missbrauch begonnen, sagt Sven.

Wenn er von früher erzählt, sieht man, wie ihn das auch körperlich mitnimmt. Die Arme hat er vor dem Bauch verschränkt, als müsste er sich selbst umarmen. Er wiegt seinen Oberkörper vor und zurück. "Am Anfang wussten wir ja nicht mal, dass er was Falsches macht." Woher auch? H. habe immer gesagt: "Ich hab dich lieb, du bist mein Kind." Und dass das normal sei.

Ab und an krallt er die rechte Hand in seine linke Hüfte. Sven hat Schmerzen, schon seit Jahren, und seit Marco ihn gefragt hat, ob er mit ihm zusammen zum Anwalt gehen würde, sind sie schlimmer geworden. Aber die Ärzte finden nichts Körperliches.

Er kifft viel, das hilft ihm zu schlafen. "Ich will nicht mehr träumen", sagt Sven.

Auch zu ihm sei H. häufig nachts gekommen.

Marco hat lange still zugehört. Dann sagt er: "Du hast ja auch mal von Selbstmord geredet, dass du daran denkst." "Schlafen. Ich würde wirklich gerne schlafen", antwortet Sven.

Sven hat ebenso dunkle Haare wie Marco, dazu einen Dreitagebart. Er ist kleiner, blasser. Seine Augenringe sind so tief, dass sie bläulich schimmern. Er ist der ruhigere der beiden Pflegebrüder, er ist nicht so zornig wie Marco. Am liebsten würde er das Thema ganz verdrängen, sich wieder zurückziehen, in seine "Festung der Einsamkeit", wie er seine winzige Wohnung nennt, die von Sozialhilfe finanziert wird.

Jahrelang hat er als Tellerwäscher in Berliner Hotels gearbeitet, hatte früh eine Beziehung, war lebenslustiger. Doch seit er so krank ist, schafft er es nicht mehr, arbeiten zu gehen.

Auch Marco lebt von Sozialhilfe, er hat keine Ausbildung. "Der hat uns richtig dumm gehalten", sagt er über H. Alles, um sie länger "pflegen" zu können, denn nur dann gab es Geld vom Jugendamt.

Marco würde gern arbeiten gehen, aber er ist erwerbsunfähig, das hat ihm eine Psychologin attestiert.

Wenn ältere Männer eine Scheitelfrisur haben, wie H. sie damals getragen hat, bekommt Marco Panikattacken, berichtet er. Oder wenn er hängende Mundwinkel sieht, wie H. einen hatte.

Er sagt: "Was hätte nur aus mir werden können, wenn die vom Jugendamt mich nicht zu diesem Typen gesteckt hätten? Ich wäre nicht der Allerhellste, aber vielleicht wäre ich ein ordentlicher Ernährer." Seit zwei Jahren ist Marco Vater einer Tochter, ihre Fotos hängen an den Wänden in der Wohnung, so viele, als wollte er mit jedem streifenden Blick an sie erinnert werden. Seine Verlobte geht arbeiten, er kümmert sich um die Kleine und den Haushalt. Für sie will er seine Geschichte aufarbeiten, eine Entschädigung von der Senatsverwaltung erstreiten, eine Entschuldigung bekommen.

Wenn man die beiden, die nicht miteinander verwandt sind, fragt, ob sie Brüder seien, sagen sie Ja.

Teddy des verstorbenen Pflegebruders Sascha: Der Senat soll Verantwortung übernehmen

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Foto: Nele Martensen / DER SPIEGEL


Der Pflegevater

Die Akten der Senatsverwaltung geben wenig her über Fritz H.

Er wuchs im Heim auf, seine Eltern starben, als er neun Jahre alt war. Er hat als Schweißer und als Fernmeldetechniker gearbeitet, bevor er "Pflegevater" wurde. Über die Jahre lebten mindestens fünf Pflegekinder bei H. Das erste bekam er 1973, später erwarb er die "Sonderpflege-Qualifikation". H. war 47 Jahre alt, als ihm das Jugendamt Marco zuführte, 49, als Sven dazu kam.

Den Rest erfährt man von Marco und Sven.

Sie sagen, H. hatte die unterschiedlichsten Strategien. Er drohte ihnen, damit sie nicht redeten. Sven äfft ihn nach: "Was ist los mir dir, willste ins Heim? Ich bring dich ins Heim." Sie sagen, er belohnte sie, wenn sie bei den sexuellen Übergriffen mitmachten, mit Geld oder Spielzeug. "Wenn du jetzt einen Steifen kriegst, bekommst du ein neues Nintendo-Spiel", macht Marco H. nach.

Sie sagen, er erklärte den Missbrauch zur Normalität. Er machte klar, dass sie ja etwas davon hätten, bei ihm zu leben. Einmal sei H. mit Marco zum Bahnhof Zoo gefahren und habe ihm die Stricherjungen gezeigt: "Die machen es für Geld, aber die haben kein Zuhause wie du." Ein anderes Mal habe er Videos von den sexuellen Übergriffen mit einem Bekannten getauscht und dabei zu Marco gesagt, dass dieser auch Videos mit seiner Tochter mache.

Sie sagen, sie durften nie auf Klassenfahrt. H. erlaubte es nur selten, dass Freunde nach Hause kommen durften, und wenn, dann erzählte H. ihnen, dass Marco ein Lügner sei, dem sie "nichts glauben dürfen", und Sven ganz viel "Fantasie" habe.

Sie sagen, H. zerstörte ihr Vertrauen in Lehrer und die Behörden. "Alles, was vom Amt kam, war schlimm", sagt Sven. H. warnte Marco, dass sie in der Schule Tests mit ihm machen würden und dass er vorsichtig sein solle. Die würden etwa fragen, ob er das Schlafzimmer von H. malen könne oder seinen Penis gesehen habe. Dann solle Marco einfach einen Stuhl schmeißen oder Lehrer per Mittelfinger beleidigen.

Die Akten, die es über Marco gibt, belegen, dass er Folge leistete und in der Schule Ärger machte. Vor allem aber zeigen sie, dass das Jugendamt trotzdem nicht die Eignung von H. als Pflegevater infrage stellte.

Ende 1990, als Marco schon anderthalb Jahre bei H. wohnte, schrieb ein Oberarzt am Universitätsklinikum der FU Berlin ein Gutachten: "Es liegt eine erhebliche psychosoziale Belastung des Kindes vor, die auch eine wohl sehr ausgeprägte Kindesmißhandlung mitbeinhaltet." Doch der Befund wurde offensichtlich auf die leiblichen Eltern geschoben, das Jugendamt kümmerte sich um eine Therapie für Marco, H. wurde nicht belangt.

Auch, dass H. die Therapie Marcos überwachte, kritisierte niemand. So heißt es später in einem Gerichtsprotokoll: H. sei "immer anwesend gewesen und zwar so, daß vom Nebenraum alles gehört werden konnte, was der Psychologe mit Marco spricht".

Ende 1990 schrieb ein Psychologe einen siebenseitigen Bericht über Marco: "Sehr auffällig ist seine fortwährende Distanzlosigkeit, weswegen der Pflegevater ihn gelegentlich zurückweisen muss." Experten, die sich mit den Symptomen sexuellen Missbrauchs auskennen, hätten dies sicherlich als Warnzeichen verstanden. Ebenso, dass Marco anfangs "zu vielen Fremden 'Ich hab dich lieb'" sagte, wie es der Psychologe vermerkt. Doch es passierte: nichts.

Ende 1991 warnte die Senatsverwaltung für Gesundheit das Jugendamt vor Fritz H. Der hatte eigenmächtig die angeordnete Therapie für Marco abgebrochen. Die Behörde kritisierte die "massiv aggressiven Gegenreaktionen", die H. an den Tag lege, wenn seine Erziehung infrage gestellt werde. Der Verfasser des Schreibens kam zu dem Schluss: "Die Entwicklung der Kinder in der Pflegestelle H. ist als gefährdet einzuschätzen", wenn H. nicht endlich kooperiere. Eine Reaktion des Jugendamts findet sich nicht in Marcos Akten.

Im Frühjahr 1992 gab es eine Anhörung vor dem Familiengericht Charlottenburg, weil Marcos Mutter versuchte, bessere Besuchsrechte durchzusetzen. "Der Pflegevater äußert Bedenken, daß Marco allein gehört wird", heißt es im Protokoll über die Befragung des Richters. "Er wartete dann aber vor dem Kinderzimmer und rief zwischendurch hinein 'wenn du bedroht wirst, dann rufst du'." Auch dies ließ man H. durchgehen.

Drei Jahre war Marco damals schon bei H., neun weitere Jahre folgten.

Warum ließ das Jugendamt H. gewähren? Warum übersahen sie alle Warnzeichen? Vermutlich auch, weil Fritz H. einen einflussreichen Mitstreiter hatte: Helmut Kentler.


Der Professor

Helmut Kentler sei ein charismatischer Mann gewesen, sagen die, die ihn kannten. Er hatte dunkle Haaren und eine breite Nase.

Kentler war der Mann, der das Berliner Jugendamt dazu brachte, Kinder in die Obhut pädophiler Männer zu geben.

In den Siebzigerjahren gab es einige, die die Meinung vertraten, Sex mit Kindern sei kein Fall für den Richter, sondern ihr gutes Recht, gut für die Kinder. Doch Kentler ging weiter, er wollte der pädophilen Bewegung die wissenschaftliche Legitimation verleihen. Kinder trügen so lange keinen Schaden davon, wie der Sex ohne Gewalt stattfinde. Im Jahr 1979 schrieb er in dem Buch "Sexualität. Materialien zur Sexualforschung", dass "trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nie die erwarteten schädlichen Folgen bei Kindern oder Jugendlichen festzustellen waren".

Kentler war über viele Jahre ein gefragter Psychologe, bei fast 30 Gerichtsverfahren wurde er als Sachverständiger bestellt. Er war stolz darauf, dass alle Missbrauchsfälle, die er begutachtet hatte, "mit Einstellungen der Verfahren oder sogar Freisprüchen" endeten.

1970 trat Kentler als Experte bei einer Anhörung in einem Bundestagsausschuss auf. Dort plädierte er für eine völlige Straffreiheit für Sex mit Kindern und Jugendlichen. Die Minderjährigen würden, so sein Argument, in Strafverfahren "fast immer schwerwiegender" geschädigt als durch den Missbrauch selbst. Kentler war Redner auf evangelischen Kirchentagen, viele Medien zitierten ihn, auch der SPIEGEL.

Als er 1976 als Professor für Sozialpädagogik an die Technische Universität Hannover wechselte, war er bereits eine Schlüsselfigur im Netzwerk pädophiliefreundlicher Aktivisten, das sich zu jener Zeit über die Bundesrepublik spann. Kentler wirkte als Beiratsmitglied der "Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie" und saß im Kuratorium der "Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität". Dort traf er mit Vorkämpfern der pädophilen Szene zusammen: Bruno Bendig zum Beispiel, Chef beider Organisationen und Heimerzieher, 1993 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in neun Fällen verurteilt. Oder Rüdiger Lautmann, Autor des Buchs "Die Lust am Kind".

Ende der Sechzigerjahre nutzte Kentler seine Verbindungen in die Berliner Politik, um einen Feldversuch zu starten. Als Abteilungsdirektor des Pädagogischen Zentrums, eines Reformlabors des Landes, war er im dortigen Senat bekannt - und angesehen. Er überzeugte die zuständige Senatsbeamtin von seinem Projekt mit Pädophilen als Pflegevätern.

Kentler machte gar keinen Hehl daraus, dass die Pflegeväter Sex als Gegenleistung für ihren Einsatz erwarten dürfen. 1980 erzählte er in der Zeitschrift "konkret. Sexualität" die Geschichte eines 13-Jährigen: "Ulrichs Vorteil war, dass er gut aussah und dass ihm Sex Spaß machte; so konnte er pädophil eingestellten Männern, die sich um ihn kümmerten, etwas zurückgeben." Kentler war sich bewusst, dass er das Recht bricht. Etwa zehn Jahre nach Beginn des Projekts mit den pädophilen Pflegevätern schrieb Kentler: "Ich kann diese Geschichte heute berichten, weil die Straftaten, die alle Beteiligten begingen, inzwischen verjährt sind." Das Berliner Projekt war Kentler so wichtig, dass er es selbst betreute, zweimal die Woche setzte er eine "Supervision" an.

Auch bei H. war er stark engagiert, sie telefonierten mindestens einmal die Woche, es gab gegenseitige Besuche. Die beiden kannten sich seit Mitte der Siebziger, es war die Zeit, in der H. das erste Mal ein Pflegekind hatte. In Marcos Akten finden sich drei lange Stellungnahmen Kentlers an das Familiengericht Berlin aus den Jahren 1991 und 1992, sie tragen den Briefkopf der Universität Hannover. In ihnen empfahl er, dem Pflegevater H. zu vertrauen, ihn vor Störungen zu beschützen.

"Aus jahrelanger Begleitungserfahrung kann ich sagen, dass Herr H. mit derart positiven Ergebnissen seinen pädagogischen Aufgaben nachgeht, dass ich immer wieder überrascht bin", schrieb Kentler. Er könne H. nur empfehlen, dieser sei ein "pädagogisches Naturtalent".

Marco und Sven erinnern sich an Kentler - und an ihre Fahrten zu ihm nach Hannover. 1991 verbrachten sie sogar Weihnachten dort, auch das wusste das Jugendamt.

Die Behörde

1969 wurde von der Westberliner Senatsverwaltung die erste Pflegestelle bei einem Pädosexuellen eingerichtet. Es war die Zeit der 68er-Bewegung, eine Zeit, in der die Gesellschaft von den Fesseln der sexuellen Repression befreit werden sollte. Auch pädophile Männer sahen nun die Chance, ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen.

In diesem Zeitgeist gelang es Kentler, die zuständige Senatsbeamtin von seinem Projekt zu überzeugen. Aber wie konnte es sein, dass noch Anfang der Neunzigerjahre Kinder an pädophile Männer vermittelt wurden? Und warum blieben sie bis 2003 unter der Aufsicht des "Pflegevaters"? 2016 gab die Berliner Senatsverwaltung beim Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen einen Bericht in Auftrag, mit dem das Projekt Kentlers und die Komplizenschaft der Senatsverwaltung aufgearbeitet werden sollten. Als er schließlich vorlag, sagte die zuständige Familiensenatorin Sandra Scheeres: "Was damals mit Wissen der Senatsverwaltung geschehen ist, ist ein Verbrechen an den Betroffenen." Und sie versprach: "Als Senatsverwaltung stellen wir uns heute dieser Verantwortung." Aber gilt das auch im Fall von Marco und Sven? Sigrid Klebba, die zuständige Staatssekretärin für Jugend und Familie, sagt, sie habe "keinerlei Zweifel" an Marcos Geschichte. Sie bestätigt, dass er von 1989 bis 2003 in der Pflegestelle bei H. war. Und dass H. schon im Jahr 1973 sein erstes Pflegekind aufgenommen hatte. Damals wohnte er noch in Kreuzberg.

Die Staatssekretärin sagt auch, es gebe eine "enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit Marco. Über den Fonds Sexueller Missbrauch, den das Land Berlin mitfinanziert und den sie ihm empfohlen hätten, bekomme er therapeutische Unterstützung.

Doch Marco sagt, das stimme nicht. Er habe sich vor Kurzem selbstständig an den Weißen Ring gewandt, eine Vereinigung für die Opfer von Straftaten. Der zahlt nun Marcos Therapie - und dessen Anwalt.

Marco und Sven sind enttäuscht davon, wie wenig der Senat für sie tut. Im Frühjahr hatte Marco einen Brief an die Senatsverwaltung geschickt und seinen Fall geschildert. Sie danke ihm für sein Vertrauen, antwortete damals Staatssekretärin Klebba. "Auch wenn ich bereits aus dem Gutachten zu den Kentler-Fällen erfuhr, was die untergebrachten Kinder erleben mussten, so hat mich doch Ihre Lebensgeschichte sehr betroffen gemacht." Sie bietet ihm "konkrete Hilfe und Unterstützung" an. Ende April treffen sie sich, auch Senatorin Scheeres kommt dazu.

Doch danach passierte nur wenig. Von der Pflegeakte, um die Marco gebeten hatte, kamen nur Teile an, Klebba begründet dies mit Datenschutz. Und statt "konkreter Hilfe und Unterstützung" schickten sie Marco nur die Adressen einiger Beratungsstellen. "Ich habe das Gefühl, sie wollen das aussitzen", sagt er.

Im Dezember gab es noch einmal ein Treffen mit Vertretern des Senats, diesmal wird Marco von Sven begleitet. Marco kündigt dort an, dass er Strafanzeige stellen werde, unter anderem gegen den zuständigen Sozialarbeiter, der ihn damals zu H. vermittelt habe.

Der Berliner Senat hat nun selbst Anzeige erstattet. Allerdings hauptsächlich gegen Fritz H. Jenen Sozialarbeiter, der im Laufe der Jahre immer höher stieg und zuletzt Jugendamtsleiter in einem Berliner Bezirk war, erwähnen sie nicht namentlich. Die Senatsverwaltung hat es nicht einmal für nötig gehalten, ihn zu dem Projekt Kentlers zu befragen.

Warum nicht? "Weil wir nicht die ermittelnde Behörde sind", sagt Staatssekretärin Klebba.

Noch immer scheint es so, als mühte sich der Senat vor allem darum, das ganze Ausmaß des staatlich geförderten Kindesmissbrauchs zu vertuschen. In den Archiven der Berliner Behörden lagern zahlreiche Akten, die Auskunft über die anderen Kinder geben können, die im Laufe der Jahrzehnte in H.s Obhut waren.

Einsehen darf man sie nicht. Der Senat will auch nicht sagen, was bei einer internen Durchsicht herausgekommen ist. Nur so viel: Es lasse sich "kein direkter Bezug zu dem Experiment Kentlers" zeigen. Doch das ist kein Wunder. Auch bei anderen Pflegevätern war nicht eigens vermerkt, dass sie Teil des Experiments von Kentler waren. Klebba gibt aber zu: "Helmut Kentler war auch bei anderen Pflegekindern, die in die Pflegestelle von H. kamen, involviert." Schon vor einem Jahr hat der Senat angekündigt, dass er eine neue Studie in Auftrag geben wolle, um die vielen offenen Fragen zu klären. Wie viele Pflegekinder wurden zum Opfer des staatlich beaufsichtigten Missbrauchs? Wann endete Kentlers Experiment? Und was wurde aus den Kindern? Die Studie aus dem Jahr 2016 konnte all das nicht beantworten, weil die Göttinger Wissenschaftler nicht zu allen Akten Zugang gewährt bekamen. Senatorin Scheeres versprach, sich darum zu kümmern. Doch bislang ist der Vertrag zwischen Senatsverwaltung und den Forschern nicht unterzeichnet.


Der tote Bruder

Marco und Sven hoffen, dass die Strafanzeige nun endlich die Dinge ins Rollen bringt. Es spreche vieles dafür, dass der zuständige Jugendamtsmitarbeiter von den pädophilen Neigungen des Fritz H. wusste, sagt Marcos Anwalt, Sven Peitzner. Sollte dies der Fall sein, habe der Beamte schwere Schuld auf sich geladen. In der Anzeige heißt es: "Dass er von H.s Zugehörigkeit zum Kentler'schen Experiment nichts gewusst hatte, ist unplausibel." Der ehemalige Sozialarbeiter bestreitet das. Er wisse zwar, wer Kentler sei, aber von dessen Experiment habe er nie gehört. An Fritz H. erinnert er sich: "Ich hielt ihn damals für geeignet. Er hat sich um die Kinder gekümmert, die andere nicht genommen haben." Von seinen etwaigen pädosexuellen Neigungen aber habe er nichts gewusst, sagt er. Er erinnert sich sogar noch, dass er in H.s Wohnung gewesen sei. "Aber klar, er war immer dabei, wenn ich mit den Kindern gesprochen habe." Er verweist darauf, dass H. schon Pflegevater gewesen sei, als er die Akte übernommen habe - und er nur noch "genehmigt habe".

Schneekugel mit Erinnerungsfoto von Sascha: Er konnte sich kaum bewegen, nicht reden

Schneekugel mit Erinnerungsfoto von Sascha: Er konnte sich kaum bewegen, nicht reden

Foto: Nele Martensen / DER SPIEGEL

Die Brüder wollen, dass der Senat endlich Verantwortung übernimmt. Es geht ihnen auch um Sascha(*). Sascha ist ein weiterer Pflegebruder, er lebte über Jahre mit Marco und Sven bei H. Er war mehrfach behindert, konnte sich kaum bewegen, nicht reden.

Er ist ihnen wichtig. Marco hat eine Schneekugel mit einem Foto von Sascha im Wohnzimmerregal stehen. Sven hat dessen Teddybären aufbewahrt, es ist das einzige Spielzeug, das er aus der Zeit noch hat.

Die beiden kümmerten sich um Sascha, fütterten ihn, eine Pflegekraft gab es nicht. Was er genau hatte, wissen sie nicht. Sascha röchelte ständig, hatte Schleim in den Atemwegen, Marco musste ihn zweimal reanimieren. Danach wachte er nachts immer auf, schaute nach dem Jungen.

Sven sagt, Sascha sei von H. vernachlässigt worden. Er starb 2003 "an einer einfachen Lungenentzündung".

Danach zog H., er war 62 Jahre alt, nach Brandenburg. Marco hatte von da an keinen Kontakt mehr zu ihm, besuchte ihn nur einmal im Krankenhaus, vor zweieinhalb Jahren etwa. H. war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, ein Bekannter hatte ihm Bescheid gesagt. "Ich wollte ihm alles vorhalten, ihm klarmachen, was er für ein Psychopath war", sagt Marco.

"Und, hast du?", fragt Sven.

"Nee, ich stand vor ihm, und er meckerte wieder, wie früher, aber leiser", sagt Marco. Also schoss er nur zwei Fotos von H. und fuhr wieder nach Berlin. "Ich hab die Fotos danach angeschaut und mich gefreut, dass er so krank ist", sagt Marco. Später löschte er die Fotos, weil er sich beim Anschauen gemein vorkam.

"Als ich die SMS bekam, dass er tot ist, hab ich geweint, sehr stark sogar", sagt Sven. Aber nicht um den Mann, fügt er an. "Ich war irgendwie erleichtert." Er dachte, er könne endlich abschließen.

"Ihr hattet ja auch immer noch Kontakt", sagt Marco.

"Ja, telefonisch", sagt Sven, "immer noch, weil..." Er bricht ab: "Das ist doch krank, Mann, dass ich mit dem noch Kontakt hatte." Sven weint.

"Ich habe immer gedacht, ich bin dem Mann was schuldig", sagt Sven, H. habe ihn immerhin von der Straße geholt. Dieser Mann, sagt er, sei doch sein Vater gewesen.


*Name geändert.