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„Wir verlassen uns darauf, dass für uns gedacht wird“

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"Wer vage denkt, kann auch nur vage handeln. Denken ist eine Voraussetzung für richtiges Handeln", sagt Ernst Pöppel "Wer vage denkt, kann auch nur vage handeln. Denken ist eine Voraussetzung für richtiges Handeln", sagt Ernst Pöppel
"Wer vage denkt, kann auch nur vage handeln. Denken ist eine Voraussetzung für richtiges Handeln", sagt Ernst Pöppel
Quelle: Getty Images GEtty
Viele Erstsemester sind nicht studierfähig, beklagt Psychologe Ernst Pöppel. Das verschulte Studium führe oft zu einer „Scheinbildung“. Doch es gibt Rezepte gegen die selbst verschuldete Unmündigkeit.

Der Psychologe und Hirnforscher Ernst Pöppel hat gemeinsam mit seiner ehemaligen Doktorandin Beatrice Wagner das Buch „Traut euch zu denken“ geschrieben. Er kritisiert, dass sich viele Menschen zu unkritisch den Ansichten anderer anschließen und Dinge nicht ausreichend hinterfragen. Im Zeitalter digitaler Medien müssten in Schulen und Universitäten „Landkarten des Wissens“ und keine Wissenshäppchen vermittelt werden. Diese Wissenskarten seien die Voraussetzung für eigenes Denken.

Die Welt: Sie sind also der Ansicht, dass wir zu wenig denken?

Ernst Pöppel: Leider ja. Wir verlassen uns zu sehr darauf, dass für uns gedacht wird. Wir schließen uns zu bereitwillig Meinungen an, die andere bereits vorgeformt haben. Damit leben wir in selbst verschuldeter Unmündigkeit. Wer vage denkt, kann auch nur vage handeln. Denken ist eine Voraussetzung für richtiges Handeln – es ist gleichsam eine überlebenswichtige Dienstleistung unseres Gehirns. Gerade in der heutigen, turbulenten Zeit ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und selber über anstehende Fragen und die wichtigen Dinge des Lebens nachzudenken.

Der Psychologe und Hirnforscher Ernst Pöppel
Der Psychologe und Hirnforscher Ernst Pöppel
Quelle: privat/Random House

Die Welt: War es aber nicht schon immer so, dass sich Menschen gerne den Ansichten von Vordenkern angeschlossen haben? Vielleicht weil sie selber das Gefühl haben, die Zusammenhänge nicht so gut zu durchschauen, und lieber der Kompetenz anderer vertrauen?

Pöppel: Ich denke, es ist eher eine Frage der Trägheit. Die gehört wohl irgendwie zur menschlichen Natur. Beim Denken träge und faul zu sein wird in der buddhistischen Lehre als Ursünde bezeichnet. Ich schätze, dass nur rund zehn Prozent der Menschen selber denken und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Und das ist die Chance der Demagogen. Radikale Gruppierungen und einzelne Politiker können zunehmend völlig faktenfrei argumentieren und dennoch Anhänger gewinnen. Das Schlagwort von der postfaktischen Zeit macht längst die Runde. Wer jedoch aus Bequemlichkeit keinen Wert mehr auf Fakten legt, der geht in eine gefährliche Zukunft. Wir brauchen eine Renaissance der Aufklärung – eine Aufklärung im Sinne Immanuel Kants.

Die Welt: Sie schätzen, nur zehn Prozent der Menschen denken wirklich selber. Sind das weniger als noch vor einigen Jahrzehnten?

Pöppel: Mit Zahlen muss man da sehr vorsichtig sein. Der Anteil der denkenden Menschen lässt sich natürlich nicht exakt messen. Ich vermute jedoch, dass es hier schon immer so etwas wie eine 90/10-Regel gegeben hat. Neu ist jedoch der Einfluss der digitalen Medien. Diese übernehmen zunehmend eine Vordenkerfunktion – gerade auch bei Akademikern, von denen man eigentlich noch am ehesten annehmen sollte, dass sie selber denken wollen. Gerade in China, wo ich als Wissenschaftler arbeite, habe ich beobachtet, dass viele Intellektuelle froh sind, wenn sie sich nicht selber in die Offenheit des Denkens begeben müssen. Selber denken birgt natürlich immer auch ein Risiko.

Die Welt: Sie machen also das Internet und soziale Netze dafür verantwortlich, dass die Menschen weniger denken?

Pöppel: Die sozialen Netzwerke sind hier zumindest ein wichtiger Faktor. Jeder kann bei Twitter oder Facebook den größten Unsinn verbreiten. Der wird dann von bestimmten Empfängern bereitwillig und völlig unkritisch aufgenommen, wenn nur die eigenen Vorurteile bestätigt werden. Das ist die digitale Version des Rattenfängers von Hameln. Sich an anderen zu orientieren und Dinge nicht infrage zu stellen ist ja so bequem. Dem sich unkritisch anzuschließen, was andere schon gesagt haben, ist gefährlich. Wohin Massendenken führen kann, ist historisch bekannt. Besonders das Phänomen der sogenannten Shitstorms ist besorgniserregend. Da rennen Tausende oder Millionen Leute, ohne nachzudenken, einfach einer fragwürdigen Sache hinterher.

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Die Welt: Können die klassischen Medien einen Beitrag zur Versachlichung liefern?

Pöppel: Im Prinzip ja. Doch die Menschen sind nun einmal so gestrickt, dass sie Informationen am liebsten ohne jede Anstrengung und gratis erhalten möchten. Dem kommen die sozialen Netze sehr entgegen. Leider haben sich auch die klassischen Medien im Verlauf der digitalen Revolution verändert. Poppige Titelzeilen statt tiefgreifende Inhalte sind vielerorts die neue Oberflächlichkeit. Dieser Trend hat sogar schon die wissenschaftlichen Fachzeitschriften erreicht. Wenn man heute als Forscher keine plakative Überschrift über sein Manuskript schreibt, verringert sich die Chance für eine Veröffentlichung. Es geht auch in der Wissenschaft mehr und mehr um Aufmerksamkeitsmanagement.

Die Welt: Wie verändert das die Gesellschaft?

Pöppel: Es gibt in sozialen Systemen den Mechanismus der Selbstreparatur. Wenn eine Entwicklung zu sehr in eine bestimmte Richtung läuft, dann kommt es automatisch zu einer Gegenreaktion. In der Biologie nennen wir dieses Prinzip Homöostase. Ich arbeite als Hochschullehrer mit jungen Menschen zusammen, die meine Enkel sein könnten. Bei vielen von ihnen beobachte ich ein wachsendes Unbehagen und den Beginn einer Gegenbewegung. Sie merken, irgendwas stimmt nicht, und empfinden es als Fremdbestimmung, wenn sie permanent mit dem konfrontiert werden, was andere denken und sagen. Selber denken ist eine echte Alternative. Dann fühlt man sich abends auch nicht so leer. Wer selber denkt und handelt, muss sich nicht fragen, was er eigentlich den ganzen Tag gemacht hat. Es geht also auch darum, Zeit für das eigene Leben zurückzugewinnen. Ich habe in den USA ein 16 Jahre altes Enkelkind, das jetzt beschlossen hat, sich von allen sozialen Medien abzumelden. Das mache er nicht mehr, sagt er mir, weil er nicht fremdbestimmt sein wolle. Das hat mich beeindruckt. Ich mache mir also keine Sorgen über die Auswirkungen der sozialen Medien. Das wird sich alles von alleine regeln. Die Neugier und die Sehnsucht, Dinge selber zu machen und dabei kreativ zu sein, sind tief in der menschlichen Natur verankert.

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Quelle: Die Welt

Die Welt: Wenn die Menschen weniger denken, sind sie dann zugleich dümmer?

Pöppel: Wir haben die Chance, schlauer zu sein als frühere Generationen, wenn wir nur die Möglichkeiten der digitalen Welt richtig nutzen. Wir müssen an den Schulen und Universitäten mehr prozedurales Wissen vermitteln, das uns in die Lage versetzt, benötigte Informationen gezielt und schnell zu finden. Dazu benötigt man eine Landkarte des Wissens, ein Grundwissen, das Denken in verschiedene Richtungen erst ermöglicht.

Die Welt: Können Sie das mit einem Beispiel veranschaulichen?

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Pöppel: Nehmen wir die Medizin. Kein Arzt kennt die rund 5000 seltenen Erkrankungen, von denen ein Patient betroffen sein kann. Doch wenn ein Mediziner auf seiner Landkarte des Wissens diese Krankheiten im Blick hat, dann kann er im Netz Informationen abrufen, die ihm gegebenenfalls die richtige Diagnose ermöglichen. Das ist ein großer Fortschritt.

Die Welt: Das setzt aber voraus, dass der Arzt sich eingesteht, etwas nicht selber zu wissen?

Pöppel: Genau. Das ist tatsächlich ein Problem. Schlimmer ist allerdings, dass an Schulen und Universitäten die Vermittlung von Wissenslandkarten bislang vernachlässigt wird. Dort steht noch immer das Anhäufen von Wissenshäppchen im Vordergrund. Viel wichtiger wäre es, zu lernen, wie man bei Bedarf Wissen findet. Wissenskarten sind die Basis für selbstständiges Denken.

Die Welt: Von einem solchen Schul- oder Hochschulsystem sind wir aber weit entfernt?

Pöppel: Nach meiner Einschätzung sind sehr viele der Erstsemester gar nicht studierfähig. Es ist extrem frustrierend zu sehen, was da alles an grundlegendem Wissen fehlt. Eigentlich müssten sich da die Hochschullehrer auf die zehn Prozent Besten konzentrieren. Durch die Verschulung der Universitäten geht das aber nicht. Der Bologna-Prozess ist eine Katastrophe. Die meisten Studierenden belegen nur noch Kurse, wenn die betreffenden Scheine vorgeschrieben sind. Das führt dann im doppelten Wortsinn zu einer Scheinbildung.

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Quelle: Die Welt

Die Welt: Das klingt sehr pessimistisch.

Pöppel: Ja, kurzfristig bin ich das auch. Doch langfristig bin ich eher optimistisch. Die Neugier und die Sehnsucht nach eigenem Denken werden nicht aussterben. Professoren können das fördern. Sie müssen den Studierenden sagen: Versuche, mich zu widerlegen. Du sollst nicht nachbeten, was ich sage.

Die Welt: Sie appellieren also auch an die Hochschullehrer, ihr Verhalten zu überdenken?

Pöppel: Aber hoppla. Das ist mehr als notwendig. Die digitalen Medien könnten in der Welt der Academia insbesondere den Dialog zwischen den Teilkulturen fördern. Wissenslandkarten eröffnen die Möglichkeit des gemeinsamen Gesprächs und die Überwindung der Fachbezogenheit. Bislang gibt es in Deutschland zwischen Professoren unterschiedlicher Disziplinen selten kluge Gespräche, weil man dafür eingestehen müsste, dass man bestimmte Dinge nicht weiß. In manch anderen Ländern, wie nach meiner Erfahrung in Russland, ist das besser.

Die Welt: Selber zu denken hat noch einen ganz anderen Vorteil. Es soll vor Alzheimer schützen.

Pöppel: Ja, das ist richtig. Nicht zu denken ist in der Tat ein gesundheitlicher Risikofaktor. Nicht nur Sport, sondern auch Denken ist Gesundheitsprävention.

Die Welt: Haben Sie konkrete Ratschläge, wie man im Alter geistig fit bleibt?

Pöppel: Jeden Abend ins Tagebuch schreiben, was die besonderen Erlebnisse waren – das ist ein hervorragendes Denktraining und stärkt das Gedächtnis. Besonders zu empfehlen sind auch Gartenarbeit, Kochen und sogar Autofahren.

Wie man dem Vergessen vorbeugen kann

1,3 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Alzheimer. Die Krankheit zerstört langsam das Gehirn und führt zu Demenz. Bisher gilt Alzheimer als unheilbar. Vorbeugen kann man aber dennoch.

Quelle: Die Welt

Die Welt: Die Möglichkeit, Auto zu fahren, fällt weg, wenn es autonome Fahrzeuge gibt.

Pöppel: Zumindest mit Blick auf die Gesundheitsprävention ist das bedauerlich. Für viele Menschen, die im Berufsleben nicht kreativ waren und keine eigenen Entscheidungen treffen konnten, ist der Übergang in den Ruhestand sehr schwierig. Nicht wenige erleben eine ernste Lebenskrise und werden depressiv. Rechtzeitig darüber nachzudenken, dass nach der Pensionierung etwas Neues beginnt, verhindert den Sturz ins Nichts. Und noch etwas ist wichtig: Man sollte nicht vergessen oder gar verdrängen, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. Es lohnt, rechtzeitig darüber nachzudenken.

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