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Deutschland Organisierter Missbrauch

Sie sahen sich als progressiv – und beuteten Kinder sexuell aus

Politik-Redakteurin
Kinderstrich in Berlin: Szenenbild aus dem Spielfilm „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1981) Kinderstrich in Berlin: Szenenbild aus dem Spielfilm „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1981)
Kinderstrich in Berlin: Szenenbild aus dem Spielfilm „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1981)
Quelle: picture alliance / United Archiv
Eine Studie untersucht, wie vermeintlich progressive Netzwerke in Berlin Kinder von den 70er- bis in die Nullerjahre hinein sexuell missbrauchten. Pädophile Homosexuelle und linksautonome Projekte waren darin verstrickt. Ein Blick in menschliche Abgründe.

Ingo Fock will gar nicht so viel über sich erzählen an diesem Tag. „Ich bin Zeitzeuge und Betroffener, aber meine Geschichte ist eigentlich nur exemplarisch. Deshalb soll sie heute nicht im Fokus stehen“, sagt er. Nur so viel: Auch er habe Missbrauch erlitten in einem sogenannten pädophilen Freundeskreis. Später dann auch sexuelle Gewalt, auf dem Kinderstrich am Bahnhof Zoo in Berlin.

Mit dem Magazin „Fluter“ hat der heutige Vorsitzende des Vereins „Gegen Missbrauch“ einmal intensiver über diese Zeit gesprochen. Darüber, wie er, das vernachlässigte Trennungskind, im Alter zwischen sieben und 13 Jahren missbraucht und herumgereicht worden sei von einem Bekannten seiner Mutter. Nacktfotos, Streicheln, Küssen, Oralverkehr, Analverkehr – all das musste Fock erleiden. Dann den Kinderstrich. Als er 13 Jahre alt war, war er den Männern zu alt.

„Es war vollkommen normal, dass Kinder in Berlin-Kreuzberg nackt auf der Straße herumgelaufen sind“, sagt Ingo Fock, der als Kind selbst Opfer von Missbrauch in der Haupstadt wurde
„Es war vollkommen normal, dass Kinder in Berlin-Kreuzberg nackt auf der Straße herumgelaufen sind“, sagt Ingo Fock, der als Kind selbst Opfer von Missbrauch in der Haupstadt wurde
Quelle: via Ingo Fock

Das Berlin-Kreuzberg der 70er-Jahre sei ein Sammelsurium gewesen aus verschiedenen Bewegungen, sagt Fock. 68er, Hippies, die beginnende Schwulenbewegung. Sexuelle Selbstbefreiung wurde großgeschrieben, mit Slogans wie „Das Gesetz kennt Grenzen, die Liebe nicht“ oder „Freie Liebe für freie Menschen“. „Damit bin ich aufgewachsen“, sagt Fock.

„Es war vollkommen normal, dass Kinder in Berlin-Kreuzberg nackt auf der Straße herumgelaufen sind.“ Es war die Phase, als die sexuelle Befreiungsbewegung und die homosexuelle Emanzipationsbewegung perverse Ableitungen fanden in der Forderung pädosexueller Gruppierungen nach Straffreiheit sexueller Handlungen von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen.

Kommissionspräsidentin Sabine Andresen betont, dass pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde und Bergisch Gladbach kein neues Phänomen seien
Kommissionspräsidentin Sabine Andresen betont, dass pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde und Bergisch Gladbach kein neues Phänomen seien
Quelle: picture alliance / dpa

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat sich dieser pädokriminellen Netzwerke jetzt angenommen und eine umfangreiche Vorstudie vorgelegt. Nach der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der DDR sowie in Kirche, Sport und Familie ist es ein weiterer großer Schwerpunkt, den sich die beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung angesiedelte Aufarbeitungskommission vorgenommen hat.

Die von der Kunsthistorikerin Iris Hax und dem Kulturwissenschaftler Sven Reiß erstellte Vorstudie will eine erste Übersicht über Organisationsformen, Vernetzungen und Debatten der damaligen Akteure bieten und stellt deren Vorgehensweise und Rechtfertigungsstrategien dar. Das Schlaglicht fiel dabei auf Berlin von 1970 bis Anfang der 2000er-Jahre; darüber hinaus sieht die Kommission großen Bedarf für eine bundesweit angelegte Recherche.

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Doch die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen betont schon jetzt, dass pädokriminelle Netzwerke wie in Lügde und Bergisch Gladbach kein neues Phänomen seien: „Organisierte Strukturen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche haben sich bereits vor dem Internetzeitalter formieren und über lange Zeiträume etablieren können. Dies wird an der Recherche deutlich.“

„Viele lose Fäden“ hätten sich bei der Recherche ergeben, sie sollten durch Archivarbeit und Zeitzeugengespräche zusammengeführt werden. Am Beispiel Berlin werde deutlich, wie die pädosexuellen Akteure die Debatte über die Entkriminalisierung männlicher Homosexualität für ihre Interessen nutzten. Bündnispartner hätten sie außerdem im linksliberalen Milieu gefunden sowie in Berliner Kinderrechtegruppen und der linksautonomen Szene.

Als wertvolle Quelle habe sich dabei das Archiv des Schwulen Museums Berlin erwiesen, sagte Studienautor Sven Reiß. Die Akteure dort machten bereits seit 2011 ihre Quellen wissenschaftlich nutzbar und übernähmen damit Verantwortung für eine „komplexe Verwobenheit der vor allem männlichen Homosexuellenbewegung mit der pädosexuellen Szene“.

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Dazu gehörten etwa auch umfangreiche Bestände der seit 1979 existierenden „AG Pädophilie“ – etwa Szeneschriften, Fotomaterial, Briefwechsel, Tagebuchskizzen und andere Schriftstücke. „Für die Aktivisten bot die Archivierung eine Möglichkeit, sich als legitimer Teil einer gemeinsamen Bewegungsgeschichte zu verorten“, sagt Reiß. Die Auswertung ermögliche einen „tiefen Einblick in deren Lebenswelt“.

So hieß es in einer Selbstdarstellung der „AG Pädophilie“: „Die Päderastie stellt in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen eine Kombination des Vaters, Freundes, Lehrers und sexueller Liebe dar, je nach persönlichem Hingabevermögen der Partner … Wenn aber ein Teil der zwischenmenschlichen Beziehungen, nämlich die Sexualität, der Verfolgung und damit der teilweisen Verhinderung unterliegt, ist es Aufgabe einer engagierten Gruppe für die gesellschaftliche Anerkennung der Pädophilie einzutreten.“

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Die Reform des Homosexuellenparagrafen 175 im Jahr 1969 habe diejenigen befeuert, in diesem Zuge auch das Narrativ einer pädosexuellen Emanzipationsbewegung zu konstruieren, sagt Reiß. Verschiedene homosexuelle Organisationen hätten eigene Untergruppen für Pädosexuelle gehabt, so etwa der bis 1997 bestehende Bundesverband Homosexualität. In den Archiven fanden sich auch Reise- und Szeneführer, in denen Orte der Kinder- und Jugendprostitution konkret benannt wurden. Missbrauchszeitschriften wie „Pikbube“, „Ben“ oder „Peter“ warben mit Anzeigen wie „Boy 12, Knabe 18 und dessen Erzieher. Schärfster Sex!“.

Einen weiteren Schwerpunkt der Vorstudie bildeten die Berliner „Kinderrechtegruppen“ und „-projekte“ sowie die linksautonome Szene, teilweise Ableger der Nürnberger „Indianerkommune“. Die sogenannten Kinderrechtegruppen suchten gezielt Kontakt zu Kindern und Jugendlichen, die aus Heimen oder von zu Hause weggelaufen waren und auf der Straße lebten. Deren Unterstützung wurde daraufhin als „Befreiung“ des Kindes von kleinbürgerlichen Familien- und Unterdrückungsverhältnissen bezeichnet.

Die Recherche deutet jedoch an, dass es bei der Unterbringung der Mädchen und Jungen in Wohnungen primär um deren sexuelle Ausbeutung ging. „Dieses Vorgehen ist als Täterstrategie bekannt“, sagt Studienautorin Hax. Hinter dem vorgeblichen Kampf für „Kinderrechte“ sei es immer auch um die Forderung nach „freiwilligem Sex“ mit Erwachsenen gegangen. Auch Frauenprojekte waren daran beteiligt – etwa die „Kanalratten“, eine Gruppe pädosexueller Frauen aus der Lesbenszene, die Straßenkinder bei sich aufnahmen.

Sogar die Berliner Senatsverwaltung war in den organisierten Kindesmissbrauch verwickelt. Auf Anraten des Sozialpädagogen Helmut Kentler wurden in Berlin ab Ende der 60er-Jahre Pflegekinder gezielt bei pädosexuellen Männern untergebracht. Das „Kentler-Experiment“ ist inzwischen bereits umfangreich von der Universität Hildesheim aufgearbeitet worden.

„So etwas hört nicht auf“

Im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach ist ein zentraler Angeklagter zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Im Interview mit WELT bewertet Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, das Urteil aus Sicht der Kinderschützer.

Quelle: WELT/Fanny Werther und Alexander Siemon

„Liberalisierung und Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen ist in unserer Gesellschaft positiv konnotiert. Vor diesem Hintergrund war und ist es für Betroffene sexueller Gewalt schwer, Gehör zu finden, wenn es um die Schattenseiten dieser gesellschaftlichen Entwicklung geht“, sagt Kommissionsvorsitzende Andresen.

Die Vorstudie ist für die Aufarbeitungskommission Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung im Bereich der Jugendämter und verschiedener Wissenschaftsbereiche. Auf einem Symposium am 1. Juni soll es dazu einen gemeinsamen Austausch mit Zeitzeugen, Wissenschaftlern und weiteren Experten geben.

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