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Prozess gegen polnische Historiker Holocaustforscher müssen sich entschuldigen

Zwei Wissenschaftler müssen Abbitte leisten: In ihrem Buch zur Judenverfolgung hatten sie einem polnischen Ortsvorsteher Kollaboration mit den Nazis vorgeworfen – ein Warschauer Gericht rügte eine Ungenauigkeit.
Deportation Warschauer Juden (1943): Verraten, erpresst, ermordet

Deportation Warschauer Juden (1943): Verraten, erpresst, ermordet

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DPA

»Danach ist nur Nacht« ist keine leichte Lektüre. Die 1700 Seiten in zwei Bänden richten sich an ein akademisches Publikum. Es sind erschütternd detaillierte Regionalstudien aus einem der dunkelsten Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte: 1943 halten die Nazis Polen besetzt, haben viele Tausend Juden bereits ermordet, in Konzentrationslager deportiert und die Gettos brutal geräumt. Etwa 300.000 konnten vorerst entkommen und irren durch die Wälder, auf Hilfe nicht jüdischer Polen angewiesen. Viele schützen und verstecken sie, unter Lebensgefahr, denn darauf steht die Todesstrafe. Andere verraten die hilflosen Menschen, liefern sie der deutschen Vernichtungsmaschinerie aus.

Die Fachwelt ist von diesem 2018 veröffentlichten Werk zur Aufarbeitung angetan: »Danach ist nur Nacht« bringe der Forschung zum Holocaust einen »enormen Wissenszuwachs« , schreibt etwa der Historiker Ingo Loose vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin – und trotzdem müssen sich die Autoren jetzt für ihr Schaffen entschuldigen. Dazu hat ein Warschauer Gericht die beiden Geschichtsprofessoren Barbara Engelking und Jan Grabowski in einem aufsehenerregenden Prozess verurteilt.

Geklagt hatte Filomena Leszczynska, 80, aus dem winzigen Flecken Malinowo in Ostpolen. Sie stößt sich daran, dass Engelking und Grabowski ihrem längst verblichenen Onkel Edward Malinowski Kollaboration vorgeworfen haben. Er soll mitschuldig gewesen sein an der Ermordung einiger Dutzend Juden, darunter Frauen und Kinder.

Polen wurden Opfer der Deutschen

Vor Gericht ging es um eine winzige, nur wenige Zeilen lange Passage. Dabei ordnet sich der Zivilprozess in einen seit Jahrzehnten währenden Streit über die polnische Geschichte ein. Vor allem sind Polen, ob Juden oder nicht, Opfer der Deutschen im Zweiten Weltkrieg geworden. 6500 Polen verzeichnet die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als Judenretter. Doch es gab auch das Gegenteil: In welchem Ausmaß unterstützten Polen die Deutschen beim Massenmord?

Die regierungsnahe Stiftung »Festung des guten Namens« hatte Filomena Leszczynskas Klage angeregt und die Kosten übernommen. Die Anwälte argumentierten vor Gericht, Onkel Edward sei in Wirklichkeit ein Judenretter gewesen. Leszczynska sehe durch die Passage im Fachbuch die Erinnerung an den Verwandten herabgewürdigt.

100.000 Zloty (22.500 Euro) forderten die Anwälte als Entschädigung. Dieser Forderung gab das Gericht in seiner – noch nicht rechtskräftigen – Entscheidung allerdings nicht statt. Engelking und Grabowski sollen aber bei Leszczynska Abbitte leisten: wegen »Angabe ungenauer Informationen« bei der historischen Arbeit. Auch solle der Absatz im Buch, der sich mit ihrem Onkel befasst, in kommenden Ausgaben geändert werden.

Die beiden Historiker, die auch am Zentrum für Holocaustforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften tätig sind, wollen in Berufung gehen, weil sie mit einigen Formulierungen aus der verlangten Entschuldigung nicht einverstanden sind. Barbara Engelking zeigte sich aber erleichtert, dass es keine Geldstrafe gab – sonst hätte sie ihre »Wohnung verkaufen müssen«. Wer wissenschaftliche Bücher schreibe, habe auch das Recht, Fehler zu machen. Das werde normalerweise durch Rezensionen geklärt oder in einer zweiten Ausgabe berichtigt, aber nicht vor Gericht verhandelt.

Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt waren ihnen beigesprungen: Die Freiheit der Forschung sei in Gefahr, wenn Gerichte entschieden, was Wissenschaftler schreiben dürften oder nicht. So warnte Eva Schlotheuber vor einem »enormen Einschüchterungspotenzial«: Für die Gesellschaft entstehe ein großer Schaden, wenn fundierte Forschungsergebnisse »nicht im wissenschaftlichen oder öffentlichen Diskurs verhandelt werden, sondern vor Gericht«, sagte die Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD). Auch der Jüdische Weltkongress kritisierte das Urteil: Es sei »einfach inakzeptabel, wenn Historiker Angst haben müssen, glaubwürdige Aussagen von Holocaust-Überlebenden zu zitieren«.

Monumentales Geschichtsbild

Die nationalkonservative Regierung in Warschau steht ohnehin im Ruch, die Geschichte zu politischen Zwecken zurechtruckeln zu wollen. Die polnische Rechte ist seit Langem der Auffassung, Polens historisches Image sei international unverdient schlecht. Und damit liegt sie nicht grundsätzlich falsch: Erschütternd wenig bekannt ist etwa in Deutschland, da sind sich Historiker ziemlich einig, die Tatsache, dass die Nazis nicht nur polnische Juden, sondern auch nicht jüdische Polen massenhaft und systematisch ermordeten.

Ebenfalls zu Recht ärgert man sich in Polen über den schlampigen Gebrauch der Wendung, jemand sei in ein »polnisches Konzentrationslager« gebracht worden, wenn gemeint ist, jemand sei in ein deutsches Konzentrationslager auf dem Boden des besetzten Polen deportiert worden. In Polen gab es keine von den Nazis eingesetzte Quisling-Regierung, die beim Judenmord half.

Das Mittun polnischer Bürger fand eher auf der unteren Ebene statt: wenn Polen ihre jüdischen Nachbarn erpressten, sie ausraubten, im Stich ließen, an die Deutschen verrieten – oder sogar selbst ermordeten, wie im Juli 1941 beim Massaker von Jedwabne. Mit Billigung der Besatzer wurde dort die jüdische Gemeinde in eine Scheune getrieben und verbrannt. Ein Buch über diese Untat hatte schon im Jahr 2000 eine wüste Kontroverse in Polen ausgelöst, deren Ausläufer bis heute reichen.

Wir müssen auch den dunklen Seiten unserer Geschichte in die Augen sehen, sagen die einen. Den anderen ist das nicht recht. In den Augen der polnischen Rechtsnationalen, zu denen auch die »Festung des guten Namens« gehört, muss Geschichte monumental sein, die Heldentaten oder die Opfergänge der Polen betonen. Nur dann könne die Historie den Polen Zusammenhalt stiften.

Die nationalkonservative Regierung hatte vor rund zwei Jahren versucht, das Problem per Gesetz zu lösen. Strafbar sollten fortan Äußerungen sein, die Polen »faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen« zuschrieben, »die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden«. Dieses sogenannte »Holocaust-Gesetz« rief Protest unter Historikern auch in Israel und den USA hervor. Es hätte missbraucht werden können, um unliebsame Forschungspositionen zu unterdrücken, und wurde schließlich entschärft.

War Onkel Edward ein Kollaborateur?

Ob Edward Malinowski, der Onkel der Klägerin, wirklich ein Kollaborateur war und Juden an die Deutschen verraten hat, dürfte kaum mehr zu klären sein. 1950 hatte ein polnisches Gericht ihn von diesem Vorwurf freigesprochen.

Zu seinen Gunsten hatte auch eine Jüdin ausgesagt. Später sagte die Zeugin, sie habe Malinowski vor der Todesstrafe bewahren wollen und deshalb ihre Erinnerung geschönt. Möglicherweise hat auch ein anderer die Tat begangen. In dem Dorf trugen viele den Nachnamen Malinowski.

Ob Malinowski nun Verräter oder Retter war – am historischen Befund des Buches ändere dies nichts, so sieht es Historiker Loose: »Es gab Verrat, Kollaboration und Kooperation mit den Deutschen in zahlreichen Fällen. Da muss noch viel aufgearbeitet werden.« Dem Werk von Engelking und Grabowski zufolge könnten im Untersuchungsgebiet von neun Bezirken etwa 140.000 Juden die Phase der Massenmorde 1942 zunächst überlebt haben – nach dem Holocaust und dem Krieg seien es nur noch 2500 gewesen.