Am 15. Februar 1942 geschah das Unvorstellbare. Singapur, die größte Festung des Britischen Empire mit einer Garnison von fast 100.000 Mann, streckte vor einer nicht einmal halb so großen japanischen Streitmacht die Waffen, die sich mühsam ihren Weg durch den Dschungel von Malaya gebahnt hatte. Der Fall der für uneinnehmbar geltenden Kolonialbastion markierte den Anfang vom Ende des britischen Weltreichs.
Damit schließt dieses Kapitel in der Regel in europäischen Geschichtsbüchern. Die japanische Besatzungspolitik in Singapur und auf der Malaiischen Halbinsel bleibt ausgeblendet, nicht zuletzt weil japanische Akten für westliche Historiker kaum überwindliche sprachliche Hürden darstellen. Mit seiner Dissertation „Zwischen Kollaboration und Widerstand“ schließt der Heidelberger Historiker Takuma Melber daher eine Lücke. Als Sohn einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters hat er zudem Schneisen in japanische Archive und Literatur geschlagen, die den Blick auf eine nahezu unbekannte Episode des Zweiten Weltkriegs eröffnen: das Blutbad unter der überseechinesischen Community, das japanische Truppen kurz nach der Eroberung in Singapur begingen und das als Sook-Ching-Massaker in der chinesischen Literatur bezeichnet wird.
Eine Schlüsselfigur war General Saburo Kawamura. Der Kommandeur einer Brigade der japanischen 25. Armee war nach dem Fall der Festung zum Oberbefehlshaber der Garnisonstruppen im Stadtkern von Singapur ernannt worden. In dieser Funktion setzte er den Befehl um, „die wehrhafte männliche überseechinesische Bevölkerung Singapurs zu eliminieren“. Nach Kriegsende wurde ihm dafür in Singapur der Prozess gemacht, der mit dem Todesurteil endete. Wie sein privates Tagebuch belegt, verstand sich Kawamura bis zuletzt als Opfer von Krieg und Siegerjustiz.
Am 17. Februar 1942, zwei Tage nach der Kapitulation Singapurs, erhielt Kawamura mit seiner Beförderung den Befehl zu einer „Säuberungsoperation“, die vom 21. bis zum 23. Februar durchzuführen sei. Danach sollten fünf Zielgruppen ausgemacht, zusammengetrieben und an Ort und Stelle hingerichtet werden: 1. ehemalige Rekruten der Freiwilligeneinheiten (die zur Verteidigung Singapurs aufgestellt worden waren), 2. Kommunisten, 3. Plünderer, 4. Personen, die Waffen bei sich trugen oder verbargen, sowie 5. alle Personen, die den japanischen Vormarsch stören und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung beeinträchtigen würden, was sehr weit gefasste Interpretationen zuließ. Zur Durchführung standen Einheiten der gefürchteten Militärpolizei (Kempeitai), Hilfstruppen aus regulären Einheiten und Sonderabteilungen (Keibitai) bereit.
Fünf Sammelstellen wurden eingerichtet, an denen sich alle chinesischstämmigen Einwohner Singapurs am 21. Februar einzufinden hatten. Soweit bekannt ist, wurden Alte, Frauen und Kinder bald wieder nach Hause geschickt, schreibt Melber. Zurück blieben Männer zwischen 18 und 50 Jahren. Diese hatten jeweils drei Kontrollpunkte zu durchlaufen, an denen sie Fragen beantworten mussten und von maskierten Spitzeln überprüft wurden. „Teils wurden Personen sehr rasch, teils nach mehrstündigen oder gar mehrtägigen Untersuchungen zu den Exekutionen ausgewählt.“
Besonders verdächtig waren Menschen mit Tätowierungen, die als Mitglieder von Geheimgesellschaften galten, Männer, die Englisch sprachen oder als Studenten oder Intellektuelle identifiziert wurden. Dafür reichte es schon, wenn jemand sehr gut gekleidet war oder eine Brille trug. Im Zweifel wurden Verdächtige eher exekutiert als verschont.
Die Ausgesonderten wurden dann zu den Stränden der Insel transportiert und im Wasser stehend oder auf See erschossen oder enthauptet. Ähnliche Säuberungen begannen auch kurz darauf auf der Malaiischen Halbinsel. Allein in Singapur sollen der „Großen Inspektion“, wie die Japaner die Aktion verharmlosend nannten, 6000 bis 10.000, nach manchen Schätzungen bis zu 25.000 Menschen zum Opfer gefallen sein – bei einer chinesischstämmigen Einwohnerschaft Singapurs von etwa 600.000.
Verglichen mit den beiden bekannten Massakern, die japanische Soldaten auf dem pazifischen Kriegsschauplatz verübten – 1937 starben in Nanking rund 200.000 Menschen, 1945 in Manila etwa 100.000 – waren das zwar niedrigere Zahlen. Aber die Motive und Ursachen für die Kriegsverbrechen waren die gleichen. Auch die Bilder ähnelten sich. Wie in Nanking wurden in Singapur abgeschlagene Köpfe zur Schau gestellt, um ein warnendes Beispiel zu geben.
Wie viele seiner Kameraden sah sich Kawamura bis zuletzt durch das Senioritätsprinzip und den unbedingten Gehorsam gegenüber Autoritäten entschuldigt, die ihm die menschenverachtenden Befehle gegeben hatten. Daneben zählt Melber die „Pervertierung der Tugenden des militärischen Ehrenkodex Bushido, die Radikalisierung panasiatischer Ideen, die gegen den Westen gerichtete Haltung und ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen (asiatischen) Ethnien, insbesondere gegenüber den Chinesen“ als treibende Faktoren auf. Diese „Werte“ wurden japanischen Soldaten mit physischer wie psychischer Gewalt eingetrichtert, sodass zum Beispiel viele in blinder Loyalität und Pflichterfüllung auf dem Schlachtfeld lieber den Freitod wählten als sich zu ergeben.
Hinzu kam bei den Truppen, die in Singapur eingesetzt wurden, ein weiterer Faktor: die „China-Erfahrung“. Melber macht das am Beispiel Kawamuras und anderer Offiziere plausibel, die seit dem Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Krieges im Juli 1937 auf dem Festland gekämpft hatten und maßgeblich durch die „Versumpfung der militärischen Situation“ geprägt waren. Damit beschreiben Historiker einen Krieg, der weniger durch Fronten und Offensiven als durch einen blutigen Guerillakrieg, den Widerstand der Zivilbevölkerung sowie geografische und logistische Probleme geprägt war.
Als Japans Krieger zu Schlächtern wurden
Obwohl die kaiserlichen Armeen riesige Gebiete erobert und zahlreiche Armeen des chinesischen Generalissimus’ Tschiang Kai-schek vernichtet hatten, sahen sie sich immer weiter von ihrem Ziel entfernt. „Entsprechend war der Krieg im Denken Kawamuras und in Einklang mit den in der Armee konsensfähigen rassistischen antichinesischen Anschauungen ... bis zum Äußersten und unter Anwendung jedes Mittels zu führen“, folgert Melber. Diese „China-Erfahrung“ prägte das Handeln der japanischen Besatzungstruppen in Singapur.
Es gehört zu den Stärken seines Buches, dass Melber nicht vor einem Vergleich mit der deutschen Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkriegs zurückscheut. Gerade in der „Osterfahrung“ deutscher Truppen, die ab 1943 in Frankreich und Italien eingesetzt wurden, finden sich auffällige Parallelen. Diese Verbände, die den ideologisch begründeten Vernichtungskrieg im Osten geführt hatten, fielen durch ihren wesentlich brutaleren Umgang mit Widerstandskämpfern und Zivilisten auf. Auch die Technik des Tötens in der Sowjetunion und in China weist zahlreiche Parallelen auf. So drangen die Soldaten im Morgengrauen in die Dörfer ein, trieben die Bewohner zusammen und erschossen oder verbrannten sie.
Doch es gibt auch gravierende Unterschiede zwischen beiden Besatzungsregimen. Als die Japaner in Singapur landeten, hatten sie bereits mehr als vier Jahre Krieg in China hinter sich, länger als der Krieg gegen die Sowjetunion insgesamt dauerte. Dagegen wurde die deutsche Kriegführung im Osten von dem systematischen Mord an den Juden geprägt, der sich im Hinterland der Front abspielte und in den auch reguläre Kampfverbände eingebunden waren. Die Gewalt der japanischen Besatzer wurde dagegen stark situativ bestimmt.
Anders als in der japanischen Armee brachte die deutsche Vernichtungspolitik eine Oppositionsbewegung in der Wehrmacht hervor, die bereit war, den Aufstand gegen ihre als verbrecherisch erkannte Führung zu wagen. Derartige Einsichten blieben den Soldaten des Tenno fremd, was einiges über die prägende Kraft ihrer Traditionen aussagt. In den Notizen, die Saburo Kawamura in der Todeszelle schrieb, betonte er noch einmal seine absolute Gefolgschaft und Loyalität gegenüber seinen Vorgesetzten, seinem Heimatland und dem Tenno bis in den Tod.
Takuma Melber: „"Zwischen Kollaboration und Widerstand. Die japanische Besatzung in Malaya und Singapur (1942-1945)“. (Campus, Frankfurt a. M./New York. 648 S., 49 Euro)
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Dieser Artikel wurde erstmals 2018 veröffentlicht.