Feuer-Inferno von Notre-Dame: Warum hier mehr brannte als nur ein Gebäude

Das Feuer-Inferno von Paris: Der gesamte Dachstuhl von Notre-Dame steht in Flammen, auch der Spitzturm brennt

Das Feuer-Inferno von Paris: Der gesamte Dachstuhl von Notre-Dame steht in Flammen, auch der Spitzturm brennt

Foto: AFP
Von: Alexander von Schönburg

Abgebrannt ist Notre-Dame – Gott sei Dank – nicht. Das schon seit Jahren vor sich hinrottende Gebäude wird dank Millionenspenden nach der Restaurierung vielleicht sogar in neuem Glanz erstrahlen. Entwarnung also? Nein. Der Schock sitzt tief.

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Der Brand eines der großen Bauwerke des Mittelalters offenbart eine fundamentale Furcht. Notre-Dame ist ein Symbol unserer europäischen Kultur. Der Psychologe Christian Lüdke, den BILD fragte, warum wir einerseits das Verhungern von Kindern in der Dritten Welt klaglos erdulden, andererseits aber in Klagerufe verfallen, wenn ein Gebäude brennt, sagt: „Da brannte mehr als ein Gebäude. Viel mehr! Notre-Dame und vergleichbare Bauwerke sind nicht einfach aufeinander geschichtete Steine, sie sind Symbole. Ein Symbol ist psychologisch das äußere Zeichen einer inneren Verpflichtung. So, wie ein Ehering ein Symbol dafür ist, Verantwortung füreinander zu übernehmen.“

Symbole sind sichtbare Zeichen unserer Identität!

In Paris brannte ein Teil unseres geistigen Erbes. Und von diesem Erbe, von unserer Identität, ist das Christentum nicht wegzudenken.

Verkohltes Gebälk bedeckt am Tag nach dem Inferno den Boden der Kathedrale

Verkohltes Gebälk bedeckt am Tag nach dem Inferno den Boden der Kathedrale

Foto: - / AFP

Wenn eine der wichtigsten Kirchen des Abendlandes brennt, spürt man, dass da mehr auf dem Spiel steht als der Verlust eines architektonisch einmaligen Baudenkmals. Der Brand von Notre-Dame führt vor Augen, was verloren geht, wenn das Christentum aus Europas Herz schwindet. Ist dieser Brand vielleicht selbst ein Symbol?

Das ganze Christentum Europas ist ja gerade dabei, seine Rolle als Leitplanke unserer Kultur einzubüßen. Anders gesagt: Das Christentum fackelt ab. Und wir schauen hilflos, zum Teil mitleidslos, sensationslüstern, vielleicht sogar schadenfroh zu. Können wir uns das leisten? Kann Europa ohne seine geistigen Grundlagen bestehen? Geht uns da nicht nur unserer moralischer Kompass, sondern auch ein Teil unserer Identität verloren?

20 Männer im EinsatzMutige Feuerwehr im Inneren von Notre Dame

Quelle: BILD/AP/Reuters

Dass dieser Brand sich ausgerechnet in der Woche vor unseren Augen abspielte, in der Christen weltweit dem Leiden und Sterben von Jesus Christus gedenken, ist an symbolischer Kraft geradezu ein ironischer Wink des Schicksals. Verraten wurde Jesus, wenn man die Bibel genau liest, übrigens nicht von äußeren Feinden, sondern von einem Mann aus seinem innersten Zirkel.

Auch die Rolle der römisch-katholischen Kirche als moralische Autorität wird derzeit nicht so sehr von Kirchenfeinden in Schutt und Asche gelegt als vielmehr von Männern im innersten Zirkel des Vatikans selbst. Sexuelle Gewalt, Vertuschung, Bereicherung – das Sündenregister ist lang. Rom brennt schon lange lichterloh. Und die Abkehr vom Christentum ist dramatisch. Der Historiker Stéphane Bern, der von der französischen Regierung beauftragt ist, Geld für die Restaurierung historischer Gebäude zu sammeln, formuliert es so: „Vor 100 Jahren war Notre-Dame voller Gläubiger, die dort beteten, dazwischen ein paar versprengte Touristen, die sich für das Gebäude interessierten. Heute ist es genau umgekehrt: Millionen Touristen, die nach Notre-Dame zum Sightseeing kommen, dazwischen ein paar verlorene Gläubige, die dort beten.“

Der Blick in die Feuer-Katastrophe: Die Dachkonstruktion brannte lichterloh, konnte über Stunden nicht gelöscht werden

Der Blick in die Feuer-Katastrophe: Die Dachkonstruktion brannte lichterloh, konnte über Stunden nicht gelöscht werden

Foto: HANDOUT / Reuters

Die weltberühmte Fassade der Kathedrale blieb von den Flammen verschont

Die weltberühmte Fassade der Kathedrale blieb von den Flammen verschont

Foto: Dan Kitwood / Getty Images

Immer mehr Kirchen werden geschlossen, in Frankreich vergeht keine Woche, in der Kirchen nicht Opfer von Vandalismus werden. Zuletzt brannte eine andere berühmte Pariser Kirche, Saint-Sulpice, bekannt aus der Verfilmung des Dan-Brown-Romans „Sakrileg“. Die Ursache: Brandstiftung.

Es heißt, dass hier militante Kirchengegner am Werk waren. Der Pariser Politikwissenschaftler Philippe Portier vermutet eine „satanistische Bewegung“ hinter den sich häufenden Anschlägen auf französische Kirchengebäude. In deren Ideologie, sagt Portier, sei das Christentum eine „Moral der Schwachen“, die überwunden werden müsse. Das, was da gerade geschieht, sollte auch jene beunruhigen, die mit Religion nichts am Hut haben. Die postmoderne, von Religion losgelöste These der Neuzeit lautet: Es gibt nicht die eine Wahrheit, es gibt unendliche viele, gleichberechtigte Sichtweisen auf die Welt. Die Konsequenz daraus ist, in letzter Konsequenz, einigermaßen beunruhigend: Wenn es die eine, große Ordnung nicht gibt, warum nicht gleich alles dem Erdboden gleichmachen, was nach „alter Ordnung“ riecht? Das große Tabula rasa!

Das Dach brannte ab, Steine und Holz krachten herunter

Das Dach brannte ab, Steine und Holz krachten herunter

Foto: POOL / Reuters

Wir dekonstruieren derzeit alles. Religion. Familie. Moral. Sexualität. Die Geschlechter. Alles. Wir schmeißen alles, was jemals galt, aus dem Fenster. Was bleibt ist Nihilismus. Da gilt nichts mehr. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Um es mit Nietzsche zu sagen: „Gott ist tot. Wir haben ihn getötet – ihr und ich.“ Für den großen französischen Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980) war Atheismus die Voraussetzung von Freiheit und Humanismus. Der Mensch, so Sartre, ist zur absoluten Freiheit verdammt. Aber eine „Gesellschaft, in der Gott abwesend ist – eine Gesellschaft, die ihn nicht kennt und als inexistent behandelt, ist eine Gesellschaft, die ihr Maß verliert“, wie es der zurückgetretene Papst Benedikt XVI. einmal formuliert hat. Weiter heißt es bei ihm: „Uns wurde versichert, dass wenn Gott stirbt, ist die Gesellschaft endlich frei. In Wahrheit bedeutet das Sterben Gottes in einer Gesellschaft auch das Ende ihrer Freiheit, weil der Sinn stirbt, der Orientierung gibt. Und weil das Maß verschwindet, das uns die Richtung weist, indem es uns Gut und Böse zu unterscheiden lehrt.“

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Auch Nicht-Christen spüren, dass die Tabula rasa der Postmoderne die Substanz unsere Kultur bedroht. Die gute Nachricht: Die Grundstrukturen der Kathedrale von Notre-Dame stehen noch. So wie die kirchlichen Strukturen in Europa noch stehen. Aber die Gläubigen, die sie einst füllten, sie werden immer weniger. Wenn wir Fotos von Gebäuden wie Notre-Dame machen, dann finden wir sie nur dann interessant, wenn es Selfies sind, wenn wir selbst mit auf dem Foto zu sehen sind. Wenn wir im Mittelpunkt stehen. Vielleicht ist es an der Zeit, unsere egomane, auf Befriedigung unserer Gelüste, auf Konsum und Ich-Ich-Ich gerichtete Kultur zu überdenken. Vielleicht ist der Brand von Notre-Dame als Warnung zu verstehen, uns auf Grundkoordinaten unserer Kultur zu besinnen. „Wenn es Gott nicht gibt“, schrieb der große Russe Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), „dann ist alles erlaubt.“ Ich fürchte mich vor einer Zeit, in der alles erlaubt ist und der Mensch das einzige Maß aller Dinge ist.

Notre-Dame: Feuer im Wahrzeichen von Paris (16.4.2019)

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