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Pädophile Priester "Wie Blinde, die glauben, sehen zu können"

Wie hält man Priester davon ab, sich an Minderjährigen zu vergreifen? Was muss die katholische Kirche tun, um sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen zu verhindern? Präventionsexperte Klaus Beier von der Berliner Charité hat ein Konzept - nur im Vatikan will davon keiner etwas hören.
Nach dem Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg sieht sich die katholische Kirche in Deutschland heftiger Kritik ausgesetzt.

Nach dem Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg sieht sich die katholische Kirche in Deutschland heftiger Kritik ausgesetzt.

Foto: Maurizio Gambarini/ picture-alliance/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Sie leiten an der Berliner Charité ein Präventionsprojekt, in dem potentielle und tatsächliche Missbrauchstäter freiwillig eine Therapie machen. Wie verhindern Sie, dass Pädophile sich an Kindern vergehen?

Klaus Beier: Indem wir zunächst eine sehr detaillierte Diagnose erstellen. Das setzt kooperationsbereite Menschen voraus, die uns wahrheitsgemäß schildern, wie ihre Phantasien bei sexueller Erregung aussehen. Nur so können wir herausfinden, welche Präferenzen bestehen - welches Geschlecht bevorzugt wird, welche Praktiken und welches Körperschema.

SPIEGEL ONLINE: Und dann?

Beier: Anhand dieser Daten erstellen wir eine Gefahrenanalyse - welche Situationen im Alltag könnten sexuelle Übergriffe favorisieren? Und wie schafft es der Patient am besten, solche Situationen zu umgehen? Sehr häufig haben die Betroffenen eine - durch ihre eigenen Wünsche - verzerrte Wahrnehmung. Da unterstellt zum Beispiel ein homopädophiler Grundschullehrer, nur weil ein Schüler ihn öfter aufsucht, dass der Junge automatisch auch ein sexuelles Interesse an ihm hat.

SPIEGEL ONLINE: So einem Pädagogen würden sie aber doch hoffentlich empfehlen, seinen Job zu wechseln, oder?

Beier: Allerdings. Wenn er solche Gefahrensituationen nicht erkennt und adäquat darauf reagiert, muss er in einem anderen Umfeld arbeiten. Vor allem will ich die Betroffenen erreichen, bevor Sie ihre Berufswahl treffen. Wer verantwortlich mit seiner Neigung umgeht, wird immer entsprechende Konsequenzen ziehen, weil er selbst dafür Sorge tragen möchte, dass Kinder keinen Schaden nehmen.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind also der Überzeugung, dass Pädophile ihre sexuellen Impulse kontrollieren können?

Beier: Unbedingt. Das ist möglich, allerdings nur, wenn die Betreffenden es selbst wollen. Wie alle anderen chronisch Kranken müssen auch sie lernen, bewusst mit ihrer Erkrankung umzugehen. Wer das nicht kann und Kinder zu Leidtragenden seines Unvermögens macht, dem ist nur mit strafrechtlichen Mitteln beizukommen.

SPIEGEL ONLINE: Unter ihren Patienten waren auch Angehörige der katholischen Kirche. Ist Prävention unter Priestern überhaupt möglich?

Beier: Ja. Ich bin fest davon überzeugt, dass man pädophile Geistliche erreichen kann, bevor sie straffällig werden. Das geht aber nur, wenn die Kirche diesen Prozess unterstützt, nämlich indem sie akzeptiert, dass die pädophile Neigung an sich noch keine Sünde und Teil der göttlichen Schöpfung ist und die Betroffenen Hilfe brauchen. Niemand sucht sich eine solche Neigung aus, sie manifestiert sich - wie alle anderen sexuellen Präferenzen - im Jugendalter und bleibt dann bis zum Lebensende bestehen. Wir dürfen die Neigung allein nicht mit dem Missbrauch gleichsetzen. Wir müssen aber unbedingt dafür sorgen, dass aus Phantasien keine Taten werden.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es in der Kirche mehr Pädophile als in anderen Bereichen der Gesellschaft?

Beier: Man geht insgesamt von einem Prozent der männlichen Bevölkerung aus, das sind bundesweit etwa 250.000 Personen. Wie hoch der Anteil der Pädophilen in der katholischen Kirche ist, weiß man nicht genau.

SPIEGEL ONLINE: Einige US-Forscher gehen davon aus, dass Menschen mit psychotischer Veranlagung sich häufig von Priesterschaft und religiösen Riten angezogen fühlen. Sind die kirchlichen Ausbildungszentren ein Sammelbecken für psychisch Kranke?

Beier: Sicher nicht. Aber ich halte die Wahrscheinlichkeit für groß, dass ein Mensch mit konfliktbeladener Sexualität in der Kirche eine Heimstätte findet, weil er dort vor Fragen geschützt ist - warum hast du keine Freundin oder Frau, keine Familie? Dafür eignet sich der Zölibat besonders. Zudem erfährt ein Priester hohe gesellschaftliche Anerkennung - für die mir bekannten Geistlichen war das auf jeden Fall ein Grund, Priester zu werden. Die haben aus der Not eine Tugend gemacht ...

SPIEGEL ONLINE: ... und mussten angesichts der systematischen Vertuschung von Missbrauchsdelikten durch die Kirche in der Regel auch keine Strafverfolgung fürchten.

Beier: Da unterstellen Sie einen planvollen Umgang mit der Neigung. Das Problem ist doch aber gerade die fehlende bewusste Auseinandersetzung mit dem Problem.

SPIEGEL ONLINE: Was würde denn passieren, wenn die Kirche endlich offener und transparenter mit dem Thema umginge?

Beier: Das würde uns helfen, potentielle Pädophile viel früher auszumachen und ihnen rechtzeitig beizubringen, wie man das eigene Verhalten kontrolliert - bevor es Opfer gibt. Unsere jetzigen Patienten sind um die 40, wenn es gelänge, jüngere Männer mit bereits ausgeprägter Präferenzstruktur zu erreichen, wäre ein großer Schritt getan. Dazu müsste die Kirche fachgerechte Diagnostik und Therapie unterstützen.

SPIEGEL ONLINE: Und Sie meinen, die würden von den Betroffenen genützt?

Beier: Davon bin ich fest überzeugt, weil bei Priestern das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft ja eher stärker ausgeprägt ist. Es ist die fehlende Auseinandersetzung mit ihrer abweichenden Neigungen, die sie gefährlich macht. Sie unterschätzen die Dynamik ihrer Phantasien. Wie Blinde, die glauben sehen zu können - früher oder später fallen sie.

SPIEGEL ONLINE: US-Forscher wie David Finkelhorn gehen davon aus, dass ein streng hierarchisches Setting die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch generell erhöht.

Beier: Ein geschlossenes System mit klaren Gesetzen führt dazu, dass sich potentielle Täter in einer falschen Sicherheit wiegen. Sie glauben, wenn man den Regeln folgt, ist alles unter Kontrolle. Gleichzeitig haben sie eine geheime Welt - das sind ihre Phantasien.

SPIEGEL ONLINE: Viele Geistliche beginnen in jungen Jahren ihre Ausbildung und bleiben damit laut Experten psychosexuell oft auf der Stufe eines Teenagers stehen. Erleichtert das den Zugang zu den Opfern?

Beier: Viele Männer mit pädophiler Neigung gehen in der Kinderwelt auf und verbreiten eine Atmosphäre, die vermittelt, ich bin euch nah. Wie jeder Mensch wollen auch Pädophile eine Bindung schaffen, entsprechend ihrer sexuellen Präferenz.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben einen Brief an Papst Benedikt XVI. geschrieben, in dem Sie der Kirche Hilfe anbieten im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Hat sich der Vatikan über Ihren Vorstoß gefreut?

Beier: Nun, man hat sich bedankt, meinen Vorschlag zur Kenntnis genommen und mir mitgeteilt, dass man die Unterlagen zur Kurie weiterleiten wolle. Das ist allerdings schon über ein Jahr her.

SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten seit fünf Jahren in Ihrem Projekt. Zwar hat Papst Benedikt XVI. inzwischen sein Bedauern über die Missbrauchsfälle geäußert, ein Umdenken in der katholischen Kirche ist aber bisher nicht zu beobachten. Geht Ihnen manchmal die Geduld aus?

Beier: Ich weiß, dass sich diese Dinge nur sehr langsam entwickeln, erst recht in Kirchenkreisen. Damit muss ich leben. Aber ich bedaure es, weil ich weiß, wie man weitere Opfer vermeiden könnte.

Das Interview führte Annette Langer