«Die Krankheit ist unberechenbar, und sie wird weiterhin unterschätzt»: Intensivärztin Nora Christe hat alle vier Wellen der Corona-Pandemie erlebt

Die Oberärztin im Stadtspital Zürich Triemli kennt inzwischen das ganze Spektrum von Covid-19. Ihr ehemaliger Patient Alexander Ott schildert aus eigener Erfahrung, was ein schwerer Verlauf für Betroffene bedeutet.

Rebekka Haefeli (Text), Christoph Ruckstuhl (Bilder)
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«Die Patientinnen und Patienten mit Covid-19 sind in der vierten Welle jünger»: Nora Christe, Ärztin in der IPS des Spitals Triemli.

«Die Patientinnen und Patienten mit Covid-19 sind in der vierten Welle jünger»: Nora Christe, Ärztin in der IPS des Spitals Triemli.

«Wir haben derzeit noch drei Covid-Patienten. Heute Morgen ist ein Mann gestorben», erzählt Nora Christe, während sie ein grünes Häubchen über ihre Haare zieht, eine Schutzbrille überstreift und die chirurgische Maske gegen eine FFP2-Maske austauscht. Sie hat sich bereits einen groben Überblick über die Situation verschafft. Die Ärztin, die über den weissen Kleidern einen langen blauen Schutzmantel trägt, drückt auf einen Schalter an der Wand. Vor ihr öffnet sich mit einem mechanischen Geräusch die breite Flügeltür.

«Es macht einen traurig»

Nora Christe ist Oberärztin auf der Intensivpflegestation (IPS) im Stadtspital Zürich Triemli. Seit dem Beginn der Pandemie vor eineinhalb Jahren steht sie im Einsatz. Die Spitze war im April 2020 mit 19 Patientinnen und Patienten auf der Covid-IPS erreicht. Seither waren die Zahlen nie mehr so hoch. Doch die vierte Welle ist für Christe in mancher Hinsicht die berührendste. «Die Patientinnen und Patienten sind jünger geworden», sagt sie. «Im Schnitt sind sie nicht mehr zwischen 60- und 80-jährig, es sind auch junge Familienväter oder Mütter mit kleinen Kindern dabei.»

Der Mann, der an diesem Morgen verstorben ist, liegt in seinem Bett im Eckzimmer der IPS A. Jemand hat ein weisses Leintuch über seinen Körper und den Kopf gelegt. Die Angehörigen waren bei ihm, als sein Herz zu schlagen aufhörte, und konnten sich von ihm verabschieden. «Wir bringen ihn jetzt hinunter», sagt eine junge Pflegefachfrau im Korridor zu Nora Christe, die daraufhin nickt. Der Verstorbene wird in die Pathologie und, wenn es die Angehörigen wünschen, später in den Abschiedsraum gebracht.

Der Tod ist auf der Intensivstation gegenwärtig, auch in Zeiten ausserhalb der Pandemie. «Es macht einen immer traurig, wenn jemand stirbt», sagt Nora Christe an diesem Tag Mitte Oktober. «Was mich und das Team besonders belastet, ist die Tatsache, dass diese Erkrankung zu einem Grossteil vermeidbar wäre. Die Krankheit ist unberechenbar, und sie wird weiterhin unterschätzt.» Die jüngste Patientin, die Christe intubiert auf der IPS betreute, war 23-jährig und ungeimpft, wie an diesem Tag alle Corona-Patienten auf der Intensivabteilung im Triemli.

Skepsis gegenüber der Ärztin

«Für mich ist die Unwissenheit überraschend, mit der wir hier immer wieder konfrontiert sind. Manche Leute denken zum Beispiel, es gebe ein Heilmittel für Covid-19, andere sind uns gegenüber sehr skeptisch», erzählt die Ärztin. Man wisse mittlerweile selbstverständlich mehr über die Krankheit, doch sie bleibe unkalkulierbar. «Auch junge, vorher gesunde Personen sterben daran. Kürzlich wurde ich aus dem Umfeld eines schwerstkranken Patienten nach acht Wochen gefragt, ob ich sicher sei, dass es Corona sei.»

Die Krankheit entwickle sich oft in Wellen, erklärt Nora Christe; für die Angehörigen sei es dann schwierig, den Weg des Patienten nachzuvollziehen. Hoffnungsvolle Momente wechselten ab mit Enttäuschungen, gute Tage mit schlechten, denen manchmal keine besseren mehr folgten. Auch für das Ärzte- und Pflegeteam sei es nicht einfach, Situationen zu akzeptieren, in denen keine Anstrengungen und Therapien zum Ziel führten.

Bei Alexander Ott, einem früheren Patienten von Nora Christe, verlief die Covid-19-Erkrankung ebenfalls in Wellen. Sein Leben hing an einem seidenen Faden, doch es ging gut aus. Der 42-jährige Vater von zwei Kindern lag Anfang dieses Jahres auf der IPS im Triemlispital. Der ehemalige Anästhesiepfleger und Rettungssanitäter, der heute bei einer Online-Apotheke arbeitet, war sehr schwer erkrankt. Er erinnert sich:

«Angefangen hat es im Januar. Meine Frau, die Hausärztin ist, wurde positiv getestet; fünf Tage später auch ich. Wir nehmen an, dass sie sich trotz allen Schutzmassnahmen im Praxisumfeld angesteckt hatte. Damals gab es noch keine Impfung für die breite Bevölkerung. Meine Frau hatte nur leichte Symptome, und auch ich hielt mich zu Beginn recht gut. Am Wochenende bekam ich in der Nacht zunehmend Mühe mit Atmen; ich lag im Bett, und es fühlte sich an, als würde ich völlig untrainiert einen Berg besteigen.

In der Folge wurde es immer schlimmer, das Atmen fiel mir zunehmend schwer, und so wurde ich am 18. Januar als Notfall im Regionalspital aufgenommen, zuerst auf der Normal- und dann auf der Intensivstation. Als ehemaliger Rettungssanitäter wollte ich noch ein wenig mitreden, ich habe mitdiskutiert und die medizinischen Werte kommentiert. Mein Ziel war ganz klar, nicht intubiert zu werden. In der Nacht auf den 2. Februar verschlechterte sich mein Zustand, so dass morgens um halb sechs der Arzt an meinem Bett stand und mir erklärte, die einzige Option, um gesund zu werden, sei eine Intubation.

Der Gedanke, womöglich nie mehr aus der tiefen Bewusstlosigkeit aufzuwachen, kam mir an diesem Tag nicht. Doch ich verabschiedete mich von meiner Frau. Ich wurde dann in einem desolaten Zustand von der Rega ins Triemlispital verlegt, meine Lunge war sehr schwer entzündet. Ich bekam davon nichts mit, ich schlief meist wie ein Engel.»

«Ich war vollkommen kraftlos»: Alexander Ott lag Anfang Jahr mehrere Wochen lang im Triemli auf der IPS.

«Ich war vollkommen kraftlos»: Alexander Ott lag Anfang Jahr mehrere Wochen lang im Triemli auf der IPS.

ECMO als letzte Chance

Jeden Morgen um 9 Uhr 30 geht die Ärztin Nora Christe in der Corona-Intensivstation auf Visite. Zwei der drei Patienten, die an diesem Tag hier liegen, sind nicht nur intubiert, sondern auch an der ECMO, der Lungenersatz-Maschine. Wer Unterstützung durch das ECMO-Gerät benötigt, bekommt die «Maximaltherapie», wie es hier auf der IPS heisst, oder mit anderen Worten: Diese Patienten sind am schwersten krank von allen.

Die Intensivmedizinerin betritt eines der Zimmer. «Positiv» steht in grossen roten Buchstaben auf einem A4-Blatt, das am Eingang hängt. Der Patient ist Mitte sechzig und hat sich zusätzlich zum Coronavirus, das im Sekret seiner Lunge noch nachweisbar ist, mit einem multiresistenten Keim infiziert. Dieser darf von den Ärzten oder Pflegenden nicht zu einem anderen Patienten getragen werden.

Der Patient liegt regungslos auf dem Rücken im Bett, nur sein Brustkasten hebt und senkt sich regelmässig unter dem grünen Tuch. Der Beatmungsschlauch geht zur Beatmungsmaschine und ist im Gesicht mit Klebstreifen festgemacht. Die eine Kanüle der ECMO mündet in ein grosses Gefäss am Hals, ist dort festgenäht und zusätzlich am Kopf befestigt. Die zweite Kanüle der ECMO liegt in der Leiste. Über den Schlauch in der Leiste wird dem Körper das sauerstoffarme Blut entzogen, im ECMO-Gerät mit Sauerstoff angereichert und vom CO2 gereinigt. Im Anschluss daran wird das Blut über die Kanüle im Hals wieder zurückgeführt. Ohne die Lungenersatz-Maschine und ohne die Beatmung würde der Patient sterben.

Aufwendiges Umlagern

Die Oberärztin diskutiert während der Visite mit der Assistenzärztin und den zuständigen Intensivpflegepersonen den Krankheitsverlauf jedes einzelnen Patienten. Detailliert gehen sie die Laborwerte, Röntgen- oder CT-Bilder durch und besprechen, wie die Therapie optimiert werden kann. Sie reden auch darüber, auf wann Angehörige ihren Besuch angekündigt haben und welche Themen anstehen.

Der Patient am ECMO-Gerät sollte umgelagert werden, vom Rücken auf die Seite. Ein zusätzlicher Pflegefachmann kommt, um mitzuhelfen. «Die grösste Verantwortung trägt die Person am Kopf», erklärt Nora Christe, «sie muss dafür sorgen, dass alle Zugänge und Schläuche am richtigen Ort bleiben.» Das Umlagern dauert ungefähr zehn Minuten und ist offensichtlich anstrengend, nicht zuletzt weil alle, die anpacken, in Schutzkleidung gehüllt sind. Die Pflegefachfrau bedankt sich bei den Helfern. Sie sagt, sie werde die Kissen und Tücher, die untergeschoben werden, damit der Patient keine Druckstellen bekommt, dann noch allein «büschelen».

«Was fragen die für Blödsinn?»

In einem der Zimmer auf der IPS im Triemli lag auch Alexander Ott. Nach drei Wochen ging es ihm so weit besser, dass die Ärztinnen und Pflegenden einen Aufwachversuch wagten.

«Meine Frau besuchte mich jeden Tag auf der Intensivstation, sie las mir vor und spielte Musik ab. Eineinhalb Wochen lang war nicht klar, ob ich überleben würde. Das weiss ich nur aus Erzählungen, wie vieles andere aus dieser Zeit auch. Ich hatte hohes Fieber. Als ich kurz vor dem Valentinstag das erste Mal wach wurde, erkannte ich die Geräusche der IPS, die mir vertraut sind, da ich als Rettungssanitäter gearbeitet hatte. Ich nahm ausserdem den dicken roten Schlauch wahr, der von meiner Leiste über den Oberschenkel führte. Ich wusste sofort, dass ich an der ECMO hing und dass es knapp geworden war.»

Alexander Ott erlitt danach noch einen Rückfall. Nachdem sich seine Lunge vorübergehend etwas erholt hatte und das ECMO-Gerät hatte abgestellt werden können, musste er erneut an die Lungenersatz-Maschine. Wieder wurde er für eine Woche in einen Tiefschlaf versetzt. Dann folgte ein zweiter Aufwachversuch.

«Eigentlich bin ich sehr ruhig aufgewacht, ich befand mich in einer Art Dämmerzustand. Die Leute, die da waren, fragten mich dauernd eigenartige Dinge. Ich dachte nur: ‹Was fragen die mich für einen Blödsinn?› Im Nachhinein ist mir klar, dass sie mit ihren Fragen prüfen wollten, ob ich einen neurologischen Schaden erlitten hatte. Das war zum Glück nicht der Fall. Sonst aber war vieles nicht mehr so, wie es vorher gewesen war: Ich war vollkommen kraftlos und schaffte es nicht einmal, die Hand zu heben, um mich am Kopf zu kratzen.

Da meine Atmung noch zu schwach war, blieb ich vier Tage lang intubiert, während ich schon wach war. Ich musste trainieren, wieder selber zu atmen. Ich hatte einen grossen Mitteilungs- und Wissensbedarf, konnte aber nur schlecht kommunizieren, weil ich ja den Schlauch im Hals hatte. Die Pflegenden schauten sehr gut zu mir. Ich war aber erschüttert, was für ein Wrack ich war. Als ich das erste Mal am Bettrand sass, konnte ich meinen Kopf nicht heben. Ich war nicht mehr fähig, allein die Zähne zu putzen oder ein Glas Wasser zu trinken.»

Ein grosser Schritt

Nora Christe unterstreicht, jede Patientin und jeder Patient bekomme die gleich gute Behandlung, egal, wie seine Vorgeschichte sei. «Für Angehörige von schwerkranken Menschen auf der IPS, die sich weiterhin weigern, sich impfen zu lassen, kann ich wenig Verständnis aufbringen.» Solche Diskussionen seien zusätzlich zur täglichen Belastung sehr herausfordernd, räumt sie ein.

Christe besucht an diesem Morgen alle drei Covid-19-Patienten. Der zweite Patient ist etwas über fünfzig und seit zehn Tagen wach und nicht mehr intubiert. «Heute ist ein wichtiger Tag», sagt die Ärztin zum Patienten, als sie an sein Bett tritt. «Heute werden Sie mit der Ambulanz ins Regionalspital verlegt. Das ist ein grosser Schritt. Dann sind Sie wieder näher bei Ihrer Familie.» Der Mann scheint schwach, lächelt Nora Christe aber an. «Sie bleiben noch ein paar Tage im Spital, und dann gehen Sie in die Reha.»

An einer Stellwand neben dem Bett hängen Familienfotos und eine grosse Uhr. Mit Filzstift hat jemand geschrieben: «Sie sind auf der Corona-Intensivstation.» Viele Patienten seien verwirrt, wenn sie wach würden, erklärt Christe, als sie das Zimmer wieder verlassen hat. Man versuche, ihnen so viel räumliche und zeitliche Orientierung zu geben wie möglich. «Dieser Mann war ganz durcheinander. Er fühlte sich verfolgt und halluzinierte.»

Einsame Stunden in der Nacht

Auch Alexander Ott kam damals direkt von der IPS in die Rehabilitation. Die Verlegung erfolgte, eineinhalb Monate nachdem er als Notfall ins Spital eingetreten war.

«Ich wurde mit der Ambulanz in die Reha gebracht. Eineinhalb Wochen sass ich danach noch im Rollstuhl und war von Sauerstoff abhängig. Dann ging es aufwärts. Ich wurde neurologisch durchgecheckt und hatte ein strenges Programm mit Physio- und Ergotherapie, Atemtraining und Muskelaufbau. Das Schlimmste in der Reha war die rigorose Besuchsregelung. Meine Familie durfte nicht zu mir kommen, und ein Videoanruf ist einfach nicht dasselbe wie ein direkter Kontakt.

In der Nacht habe ich oft geweint. Kurz vor Ostern wurde ich entlassen, da ging es mir schon recht gut. Ein Stockwerk in unserem Haus zu überwinden, fiel mir jedoch noch schwer. Danach musste ich jedes Mal nach Luft japsen und mich ein paar Minuten ausruhen.»

Bald darauf begann er wieder zu arbeiten, zuerst 40, dann 60 und ab Juni 100 Prozent. Sein Team und sein Arbeitgeber hätten ihn unheimlich unterstützt, sagt er. Seine Familie habe auch von Freunden und Nachbarn viel Anteilnahme erfahren. Bei der Genesung, meint er, habe ihm das geholfen. «Meine Konzentrationsfähigkeit ist wieder top, nur joggen geht heute noch nicht gleich gut wie vorher», fasst er zusammen. «Ich kann von Glück reden, dass ich mich so gut erholt habe.»

Alexander Ott und seine Frau haben die Intensivstation im Triemlispital vor einiger Zeit noch einmal besucht. Das sei berührend gewesen, er habe die eine oder andere Pflegende erkannt, erzählt er. Die Oberärztin Nora Christe kann sich gut an ihn erinnern. «Die Geschichte, die wir hier mit ihm erlebt haben, war für das ganze Team schwierig. Als wir schon geglaubt hatten, er sei aus dem Gröbsten heraus, hatte er diesen Rückfall.»

Enge Bindungen

Die 39-Jährige sagt, es sei schön, hin und wieder Nachrichten von Patientinnen und Patienten zu bekommen, die entlassen worden seien. «Das hilft auch uns, schwierige Krankheitsverläufe zu verarbeiten.» Denn auch zu Menschen, die auf der IPS nicht bei Bewusstsein seien, entstehe eine enge Bindung. «Wir kennen unsere Patientinnen und Patienten sehr gut. Die Familien vermitteln uns viel über die Werte, die ihnen am Herzen lagen, als sie gesund waren.»

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