Interview

«Ich wüsste, wie der perfekte Mord geht, werde mich aber hüten, es jemandem zu verraten»

Während vierzig Jahren hat der Wiener Gerichtsmediziner Christian Reiter Leichen obduziert. Das Töten mit dem Messer habe enorm zugenommen, sagt er im Gespräch. Erwürgt und erdrosselt aber werde ohnehin immer.

Paul Jandl 6 min
Drucken
Christian Reiter

Christian Reiter

Christopher Mavrič

Herr Professor Reiter, aus aktuellem Anlass: Was sagen Sie als Gerichtsmediziner zu K.-o.-Tropfen?

Wenn ich mich selbst mit einer Substanz willentlich beeinträchtigen möchte, dann ist das mein persönliches Problem. Sterbe ich daran, habe ich eben Pech gehabt. Wenn ich aber jemand anderem bewusstseinsbeeinträchtigende Substanzen gebe und nichts über seine gesundheitliche Konstitution weiss, dann kann das sehr gefährlich werden. Es kann zum Beispiel zur Atemlähmung kommen. In Kombination mit Alkohol verstärkt sich die Wirkung noch. Um es im Fall von K.-o.-Tropfen juristisch zu sagen: Der Täter nimmt den Tod seines Opfers billigend in Kauf. Man könnte ihn wegen Mordversuchs anklagen. Die Justiz ist hier bisher viel zu milde gewesen. Niemand weiss genau, wie hoch die Konzentration bei den Präparaten wirklich ist, die man sich irgendwo im Internet besorgt. Der Tod des Opfers ist immer möglich.

In einem Gedicht des Rammstein-Sängers Till Lindemann, der wegen seines angeblichen Umgangs mit weiblichen Fans in der Kritik steht, liest man die Zeilen: «Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen.»

Solche Fälle habe ich zig Mal gehabt und begutachtet, wo Opfer mit Rohypnol betäubt wurden, die völlig desorientiert waren und Erinnerungsverluste hatten. Das waren wehrlose Opfer für alle möglichen sexuellen Handlungen. Ich erinnere mich an einen Fall, wo der Täter die Sache sogar gefilmt hat und den Film noch in seiner Wohnung hatte. Man sah das Opfer torkeln, mit geschwächtem Muskeltonus. In diesem Zustand hätte es sicher nicht mehr protestieren und Nein sagen können.

Die Substanzen von sogenannten K.-o.-Tropfen sind schon nach kurzer Zeit im Körper nicht mehr nachzuweisen. Es könnte in diesem Bereich hohe Dunkelziffern geben, aber vielleicht nicht viele Tote. Wie misstrauisch muss ein Gerichtsmediziner bei seiner Arbeit sein?

Man muss als Gerichtsmediziner immer ein bisserl paranoid sein. Man darf sich nicht zu schnell mit Erklärungen abgeben. Es gibt auch Fälle, wo man sagen muss: Ich habe durch das Obduzieren keine Todesursache feststellen können. Dann ist die nächste Hoffnung der Chemiker. Der untersucht die grosse Palette aller Gifte. Im mikroskopischen Bereich könnte auch noch etwas zu finden sein. Ein Promillesatz Unsicherheit bei der Bestimmung der Todesursache bleibt immer.

Sie haben in den letzten vier Jahrzehnten über 7000 Leichen seziert. Auch wenn nicht alle Mordopfer waren – eine Kulturgeschichte des Tötens könnten Sie wohl schreiben.

Ja. Und ich muss sagen: Das Töten durch Messer hat enorm zugenommen. Das kommt daher, dass in bestimmten Kulturkreisen ein «richtiger Mann» ein Messer in der Tasche haben muss. Es gibt oft auch einen kulturellen Affekthintergrund. Todesfälle durch Erschiessen haben bei uns dagegen deutlich abgenommen. Erwürgt und erdrosselt wird ohnehin immer. Die Frauen vergiften nach wie vor gerne. Frauen töten auf subtile Weise, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Das ist nicht nur ein Klischee.

Was halten Sie von der True-Crime-Welle auf Netflix und ähnlichen Kanälen?

Nicht sehr viel. Ich möchte durch meinen Podcast eben Wissen und Bildung vermitteln. Ich schaue mir auch sehr ungern Kriminalfilme an. Und wenn, dann aus beruflichem Interesse. Ich habe immer wieder erlebt, dass Täter etwas aus Kriminalfilmen plagiiert und versucht haben, es in ihren Taten umzusetzen. Nach dem Motto: ein perfektes Verbrechen zum Nachmachen. Bei einem meiner Fälle ging es um einen vorgetäuschten Stromunfall. Der Täter hat das nachgemacht, so wie er es kurz zuvor im Film gesehen hat, aber es war letztlich eben doch kein perfektes Verbrechen.

Gibt es im Mordgeschäft auch Innovationen?

Neunzig Prozent sind Standardtötungen. Der fachliche Wissensstand der Mörder bleibt eigentlich immer ziemlich gleich. Wenn ich selbst morden müsste – was meinem Wesen aber vollkommen widerspricht – und naturgemäss nicht erwischt werden wollte, würde ich das über die toxikologische Schiene machen.

Ist der perfekte Mord denn möglich?

Der perfekte Mord ist der, bei dem niemand einen Verdacht schöpft und wo es also auch keine Obduktion gibt. Ich wüsste, wie es geht, werde mich aber hüten, es jemandem zu verraten. Mein grosser, über viele Jahre gewachsener Wissensstand wäre sicher ein Vorteil.

Sie sagen von sich: «Ich liebe das Exhumieren.» Können Sie das erklären?

Das hat mit meiner Kindheit zu tun. Meine Eltern waren berufstätig, und meine Urgrossmutter hat sich um mich gekümmert. Sie war der Meinung, dass ein Kind frische Luft braucht. Und sie war der Überzeugung, dass es die frischeste Luft auf den Friedhöfen Wiens gibt. Ausserdem lag dort die tote Verwandtschaft. Sie hat mir erzählt, wer unter welchem Grabstein liegt. Wie diese Toten ausschauen, hat mich schon als Kindergartenkind interessiert. Heute weiss ich: Man kann fast nie vorhersagen, wie ein exhumierter Leichnam ausschauen wird. Das hängt von sehr vielen Faktoren ab und ist immer spannend. Deshalb liebe ich Exhumierungen.

Wenn Sie von Ihren Erfahrungen aus dem Seziersaal erzählen, hat man den Eindruck, dass Leben und Tod oft auch Glückssache sind. Man scheint es bei der Totenbeschau auch nicht immer ganz genau zu nehmen. Mancher wird fälschlich und viel zu früh für tot erklärt. Als Sie Medizinstudent waren, hat sich eine männliche, im Kühlhaus liegende vermeintliche Leiche plötzlich aufgesetzt und gesagt: «Seid’s deppert?»

Auch wenn ich einmal nicht mehr wissen sollte, wer ich bin, und dement wäre, werde ich diesen Schrecken nicht vergessen haben. Der Mann war kurze Zeit den für die Leichenkühlung vorgesehenen vier Grad ausgesetzt. Er war wie in Trance.

Sie haben einem Toten das Leben gerettet.

Ja. Das Seltsamste ist: Obwohl der Mann schwer herzkrank war, hat er den Vorfall länger dauernd überlebt und ist nicht mehr auf der Pathologie aufgetaucht.

Seit diesem Schrecken haben Sie ein sehr nüchternes Verhältnis zum Tod entwickelt. Hat das auch mit der morbiden Affinität des Österreichers zu den letzten Dingen zu tun?

Für die, die sterben, ist der Tod in Wien genau das Gleiche wie in Zürich oder Berlin. Die Einstellung zum Leichnam und der Obduktionstätigkeit ist in Wien aber seit den Zeiten von Kaiserin Maria Theresia speziell. Das hat mit der aufklärerischen Entwicklung der Wissenschaften in Österreich zu tun. Der Österreicher hat wenig Probleme damit, seziert zu werden.

Sie sind in Pension, publizieren viel und verfassen noch ab und zu Gutachten. Vermissen Sie die tägliche Arbeit am Seziertisch?

Ich habe mir lange überlegt, ob ich auch in der Pension obduzieren soll. Ich hätte einen Seziersaal mieten und ein privates Sezierunternehmen betreiben können. Das Problem ist: Man muss bei jedem Kriminalfall sehr viel Material aufheben. Präparate, Abstriche, Blutproben und so weiter. Da haben wir familienintern beschlossen: Nein, uns kommt kein Leichenmaterial ins Haus! Jetzt mache ich nur so Kleinigkeiten wie Verkehrsunfallanalysen, Hundebisse, Peitschenschlagsyndrome, Messerstechereien, ausgeschlagene Zähne. Übrigens: Ein ausgeschlagener Zahn aus einem schlechten Gebiss ist oft eine ökonomische Wohltat. Man kann sich von der Entschädigung endlich eine Vollprothese machen lassen. Bei einem traumhaft schönen Gebiss ist hingegen ein ausgeschlagener Zahn eine Katastrophe.

Was Ihnen aber fehlt, sind die Leichen?

Ja. Wenn Sie über vierzig Jahre sezieren, dann gehören Leichen zu ihren Denkmodellen. Ich habe aber jetzt einen kalten Entzug durchgemacht und bin clean. Mir fehlen die Leichen nicht mehr sehr. Allerdings gehe ich immer noch einmal in der Woche in den Seziersaal und schaue, was es Neues gibt.

Würden Sie auch Ihre eigenen Verwandten obduzieren?

Wenn es sein müsste, schon. Ich hätte damit kein Problem. Sie wären ja dann nicht mehr die, die sie waren, mit allen Lebensreaktionen, die sie so liebenswert gemacht haben. Ein Toter ist doch im Grunde nichts anderes als eine verderbliche biologische Matrix.

Ein Leben mit Leichen

Über 7000 Leichen hat der Wiener Gerichtsmediziner Christian Reiter in seinem Berufsleben seziert. Seine Expertise war bei spektakulären Mordfällen genauso gefragt wie bei grossen Tragödien, etwa dem Absturz eines Lauda-Air-Flugzeugs im Jahr 1991 mit 223 Toten. Überreste von Beethoven und Paracelsus hat Reiter untersucht, aber auch die Leichen des habsburgischen Herrscherhauses. Die Hörerzahlen des Podcasts «Klenk + Reiter», in dem der mittlerweile pensionierte Gerichtsmediziner auf unnachahmlich anschauliche Weise aus seiner Arbeitspraxis erzählt, gehen in die Hunderttausende.

Mehr von Paul Jandl (Jdl)