„Boot der Kirche schon fast zum Kentern angefüllt“: Benedikt funkt Kirchen-SOS

Was steckt hinter dem dramatischen Vergleich?

Von: Albert Link

Es sind Worte, die nachklingen. Die ahnen lassen, wie dramatisch der emeritierte Papst Benedikt XVI. (90) die Lage der katholischen Kirche und die Zukunft der Gesellschaft einschätzt.

In einem Beitrag für die Trauerfeier von Kardinal Joachim Meisner (†83) am Samstag im Kölner Dom hat Benedikt XIV. die Kirche mit einem Boot verglichen, das manchmal „schon fast zum Kentern angefüllt ist“.

SOS Kirche – viel deutlicher kann eine „Zwischen den Zeilen“-Botschaft kaum sein!

Erzbischof Georg Gänswein (60) beim Verlesen der Botschaft des emeritierten Papstes im Kölner Dom

Erzbischof Georg Gänswein (60) beim Verlesen der Botschaft des emeritierten Papstes im Kölner Dom

Foto: STEINBACH/EPA/REX/Shutterstock

Auch die Ursache der „Seenot“, in die das „Boot der Kirche“ geraten ist, benannte Benedikt in seinem Gastbeitrag, um den ihn Meisners Kölner Nachfolger Kardinal Rainer Maria Woelki gebeten hatte: eine „Diktatur des Zeitgeists“.

Eine Momentaufnahme, gewiss. Aber keine, die die Kirche ignorieren kann: Benedikt XVI. war von 2005 bis 2013 als Petrus-Nachfolger das Oberhaupt der 1,2 Milliarden Katholiken weltweit und zuvor in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation 23 Jahre lang oberster Glaubenshüter.

Verlesen wurde die Botschaft von seinem Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein (60), der in der fünfminütigen Ansprache mit den Tränen kämpfte und an einer Stelle kurz unterbrechen musste. Unter den Tausenden Zuhörern waren 50 Bischöfe aus 20 Ländern sowie Hunderte Priester und Ordensleute, die dem streitbaren Kölner Kardinal die letzte Ehre erwiesen.

Am Ende der Botschaft gab es für die Worte von Benedikt XVI., der aus seinem Altersruhesitz in den Vatikanischen Gärten bis zuletzt Kontakt zu seinem wohl engsten Vertrauten unter den deutschen Bischöfen und Kardinälen gehalten hat, von der Trauergemeinde Applaus.

Was Benedikt XVI. genau gesagt hat

Es ist höchst selten, dass Benedikt XVI. sich noch kirchenpolitisch äußert – und weil die Kirchenautorität einzig und allein beim amtierenden Papst liegt, sind selbst Zwischen-den-Zeilen-Botschaften brisant. Denn eigentlich hatte der deutsche Petrus-Nachfolger angekündigt, nach seinem Rückzug „verborgen vor den Augen der Welt“ zu wirken. Es war sein Nachfolger Franziskus, der ihn ausdrücklich ermunterte, sich nicht ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.

Die entscheidende Passage der Würdigung von Kardinal Meisner, die auch international Wellen schlägt: „Wir wissen, dass es ihm, dem leidenschaftlichen Hirten und Seelsorger, schwerfiel, sein Amt zu lassen, und dies gerade in einer Zeit, in der die Kirche besonders dringend überzeugender Hirten bedarf, die der Diktatur des Zeitgeistes widerstehen und ganz entschieden aus dem Glauben leben und denken.“

Doch Meisner habe „aus der tiefen Gewissheit gelebt, dass der Herr seine Kirche nicht verlässt, auch wenn manchmal das Boot schon fast zum Kentern angefüllt ist“.

Was meint er damit?

Das Bild des Bootes im Sturm ist nicht neu, Benedikt XVI. hat den Vergleich etwa in seiner Weihnachtsansprache 2010 vor seinen Kardinälen gezogen. Er bezog sich dabei auf eine Bibelstelle (Mt 8, 25f) über den schlafenden Jesus im sturmgeschüttelten Boot seiner Jünger:

„Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde! Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen? Dann stand er auf, drohte den Winden und dem See und es trat völlige Stille ein.“

Benedikts damalige Deutung: „Er wollte sagen: In euch selbst hat der Glaube geschlafen. Dasselbe wird er auch zu uns sagen. Auch in uns schläft der Glaube so oft. So bitten wir ihn, dass er uns aus dem Schlaf eines müde gewordenen Glaubens aufwecke und dem Glauben wieder Macht gebe, Berge zu versetzen – das heißt den Dingen der Welt ihre rechte Ordnung zu geben.“

Warum sind Benedikts Worte HEUTE so brisant?

Im Amt konnte man Benedikts Worte auch als Selbstkritik lesen. Nun klingt für manchen leise Kritik an Papst Franziskus (80) mit. Dabei hat Benedikt sich bislang stets positiv über seinen Nachfolger geäußert.

Kardinal Meisner war im Ruhestand hingegen öffentlich auf Distanz zum Kirchenoberhaupt aus Argentinien gegangen.

Welche Stürme durchlebt die Kirche?

In der Frage nach dem Zeitpunkt der Äußerung steckt die eigentliche Sprengkraft: Benedikt XVI. hatte seinen Rücktritt mit der fehlenden Kraft begründet, die Kirche weiter zu führen, zermürbt auch von der „Vatileaks“-Affäre. Und natürlich dürfte er damit die Hoffnung verknüpft haben, dass die Kirche wieder in ruhigere Gewässer käme, wenn ein Jüngerer das Steuerrad übernimmt.

Die Turbulenzen wurden aber nicht weniger – im Gegenteil, zuletzt nahmen sie zu.

► Kardinal Meisner gehörte einem Kardinals-Quartett an, das öffentlich Zweifel (dubia) am Schreiben „Amoris laetitia“ von Franziskus bekundet hat, indem er wiederverheirateten Geschiedenen in Einzelfällen die Zulassung zur Kommunion in Aussicht stellt. Dass der Papst nicht mit ihnen darüber diskutieren wollte, sorgte in konservativen Kirchenkreisen für Unverständnis.

► Mit dem deutschen Kardinal Gerhard Müller, indirekter Nachfolger Benedikts als Chef der Glaubenskongregation, hat Papst Franziskus völlig überraschend gebrochen, ihn ohne Vorwarnung aus dem Dienst entlassen. Auch darin steckt Brisanz: Müller pflegt persönlichen Umgang mit Benedikt XVI., hat sogar dessen alte Kardinalswohnung samt Mobilar vor den Toren des Vatikan übernommen. Die Hintergründe der Trennung sind noch unklar.

► Mit seinen eigenen Personalentscheidungen hat der Argentinier nicht immer eine glückliche Hand. So musste George Pell, der ehemalige Erzbischof von Sydney, gerade seinen Posten als Finanzchef des Vatikans räumen, weil er sich in Australien einem Missbrauchsverfahren stellen muss. Franziskus hatte ihn 2014 berufen.

► Vatikan-Mitarbeiter berichten über eine Atmosphäre zunehmender Verunsicherung und Misstrauens hinter den Mauern des Kirchenstaats, von Reformansätzen ohne echte Reformen, von Lagerbildung und von ruppigem Umgang mit kritischen Stimmen. Dies stehe im Kontrast zur fröhlichen Fassade bei den Audienzen oder in den zahlreichen Papst-Interviews.

► Gleichzeitig blieben die Besucherzahlen für das von Franziskus ausgerufene „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“ hinter den Erwartungen zurück, sind die Besucherzahlen der öffentlichen Audienzen weiter rückläufig. Begründet wird dies intern mit möglichen Terror-Ängsten, die die Pilger abhielten.

► Denkbar ist zudem, dass Benedikt XVI. enttäuscht ist über die Verzagtheit der Kirchen-Kritik an der deutschen „Ehe für alle“-Blitzentscheidung. Benedikt hatte die Ehe zwischen Mann und Frau als „fundamentale Grundlage der gesamten Gesellschaft“ bezeichnet und bei seiner Rede im Bundestag (2011) polarisiert, als er die Gender-Theorie vom „sozialen Geschlecht“ infrage stellte: „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann“, sagte Benedikt damals.

Keine Kritik am Nachfolger

Klar ist aber auch: Für eine Instrumentalisierung vonseiten der wachsenden Zahl an Franziskus-Kritikern ist Benedikt XVI. nicht zu haben. Er hat seinem oder seinen Nachfolgern absoluten Gehorsam versprochen („Der Papst ist der Papst, ganz gleich, wer es ist“) und in Peter Seewalds Interviewbuch „Letzte Gespräche“ seine Zufriedenheit mit Franziskus und dessen Amtsführung bekundet: „Eine neue Frische in der Kirche, eine neue Fröhlichkeit, ein neues Charisma, das die Menschen anspricht, das ist schon etwas Schönes.“

Auch im geistlichen Testament von Kardinal Meisner findet sich – bei aller Distanz in Einzelfragen – ein versöhnlicher Satz: „Haltet immer zum Papst, und ihr werdet Christus nie verlieren.“

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