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"Überraschendes Phänomen" Corona weltweit auf dem Rückzug

Weltweit haben sich mehr als 100 Millionen Menschen mit Covid-19 infiziert. Doch die Zahl der neuen Fälle sinkt zuletzt.

Weltweit haben sich mehr als 100 Millionen Menschen mit Covid-19 infiziert. Doch die Zahl der neuen Fälle sinkt zuletzt.

(Foto: imago images/xim.gs)

Zuletzt meldet die WHO mehr als 3 Millionen neue Corona-Fälle in einer Woche - gleichzeitig ein deutlicher Rückgang zur Vorwoche. Und das schon zum vierten Mal in Folge. Was sind die Gründe für den weltweiten Rückzug der Seuche? ntv.de hat nachgefragt.

In Deutschland sinkt die Zahl der neu gemeldeten Corona-Fälle weiter. Aber nicht nur hierzulande - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt gehen weltweit die Fallzahlen zurück und das zum Teil massiv. Der aktuelle Lagebericht der Weltgesundheitsorganisation WHO bestätigt: Die vierte Woche in Folge ist die Zahl der weltweit neu gemeldeten Fälle gesunken. Ihren Höhepunkt hatte die Pandemie Anfang Januar mit fast fünf Millionen Neuinfektionen in einer Woche. Anfang Februar waren es nur noch rund drei Millionen - fast 40 Prozent weniger. Zwar gibt es in vielen Ländern noch steigende Fallzahlen, aber auf globaler Ebene sei der Trend "ermutigend", heißt es in dem WHO-Bericht.

In absoluten Zahlen sinken vor allem in Europa und Nord- sowie Südamerika die Fallzahlen, auf Wochensicht zuletzt um fast eine halbe Million Neuinfektionen. Der Großteil des Rückgangs geht auf die USA zurück, wo fast 200.000 weniger Fälle gemeldet wurden. Aber das Phänomen ist nicht auf diese Kontinente beschränkt: Fünf der sechs WHO-Regionen verzeichneten zuletzt einen Rückgang der neuen Corona-Fälle von mehr als 10 Prozent pro Woche. Die Zahl der neu gemeldeten Todesfälle sank laut WHO ebenfalls die zweite Woche in Folge. Mit 88.000 neu gemeldeten Todesfällen waren es zuletzt rund 10 Prozent weniger im Vergleich zur Vorwoche.

Aber was sind die Gründe für diese Entwicklung? Die globale Impfkampagne kann aus Sicht von Experten noch keinen Einfluss auf die Fallzahlen haben - bislang verfügen nur 0,24 Prozent der Weltbevölkerung über einen vollen Schutz. Selbst in den bevölkerungsreichen USA, die massiv impfen, sind es erst knapp 3 Prozent aller Einwohner.

Parallelen zu anderen Pandemien

Für den Epidemiologen Klaus Stöhr, der mehrere Jahre lang das Global-Influenza-Programm der WHO geleitet hatte und dort auch Sars-Forschungskoordinator war, ist der deutliche Rückgang der Fälle weltweit ein "überraschendes Phänomen". "Auch meine Kollegen von der WHO haben mich angerufen und gefragt, was ich davon halte." Eine eindeutige Erklärung gebe es aber nicht, so Stöhr zu ntv.de. "Wie bei allen Naturereignissen gibt es auch bei einer Pandemie Phänomene, zu deren Erklärung man nur spekulieren kann."

Aber eine Sache falle auf: Bei den Influenza-Pandemien in den Jahren 1957 und 1968 sei Ähnliches beobachtet worden: "Ausbruchswellen, die eine Länge von zehn bis zwölf Wochen haben und dann zurückgehen", so Stöhr. Es sei möglich, dass dies mit der eingeschränkten Mobilität während einer Pandemie, etwa durch Lockdowns, zusammenhänge. Auch die fortgeschrittene Immunisierung der Bevölkerung könne eine Rolle spielen, wenn sich also ein großer Teil der Bevölkerung bereits einmal angesteckt hat. Stichwort: Herdenimmunität.

Eben dieser Effekt einer einsetzenden Herdenimmunität sei wahrscheinlich aktuell bereits in den USA zu beobachten, so Stöhr. Bisher geht man davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sein müssen, um eine Herdenimmunität gegen den Wildtyp von Sars-CoV-2 zu entwickeln. Dann findet ein Erreger nicht mehr genug neue Wirte, die Pandemie kommt zu erliegen. Doch laut offiziellen Daten haben sich in den USA bisher erst rund 27 Millionen Menschen infiziert, weitere 10 Millionen haben einen vollen Impfschutz - bei 330 Millionen Einwohnern also nur etwa 11 Prozent der Bevölkerung. Wie passt das zusammen?

USA dennoch kurz vor Herdenimmunität?

Stöhr erklärt es so: "Verschiedene punktuelle serologische Studien aus den USA und Europa lassen eine Dunkelziffer um den Faktor vier bis sechs vermuten." In den USA hätten also womöglich bereits 30 bis 48 Prozent der Bevölkerung einmal Covid-19 gehabt und eine Immunität dagegen aufgebaut, was einen bremsenden Effekt auf das Infektionsgeschehen haben könnte. Hinweise darauf gibt es jedenfalls: Die Zahl der gemeldeten Fälle ist in den USA seit Anfang Januar massiv zurückgegangen - um rund 60 Prozent. Dabei werden die Corona-Maßnahmen in den Vereinigten Staaten von Experten als weniger streng gewertet als in vielen europäischen Ländern.

In Deutschland sei die Situation jedoch eine andere, so der Epidemiologe: "Was die Populationsimmunität angeht, sind uns die USA, aber auch Länder wie Schweden und Israel, wohl um Monate voraus." Grund seien die schärferen Maßnahmen, mit denen hierzulande auf das Infektionsgeschehen reagiert worden sei. Stöhr warnt deshalb auch vor falschen Schlüssen aus den weltweit sinkenden Zahlen auf die Lage in Deutschland. Die bisher geltenden Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und die AHA+L-Regeln müssten weiter berücksichtigt werden, um ein erneutes Aufflackern der Infektionen zu verhindern.

Trotz der positiven Entwicklung sei die Pandemie noch lange nicht vorbei, mahnt Stöhr. Und im Sommer sei auf der Südhalbkugel - mit der dort einsetzenden Winterzeit - wieder mit steigenden Fallzahlen zu rechnen. Auch WHO-Chef Tedros Ghebreyesus warnte angesichts des zuletzt positiven weltweiten Trends vor voreiligen Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Viele Länder hätten in der Vergangenheit auf einen Rückgang der Fälle mit Lockerungen reagiert, die Menschen seien unvorsichtig geworden. "Das Virus kam zurück, wie ein Waldbrand, der neuen Brennstoff gefunden hat." Positive Trends könnten sich leicht umkehren, und "hart erkämpfte Gewinne können verloren gehen".

"Bringen Varianten unter Kontrolle"

Auch die neu aufgetauchten Varianten von Sars-CoV-2, die als viel ansteckender gelten, sind vielerorts Grund zur Beunruhigung. In den USA etwa breitet sich die zuerst in Großbritannien entdeckte Variante B.1.1.7 laut einer Studie rasend schnell aus. Bis März könnte sie demnach dort die dominierende Version des Coronavirus sein. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut etwa sechs Prozent der Fälle auf diese Variante zurückzuführen. Eine Verlängerung des Lockdowns hierzulande wird oft mit der Gefährlichkeit der Mutationen begründet.

Auch die WHO beobachtet eine "geografische Ausdehnung" der Varianten. So sei B.1.1.7 mittlerweile in 86 Ländern nachgewiesen worden. Die zuerst in Südafrika entdeckte Variante 501Y.V2 sei schon in 44, und die Variante P.1 aus Brasilien bereits in 15 Ländern aufgetaucht. WHO-Chef Tedros ist jedoch überzeugt, dass der deutliche Rückgang der Fallzahlen Beleg dafür ist, dass die "bewährten Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit" wirken. "Selbst mit den neuen Varianten, die im Umlauf sind, können wir diese Pandemie unter Kontrolle bringen", so Tedros. In Großbritannien etwa machte B.1.1.7 Ende Januar bereits rund 90 Prozent aller neuen Fälle aus - dennoch gehen auch dort die Fallzahlen zuletzt deutlich zurück.

Quelle: ntv.de

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