Polnische Geschichte »Die Deutschen wissen fast nichts«
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SPIEGEL: Was müssen die Deutschen über die polnische Geschichte noch lernen?
Radziejowska: Wir können nur vermuten, wie viel man in Deutschland zu dem Thema überhaupt weiß. Dazu haben wir ein Forschungsprojekt aufgelegt. Nach eineinhalb Jahren hier habe ich allerdings den Eindruck: Das Wissen ist in Deutschland grundsätzlich sehr gering, sowohl über die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Osten Europas als auch über Kunst und Kultur. Die Deutschen kennen das Bauhaus , aber nicht den polnischen Modernismus in Gdynia. Die interessierte Öffentlichkeit erinnert sich an Frankreich und die deutsche Besatzung dort, aber nicht an das Regime der Nazis in Polen. Auch über die ältere Geschichte herrscht Ahnungslosigkeit: Jeder kennt in Deutschland zum Beispiel Karl den Großen . Aber solche Bezugspunkte gibt es zu Polen nicht. Professor Dieter Bingen spricht von »Leerstellen deutscher Erinnerung«.
SPIEGEL: Was meinen er und Sie mit »Leerstellen deutscher Erinnerung«?
Radziejowska: Natürlich ist das Wissen über den Holocaust in der deutschen Gesellschaft weitverbreitet, dass aber von sechs Millionen ermordeten Juden drei Millionen polnische Bürger waren, wissen die Allerwenigsten. In Polen wurde am helllichten Tag getötet. Der Mord an den deutschen Juden dagegen war für die Deutschen unsichtbar. Es fehlt das Bewusstsein, dass Polen auch drei Millionen nichtjüdische Opfer zu beklagen hat, insgesamt also sechs Millionen Opfer. Dazu kommen noch die irreversiblen Verluste in Wissenschaft und Kultur, die totale Zerstörung des Staats. Die Deutschen wissen kaum etwas über den polnischen Widerstand oder die Tatsache, dass Polen an allen Fronten im Zweiten Weltkrieg dabei war. 1945 haben 10.000 polnische Soldaten Berlin mit erobert.
SPIEGEL: Ahnungslosigkeit bei Deutschen führt ja nicht automatisch zu Vorurteilen oder Ablehnung gegen Polen. Warum ist es so wichtig, dass die Deutschen mehr erfahren über die Geschichte ihrer Nachbarn?
Radziejowska: Wir sagen, die polnische Geschichte und Erinnerung sind wichtig, auch für die deutsche und europäische Demokratie. Wir wollen keinen Wettbewerb aufmachen: Wer hatte die meisten Opfer? Wer hatte die größten Helden? Es geht darum, die Erinnerung anzureichern – dass zu Anne Frank in Amsterdam auch die Erfahrung der Juden in irgendeinem östlichen Schtetl in Polen kommt. In Deutschland ist die Kategorie der Nation verdächtig, man redet lieber von jüdischen Opfern, Homosexuellen, Roma und Sinti, also von religiösen Gruppen etwa. Und das ist gut so.
Witold Pilecki (hier 1948 vor Gericht) ließ sich nach dem deutschen Überfall auf Polen im Auftrag des polnischen Untergrundes verhaften und nach Auschwitz verschleppen, wo er den Lagerwiderstand organisierte. Durch seine Berichte erfuhr die britische Regierung schon früh von den Gräueltaten an Juden. Nach einer spektakulären Flucht 1943 nahm er ein Jahr später am Warschauer Aufstand teil, wurde erneut festgenommen und erlebte in einem Lager bei Murnau die Befreiung durch die Amerikaner. Zurück in Polen half Pilecki bei der Auflösung polnischer Partisanenverbände und sammelte Informationen über sowjetische Verbrechen. 1947 wurde er festgenommen und nach einem Schauprozess wegen Spionage im Mai 1948 hingerichtet. Erst 1990 wurde Witold Pilecki rehabilitiert.
Foto: picture-alliance / PAPAus polnischer Sicht aber möchten wir einen Aspekt hinzufügen: Unsere Opfer hatten eine Nationalität, eben die polnische – und sie wurden deswegen umgebracht, zum Beispiel polnische Priester oder Intellektuelle. Die gezielte Vernichtung der polnischen Eliten war eines der Hauptziele der Nazis. Letztlich sollte alles darauf hinauslaufen, dass Polen als Sklaven den Deutschen dienen würden. Das muss in der europäischen Öffentlichkeit auftauchen. Wenn wir diese Dimension nicht erwähnen, fehlt etwas.
SPIEGEL: Witold Pilecki ließ sich als Kundschafter in Auschwitz einschleusen. Ihm gelang eine spektakuläre Flucht. Nach dem Krieg wurde er von polnischen Kommunisten angeklagt und hingerichtet. Wofür steht er als Namensgeber Ihres Instituts?
Radziejowska: Pilecki steht für die historische Erfahrung Polens, der polnischen Bürger im 20. Jahrhundert, die Erfahrung des Nazismus und des Stalinismus. Pilecki hat sich dem entgegengestellt, in Polen nennen wir so jemanden einen Helden. Zudem ist er Zeuge, er hat aus Auschwitz Berichte über die Verbrechen im KZ, darunter auch den Mord an den Juden, nach London geschickt und gefordert, Auschwitz zu bombardieren. Und er ist Opfer beider Systeme. Zudem repräsentiert er Geschichte, die ausgelöscht wurde. Sein Los wurde von den Kommunisten lange totgeschwiegen, genauso wie die Geschichte des nicht kommunistischen Untergrundstaates insgesamt.
Widerstandskämpfer Witold Pilecki: Freiwillig in Auschwitz
SPIEGEL: Aber ist das Mitwirken am Totalitarismus, vor allem am Kommunismus, nicht auch eine Erfahrung der Polen im 20. Jahrhundert?
Radziejowska: Die polnische Regierung und alle unter ihrer Obhut stehenden politischen Strukturen haben nicht mit den Nazis kollaboriert. Bis zum Ende kämpfte Polen als Staat für die Demokratie. Natürlich gab es auch Polen, die sich bewusst für den Kommunismus entschieden und beim Aufbau des kommunistischen Systems in Polen selbst aktiv Hand angelegt haben. Auch diese Seite der Geschichte spiegelt sich in Pileckis Schicksal wider. Er wurde, wie viele andere aus dem antinazistischen Widerstand nach dem Krieg, von polnischen Kommunisten hingerichtet. In diesem Sinn waren Polen eben nicht nur Opfer oder Helden.
SPIEGEL: Warum bleibt die polnische Geschichtspolitik am Zweiten Weltkrieg hängen? Da gibt es doch noch ganz andere Erfahrungen als die von Krieg, Massenmord und Diktatur.
Rede des Solidarność-Führers Lech Wałęsa im Ursus-Traktorenwerk bei Warschau (1980): »Die Bürger standen auf«
Foto: TOMASZ LISTOPADZKI / picture alliance / PAPRadziejowska: Wir wollen in Zukunft auch die Geschichte der Solidarność mehr in den Blick nehmen, also den polnischen Beitrag zur europäischen Demokratisierung. Das hängt durchaus zusammen. Die Dissidenten der Siebziger- und Achtzigerjahre, die Führer der Solidarność haben den Widerstandsgeist aus der Zeit des Weltkrieges übernommen. Aber auch die Erfahrung, dass der Warschauer Aufstand 1944 eine Niederlage mit großen Opfern war. Also setzte sich die Überzeugung durch, dass es einen anderen Weg geben muss. Die Solidarność wurde eine der größten republikanischen Bewegungen, die Bürger standen auf, um ihre Rechte von den Machthabern zurückzufordern. Dazu gehörte es auch, den Dialog und den Kompromiss zu suchen. Der runde Tisch in Polen und die aus seinen Vereinbarungen unmittelbar resultierenden ersten freien Wahlen am 4. Juni 1989 wurden in Europa zum Muster eines unblutigen Übergangs zur Demokratie und haben die Steine ins Rollen gebracht.
SPIEGEL: Ihr Institut gilt als ausführendes Organ einer nationalistischen Geschichtspolitik der rechtspopulistischen Regierung in Warschau.
Radziejowska: Das Gesetz zur Gründung des Pilecki-Instituts haben alle Parteien im Parlament unterstützt. Man tut in Deutschland immer so, als sei Geschichtspolitik irgendwie ekelig. Aber die Deutschen haben das auch. Unter Kanzler Helmut Kohl wurden etwa in den Vereinigten Staaten oder in Warschau deutsche historische Institute aufgebaut – eben um ein ausgewogeneres Geschichtsbild zu etablieren. Das ist keine Erfindung von PiS.
SPIEGEL: Ist die deutsche Geschichtspolitik gelungen?
Radziejowska: Deutsche Netzwerke in Europa sind heute sehr stark, die Umgangssprache der europäischen Kultur ist davon geprägt. Die Deutschen haben ihre Perspektive europäisiert. Warum also brauchen wir eine polnische Perspektive? Weil wir die deutsche schon haben.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Warschau es in Konflikten mit der EU leichter hätte, wenn die anderen Regierungen nur mehr wüssten über das historische Los Polens?
Radziejowska: Das scheint mir ganz klar zu sein: Je mehr wir voneinander wissen, desto besser verstehen wir uns. Ich denke, die Annäherung über die Wahrnehmung von Geschichte, der Austausch von Erfahrungen, ist aber ein sehr langfristiger Prozess.
SPIEGEL: Auch in privaten Gesprächen mit Polen trifft man als europäischer Ausländer nicht selten auf eine gewisse Frustration, Tenor: Ihr wisst nichts von uns, deshalb haltet ihr uns irgendwie für rückständig, behandelt uns wie Europäer zweiter Klasse.
Radziejowska: Es geht dabei um Identität im individuell psychologischen Sinne. Die Ahnungslosigkeit verursacht bei manchen Polen ein Gefühl der Entwertung: Die Deutschen wissen fast nichts über uns, also können wir ja nicht besonders wichtig sein für euch. Das kann sich ändern, je mehr Wissen durchdringt. Und genauso wie zwischen einzelnen Personen funktioniert es auch zwischen Gesellschaften. Deshalb glaube ich, dass Wissen über Geschichte und Erinnerungskultur wichtige Aspekte eines demokratischen Bewusstseins sind.
SPIEGEL: In Polen werden Prozesse gegen bestimmte Aussagen in wissenschaftlichen Werken oder historischen Filmen geführt. Können Gerichte über Geschichtsbilder und Erinnerung urteilen, sie gar festlegen?
Radziejowska: Nein, das können und sollen Gerichte nicht tun. In Polen hat nicht die Regierung Prozesse geführt, sondern Privatpersonen, die sich durch bestimmte Geschichtsdarstellungen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen. Auch der Chefredakteur der liberalen Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, hat so einen Prozess geführt, um das Andenken an seinen Vater zu verteidigen, dem Historiker vorgeworfen hatten, ein V-Mann gewesen zu sein. In der jüngsten Zivilklage gegen die Historiker Barbara Engelking und Jan Grabowski, die sich auf einen der Artikel aus dem Buch »Dalej jest noc« bezog, ging es nicht darum zu zeigen, dass es überhaupt keinen Polen gab, der Juden an die Deutschen ausgeliefert hatte und an ihrem Tod mitschuldig war. Die Klägerin wollte klarstellen, dass eine solche Tat fälschlicherweise ihrem Onkel zugeschrieben wurde. Dieser hat laut Aussage von drei jüdischen Überlebenden und neun Dorfbewohnern während des Krieges sogar Juden gerettet.
SPIEGEL: Das Gericht gab ihr recht, die Historiker müssen sich entschuldigen.
Radziejowska: Auch in Deutschland gibt es ähnliche Prozesse, etwa den der Hohenzollern gegen den Historiker Winfried Süss. Ihm wurde gerichtlich erstmal verboten, zu behaupten, das Adelsgeschlecht wolle ein Mitspracherecht bei den historischen Darstellungen der Familie, wenn diese Darstellungen durch Einrichtungen der öffentlichen Hand vorgenommen werden.
SPIEGEL: Aber befördern solche Prozesse nicht ein Klima der Angst und Unfreiheit unter Wissenschaftlern und Künstlern? Schließlich werden diese Art Klagen gegen Historiker von mächtigen Organisationen finanziell und juristisch unterstützt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den »guten Namen Polens« zu verteidigen.
Radziejowska: Es ist immer schlecht, wenn historische Angelegenheiten vor Gericht verhandelt werden. Streit über Geschichte soll in Zeitschriften und in Diskussionen auf Konferenzen entschieden werden. Der demokratische Staat gibt den Bürgern die Möglichkeit, gegen – ihrer Meinung nach – persönlich verletzende Darstellungen vorzugehen. Polen ist heute allerdings eine politisch sehr polarisierte Gesellschaft. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht weiter radikalisieren, uns gegenseitig mit Prozessen überziehen und uns dadurch den Raum nehmen, frei zu diskutieren.
Anmerkung der Redaktion: Eine Antwort von Hanna Radziejowska in Hinblick auf das gerichtliche Vorgehen der Hohenzollern gegen Historiker wurde geändert. Die Hohenzollern wehren sich gegen ihrer Ansicht nach falsche Tatsachenbehauptungen.