Eklat im Zürcher Kantonsrat: SVP-Parlamentarierin Maria Rita Marty kritisiert die Haltung der Jungsozialisten zum Polizeieinsatz gegen die unbewilligte Gegendemonstration scharf – und schwingt die Nazikeule. Polizei und Sicherheitsdepartement nehmen ihrerseits Stellung zu den Vorwürfen.
Maria Rita Martys Stimme bebt. Eigentlich wäre es längst Zeit für eine Pause in der Kantonsratssitzung. Doch die SVP-Politikerin aus Volketswil meldet sich mit einer persönlichen Erklärung zu Wort. Ein Votum, das es in sich hat.
«Am Samstag habe ich zum neunten Mal am ‹Marsch fürs Läbe› teilgenommen», beginnt Marty. «Nur dank dem Schutz der Polizei bin ich wieder lebend und unverletzt nach Hause gelangt.» Die linke Ratsseite scheint dies als Übertreibung zu werten, es erklingt Gelächter. Marty ist sichtlich aufgebracht, reagiert gereizt: «Jetzt ist Ruhe hier drin!»
Die Wut der Juristin richtet sich gegen die Jungsozialisten, die am Wochenende in einer Stellungnahme den Polizeieinsatz im Rahmen der unbewilligten Gegendemonstration kritisiert haben. Ohne diesen Schutz hätte es «Hunderte von Toten» geben können, so Marty.
«Wer einen Marsch, welcher das Lebensrecht und die Akzeptanz von behinderten Kindern fordert, bekämpft, ist ein Nazi! Punkt!» (Maria Rita Marty, svp.)
Doch damit nicht genug. Marty nutzt die Gelegenheit, um die Meinung der Abtreibungsgegner zu vertreten und die Nazikeule zu schwingen. Der Marsch am Samstag habe sich für den Schutz von Menschen mit Behinderung eingesetzt. Es könne nicht sein, dass eine pränatale Selektion stattfinde, so Marty. Das sei nichts anderes als Eugenik – wie im Dritten Reich.
Die Gegendemonstranten sowie die Juso seien deshalb nicht nur in den Methoden, sondern auch im Gedankengut Nationalsozialisten, folgert Marty. Dies, da sie sich an einem Marsch stiessen, welcher für das Lebensrecht und die Akzeptanz von behinderten Menschen abgehalten werde. «Wer einen Marsch, welcher das Lebensrecht und die Akzeptanz von behinderten Kindern fordert, bekämpft, ist ein Nazi! Punkt!», schmettert Marty in den Saal.
Die Aussage sorgte auf beiden Ratsseiten für Unglaube und Kopfschütteln. Nicola Siegrist (sp., Zürich) war jedoch der Einzige, der zur Gegenrede anhob. Der Student bezeichnete Martys Wortmeldung als «lächerlich», warf ihr Geschichtsklitterung vor und kritisierte die «mittelalterlichen und perfid frauenfeindlichen Meinungen» der Abtreibungsgegner. Es sei legitim, dass die Juso den Polizeieinsatz als unverhältnismässig kritisiere. Zudem habe die Partei in ihrer Stellungnahme die Gewalt grundsätzlich verurteilt und ihr Bedauern über die Ausschreitungen ausgedrückt.
Auch SVP-Fraktionspräsident Martin Hübscher distanzierte sich danach von Martys Nazi-Vergleich. Jeder im Rat könne eine persönliche Erklärung abgeben, sagte Hübscher. Das Votum habe nicht die Meinung der Fraktion widergespiegelt. Mit dem Nazi-Vergleich sei ein «ganz anderes Kapitel» aufgeschlagen worden.
Hübscher kritisierte die Juso und die SP aber dafür, dass sie sich nicht klar von den gewalttätigen Demonstranten distanziert hätten und keine anderen Meinungen zuliessen. «Dass die gleichen Kreise, die Toleranz fordern, selber nicht tolerant sind, geht nicht.»
In ihrer Stellungnahme vom Sonntag kritisierten die Jungsozialisten, dass die Polizei von Anfang an versucht habe, die unbewilligte Gegendemonstration durch repressive Massnahmen aufzulösen. Vor allem auf der Josefswiese sei es seitens der Polizei «zu einem völlig unverhältnismässigen Gewalteinsatz» gekommen. NZZ-Reporter vor Ort beobachteten indes im Gegenteil, dass die Polizei anfangs sehr zurückhaltend reagierte und ein Dialogteam das Gespräch mit den Demonstranten suchte. Wie sie berichteten, ergriffen aber Eltern, die dort mit ihren Kindern spielten, später die Flucht, als die Polizei nahe der bei Familien beliebten Quartierwiese Gummigeschosse und Tränengas einsetzte.
Die Stadtpolizei Zürich stellt auf Anfrage ebenfalls klar, dass der Einsatz nicht auf der Wiese selbst stattgefunden habe, sondern nebenan. «Ein Auftrag an die Polizeiangehörigen, an der Front auf der Josefswiese Tränengas einzusetzen, wurde nie erteilt.» Jedoch hätten diese nach «heftigen Angriffen» im Bereich der nahe gelegenen Geroldrampe sowie im Bereich Neugasse Handwurfkörper mit Tränengas zur Selbstverteidigung eingesetzt.
Der Einsatz vom vergangenen Samstag werde nun genau analysiert, heisst es bei der Stadtpolizei weiter. Dazu gehöre selbstverständlich auch der Einsatzabschnitt rund um die Josefswiese. Zurzeit würden in diesem Zusammenhang diverse Videos und Bilder gesichtet sowie vereinzelte Rückmeldungen aus der Bevölkerung und den Medien geprüft.
Die Polizei sei jedenfalls mit den drei Schauplätzen – dem eigentlichen Umzug, der bewilligten sowie der unbewilligten Gegendemonstration – stark herausgefordert gewesen.
Gegen den Zürcher Stadtrat wurde deshalb der Vorwurf laut, die Ausschreitungen durch die Bewilligung der von den Juso initiierten und zeitgleich stattfindenden Gegendemonstration begünstigt zu haben – zumal sie den Marsch der Abtreibungsgegner just aus Sicherheitsgründen hatte verbieten und stattdessen als stehende Kundgebung hatte bewilligen wollen. Dem widerspricht das zuständige Sicherheitsdepartement vehement. Die bewilligte Gegendemonstration sei aus Sicherheitsgründen räumlich getrennt von der Hauptkundgebung bewilligt worden. Es habe keinerlei Berührungspunkte mit dem eigentlichen «Marsch fürs Läbe» gegeben, und die bewilligte Gegendemonstration sei friedlich verlaufen. Entsprechend habe es dort auch keinen übermässigen Polizeieinsatz gebraucht.