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Warum dieser Mann die Epidemie kleinredet

Das Coronavirus ruft auch solche Experten auf den Plan

Viele Menschen wissen nicht, wem sie in Krisenzeiten glauben, was sie tun und was sie lassen sollen. Dann schlägt die Stunde von „Experten“ wie dem Lungenarzt Wolfgang Wodarg.

Quelle: WELT

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Es kursiert ein Video, in dem ein Mediziner Covid-19 kleinredet. Demnach ist das tödliche Virus nichts weiter als eine schamlose Übertreibung. Es sei alles nur eine Verschwörung, sagt er. Ein Faktencheck, der das Gegenteil beweist.

Wäre das nicht schön? Der üble Film von der gefährlichen Pandemie, der gerade überall auf der Welt läuft, den schalten wir einfach aus. Wie so eine magische Fernbedienung für die Realität funktioniert die aktuellste Verschwörungstheorie in Sachen Covid-19. Demnach ist das tödliche Virus nichts weiter als eine schamlose Übertreibung. Der Glaube daran hat einen verführerischen Vorteil: Er vertreibt die nagende Angst angesichts einer neuen, gefährlichen Seuche.

Das Video, von dem jetzt alle sprechen, kommt aus einer anderen Zeit. Es sieht aus wie das Bildungsfernsehen der 1970er. Ein Mann mit grauem Bobschnitt und Cordjackett sitzt vor dunklem Hintergrund und referiert.

Er spricht über Studien und Viren, Medizinerdeutsch. Es wäre ganz langweilig. Würde nicht gerade ein tödliches Virus die Welt in Atem halten. Und wäre er nicht, wer er ist. Der Mann ist Wolfgang Wodarg, ehemals Amtsarzt in Flensburg und zu seiner Zeit im Bundestag ein renommierter Gesundheitspolitiker.

Wodarg glaubt nicht an die Pandemie. Er hält das aktuelle Drama für eine internationale Verschwörung, um Aufmerksamkeit und Forschungsgelder für die Wissenschaft zu generieren. Denn die Virus-Epidemie, sagt er, die gäbe es ja nur, weil der Berliner Virologe Christian Drosten einen Test für Sars-CoV-2 erfunden hätte. „Da ist etwas gesponnen worden, ein Netz von Informationen hat sich in diesen Fachkreisen entwickelt, und die Politik hat sich das angezogen. Jetzt wird es ganz schwer für Kritische zu sagen, da ist aber nichts los. Da geht es um Wissenschaftler, die wichtig sein wollen in der Politik, weil sie Geld für ihre Institute brauchen.“

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Allein dieses Video wurde über 150.000 mal aufgerufen. Aber es gibt noch mehr: Das Leserfragen-Video, das die Redaktion des ZDF-Nachrichtenmagazins Frontal 21 ein paar Tage später mit ihm eingestellt hat, das haben fast 500.000 Menschen gesehen. Und am Mittwoch bringt es die ehemalige Tagesschau-Moderatorin Eva Herman mit ihrem Interview mit ihm sogar auf fast eine Million Zuschauer.

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Wodarg-Thesen hört man jetzt überall, in der Schlange beim Bäcker, wenn es um den richtigen Abstand zum Vordermann geht. In Mails von Freunden, wenn sie fragen, ob sich die Kinder nicht einfach alle zum Spielen treffen sollten. Wer Wodarg zuhört, der nimmt die Bitte um freiwillige Quarantäne der eigenen Familie zum Schutz der Allgemeinheit überhaupt nicht mehr ernst. Wer ihn als Journalist zu seinen Thesen befragen will, der bekommt nur den Hinweis, dass er „wegen der vielen Fragen nicht mehr alle beantworten kann“.

Wie auch: Wodarg argumentiert mit denselben Fachbegriffen und Kurven, wie die Epidemiologen, die jetzt überall zu hören sind. Zum Beispiel verweist er auf eine groß angelegte Studie der Universität von Glasgow zwischen 2005 und 2013, in denen die Verursacher von Atemwegserkrankungen bestimmt wurden. Dabei kam heraus, dass etwa 15 Prozent von Coronaviren verursacht werden. „Wir haben uns bisher kaum darum gekümmert, wie viele Erreger von Erkältungen es eigentlich gibt“, sagt er. „Coronaviren zu finden, das ist ganz normal. Wenn man diese Proben bei Todkranken nimmt, dann steigt eben auch die ,Todesrate’ bei Corona.“

Seine Botschaft: All die Menschen, von denen man zurzeit hört, sterben nicht an dem neuen Virus, sie sterben mit ihm. Alles reiner Zufall - und schlechte Wissenschaft.

Aber warum entwickelte Christian Drosten den Test? Weil da bei einigen Dutzend Patienten am anderen Ende der Erde in Wuhan etwas war, was erfahrene Infektionsmediziner in den Krankenhäusern von Wuhan extrem unruhig machte.

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Karl Lauterbach, ebenfalls renommierter SPD-Gesundheitspolitiker und zurzeit wegen seiner Tätigkeit als Abgeordneter beurlaubter Direktor des Instituts für Epidemiologie an der Universität Köln, ist ehrlich entsetzt über die große Gemeinde, die Wodarg findet. Er reagierte erst bei Twitter, dann bei YouTube. „Blanker Unsinn!“ Und er erklärt: „Was das jetzige Virus so gefährlich macht, ist, dass es mit den bisherigen Coronaviren nichts zu tun hat, es reagiert ganz anders.“

Coronavirus, das ist ein biologischer Überbegriff wie „Raubtiere“, eine biologische Familie. Der neue Erreger gehört in die Untergattung der Sars-Viren und ist damit zum Beispiel an seiner Oberfläche und mit seiner genetischen Ausstattung ganz anders aufgebaut als die Coronaviren, die sich hinter den bisherigen Erkältungen verbergen und zu anderen Untergattungen gehören. Das hat Konsequenzen für die Angesteckten.

„Das neue Virus kombiniert eine hohe Ansteckungsfähigkeit mit einer hohen Sterberate“, sagt Lauterbach. Tatsächlich sind die in Europa derzeit dokumentierten Todeszahlen (www.who.int) – zwischen 0,5 und 7 Prozent – um den Faktor fünf bis 70 höher als die Todesrate, welche die Influenza, das bislang tödlichste saisonale Atemwegsvirus der Menschheit, verursacht. Die bisher bekannten menschlichen Coronaviren können zwar auch die gefährlichen viralen Lungenentzündungen verursachen – aber viel seltener. Lauterbach: „Jeder Kollege von mir sagt, so etwas haben wir noch nie gehabt, das müssen wir in den Griff bekommen.“

Zahlen sind auch Wodargs Spielwiese. Er glaubt nicht an die gefährliche Pandemie, solange die Zahl der Atemwegstoten aus den vergangenen drei Monaten nicht höher ist als die aus dem gleichen Zeitraum der letzten Jahre. Hat er recht? Er zeigt dazu die Kurven des 20 europäische Länder umfassenden Monitoringprogramms EuroMOMO, das laufende Kalkulationen der an Atemwegserkrankungen Gestorbenen publiziert, die sogenannte Übersterblichkeit.

Die Kurven sehen auch noch im März aus wie immer, 55.000 sinkend. Aber: Der letzte Wert ist vom 2. März. Da fing es in Italien gerade erst an – ganz Europa hatte etwa 2200 positiv getestete Patienten, einige Dutzend Tote. Bei 500 Millionen Kontinentbewohnern und den unterschiedlichsten Arten von Lungenentzündungen reicht das noch nicht, um die Gesamtkurven zu ändern.

Es war aber schon genug, um die Krankenhäuser in Italien, in Frankreich und in der Schweiz an oder über die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu bringen. „Mehrere Tausend beatmungspflichtige Patienten in Italien sind eine Realität“, sagt Gérard Krause, Professor für Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. „Sie wären auch dann aufgefallen, wenn wir noch keinen Nachweis für Sars-CoV-2 hätten. Der Unterschied zu den bisherigen Coronaviren ist: Zu seiner Bekämpfung können wir nicht auf unser Immungedächtnis zurückgreifen.“ Das ist keine Mutmaßung. Wie langsam das Immunsystem reagiert, ist im Labor zu sehen. Tage bevor man die ersten Antikörper findet, wird der Rachen schon mit Viren geflutet. Leider, denn genau deswegen sind die bisherigen Schnelltests keine Option im Kampf gegen die internationale Ausbreitung.

Denn die Virenfunde, die Entwicklung des Nachweises durch die Berliner Charité, all das fand nicht im luftleeren Raum statt. Es gab da etwas, das Ärzte in Wuhan erschreckte – eine ganz neue Krankheit. Patienten, die eben noch erkältet waren und wenig später blau angelaufen um Luft rangen. Und immer mehr und mehr davon. Weil die Krankheit anders verläuft als die, die wir bisher kannten, deswegen hat sie auch einen eigenen Namen bekommen – Covid-19.

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Lauterbach erklärt auch, was Epidemiologen und Staatenlenker derzeit so unruhig macht: „Wenn uns das aus dem Ruder läuft und wir haben im Herbst acht Millionen Infizierte, dann sprechen wir im optimistischen Fall von Zehntausenden, die sterben.“

Die Kurve, die Wodarg und seine Gläubigen überzeugen könnte, jener deutliche Berg von Infizierten und Toten, überdeutlich anders als in all denn anderen Jahren zuvor, die wird es geben: Wenn wir Glück haben, verläuft diese Kurve über ein paar Monate hinweg wie ein sanft ansteigender Hügel. Wenn es schlecht läuft, dann wird sie sich innerhalb von wenigen Wochen als ein steiles Matterhorn auftürmen.

Zur Person:

Der 73-jährige Wolfgang Wodarg promovierte 1974 zu psychischen Erkrankungen bei Seeleuten an der Universität Hamburg. Während seiner Zeit als Hafenarzt in Hamburg ließ er sich zum Lungenfacharzt ausbilden. In den 1980er-Jahren übernahm er die Leitung am Gesundheitsamt Flensburg. Einem größeren Publikum bekannt wurde er, weil er dort den Medizin-Hochstapler und gelernten Postboten Gert Postel als stellvertretenden Amtsarzt einstellte. Von 1994 bis 2009 war er Mitglied des deutschen Bundestags.

Korrektur: In einer ersten Fassung des Artikels schrieben wir Wolfgang Wodarg sei 83 Jahre alt. Das ist falsch, er ist 73. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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