Schauspieler Lars Eidinger und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer
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Entgleiste Debatte

Deutschland und der „Emma“-Brief

Man würde es wohl einen besonderen Zynismus nennen, behauptete man, dass Wladimir Putin mit dem Überfall auf die Ukraine schon eines gelungen sei: die Wiederbelebung der deutschen Friedensbewegung. Im Schatten eines in der Zeitschrift „Emma“ veröffentlichten offenen Briefes namhafter Intellektueller scheinen sich gerade die Debatten des Kalten Krieges unter neuen Vorzeichen zu wiederholen. Sorge und Moral paaren sich mit Pragmatismus – und einer gehörigen Portion an Ursachenverdrehung. Ein Gegenbrief inklusive.

Dass es keine Denk- und Äußerungsverbote geben darf, ist Grundkonsens einer Demokratie. Seit Wochen erinnern Postings in sozialen Netzwerken daran, dass viele im deutschsprachigen Raum den Ukraine-Konflikt auch anders sehen wollen als das Gros der politischen Eliten Europas, die sich mancherorts, gerade etwa in Deutschland, durchaus zaghaft in Richtung einer aktiven Außenpolitik in diesem so klaren wie zugleich heiklen Konflikt bewegt haben.

Pro und kontra deutsche Waffenhilfe

In einem offenen Brief hat die „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz aus Sorge vor einer Ausweitung des Krieges aufgefordert, auf weitere Waffenlieferungen zu verzichten. Zeitungen wie die „Zeit“ machen dagegen Stimmung für noch mehr Waffenlieferungen in die Ukraine.

In Österreich brachte ja das Farbe-Bekennen in der Ukraine-Frage teils erschreckende Lücken in der Geschichtsbildung von Spitzenrepräsentanten des Landes zutage – zugleich schien die Situation des Überfalls auf ein europäisches Land zumindest keine Zweifel über die Haltung zu diesem Konflikt aufkommen zu lassen. Wohl war aber der Einsatz der Mittel, mit denen die Ukraine zu unterstützen sei, nicht Teil einer Einheitsmeinung in europäischen Staaten.

Seit in der Zeitschrift „Emma“ ein offener Brief namhafter wie altbekannter Intellektueller von Alice Schwarzer bis Juli Zeh erschienen ist, der sich offensichtlich aus dem Geist des Pragmatismus für einen Stopp der Waffenlieferungen an Kiew einsetzt, scheint die Diskurslandschaft Deutschlands gespalten. Da die einen, die wie Karl Schlögel, Daniel Kehlmann und Eva Menasse weiter aktive Waffenlieferungen an Kiew fordern und ein Nichtzurückziehen der jüngst gefundenen aktiven Haltung Deutschlands befürworten. Da die anderen, die sich auf den Grundgedanken des Pazifismus berufen – und eine dringende, rasche Eindämmung des Konflikts selbst im Falle des Verlustes von Territorium für die Ukraine fordern.

Schwarzer ortet gespaltene Republik

In der ZIB2 am Donnerstag argumentierte Schwarzer, der Brief sei auch aus dem Anspruch entstanden, dem Meinungsbild in Deutschland zu entsprechen. Öffentliche und veröffentlichte Meinung würden im Land nicht mehr zusammenpassen, die Bevölkerung sei in der Frage der schweren Waffenlieferungen an die Ukraine genau in der Mitte gespalten. Sie sei aber klar dafür gewesen, die Ukraine am Anfang zu unterstützen – jetzt müsse man aber schauen, dass dieser Krieg einmal ein Ende habe.

Schwarzer und Plassnik zu Waffenlieferungen

Ursula Plassnik, Diplomatin und ehemalige Außenministerin (ÖVP), und die deutsche Journalistin und Publizistin Alice Schwarzer erklären ihre Ansichten über Waffenlieferungen an die Ukraine. Schwarzer kritisiert die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und dem in den Medien aufgebauten Druck zu Waffenlieferungen, die zu einem Weltkrieg führen könnten.

Lars Eidinger in der Gesamtschule der Wirklichkeit

Im Feld der Pazifisten tummeln sich Akteure, die bisher kaum durch politische Äußerungen aufgefallen sind, wie der in allen Szenen beliebte und vom Feuilleton adorierte Schauspieler Lars Eidinger. Dieser brillierte jüngst als Gast von Gregor Gysi mit seinem Nichtwissen zur politischen Landschaft Europas. „Ich wusste gar nicht, dass Weißrussland ein eigenes Land ist; bis vor Kurzem dachte ich, es sei ein Teil Russlands“, so Eidinger, der im März von Dreharbeiten aus Belarus heimgekehrt war und das fröhlich lachende Publikum daran erinnerte, „nur auf einer Gesamtschule gewesen“ zu sein.

Auf Instagram verkündete er jüngst auf Englisch, dass er sich als Schauspieler aus politischen Auseinandersetzungen eigentlich fern halten sollte – dass er dafür ja auch politische Repräsentanten gewählt habe. Dennoch fühle er sich an seine Befragung zum deutschen Zivildienst erinnert, wo er für eine Bedrohungssituation eines lieben, nahen Menschen für dessen Rettung nicht zur Waffe greifen wollte – weil die Spirale der Gewalt unterbrochen werden müsse.

Die deutsche Friedensmoral

Die momentane Genealogie der deutschen Friedensmoral blüht auf dem Humus der Pragmatik. Kurz zusammengefasst könnte man den ohnedies sehr knappen Brief in der „Emma“ auf die Formel bringen: Akzeptieren wir einen Teil der russischen Gebietsgewinne und verhindern wir durch einen Stopp der Waffenlieferungen, dass sich dieser Krieg zu etwas Größerem, nämlich einem nuklearen Weltkrieg auswächst. Dem halten andere Intellektuelle wie Schlögel von Anfang an entgegen, dass man in der westlichen Welt nicht von Demokratie reden könne, wenn man jetzt nicht in die Ukraine gehe und dort kämpfe.

Am Punkt des direkten und indirekten Mitkämpfens bricht nun die Debatte, die sich ja in beiden Fällen an den deutschen Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die von ihm geführte Bundesregierung richtet. Die Kritiker am momentanen Befund, wie etwa Peter Weibel, ziehen in Zweifel, dass in der Ukraine gerade westliche Werte verteidigt würden. Ihre Argumentation klingt so, als käme sie direkt aus den Couloirs des Kreml: das hintergangene Russland bei der NATO-Osterweiterung und vor allem die Ukraine in der Geiselhaft des ukrainischen Präsidenten, kurz, einer Regierung, die so demokratisch gar nicht sei.

„Die fünf Millionen oder mehr Menschen, welche die Ukraine verlassen, fliehen nicht allein vor dem Krieg, sondern sie fliehen auch aus der korrupten Ukraine“, verkündete Weibel in Reaktion auf die Debatte des von ihm mitunterzeichneten Briefs und stellte solchen Erkenntnissen voran: „Die Rhetorik, mit der die Unterzeichnerinnen des Briefes überschüttet werden, erinnert nicht an die freie Welt, sondern eher ans russische Staatsfernsehen.“

Bild von Peter Weibel
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Briefunterzeichner Weibel: „Die fünf Millionen oder mehr Menschen fliehen auch aus der korrupten Ukraine“

Ein Brief und seine Auslassungen

Über Struktur und Korruption im Kreml wird in der Debatte der Friedensbefürworter nicht gesprochen, wohl auf der Grundlage der Tatsache, dass der Krieg und der Überfall auf die Ukraine per se ohnedies verurteilt werde. „Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts“, heißt es einleitend.

„Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.“ Zwei Grenzlinien seien nun erreicht, heißt es weiter. Einerseits, dass die Eskalation zu einem atomaren Konflikt größeren Ausmaßes führe. Und: Durch „die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen“ könne Deutschland „selbst zur Kriegspartei“ gemacht werden.

Die zweite Grenzlinie sei das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung – „selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis“. Von einer „paternalistischen Ethik“ spricht der Slawist und Literaturwissenschaftler an der FU Berlin, Georg Witte, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Reaktion auf die Debatte. Er könne ja verstehen, dass sich „Ressentimentsatiriker wie Dieter Nuhr oder Edelkitscher wie Reinhard Mey“ diesem Schreiben anschlössen – aber warum auch Menschen mit Russland-Expertise im Format eines Alexander Kluge mitmachten, sei nur schwer nachzuvollziehen.

Witte ortet mehrere „unausgesprochene Prämissen“ in diesem Brief – man könne diese schlicht auch als Verdrehung von Ursache und Wirkung beschreiben. „Vernichtet, ermordet wird die ukrainische Zivilbevölkerung dann, wenn sie sich der russischen Vernichtungsmaschinerie wehrt. Übrigens wehrt sie sich nicht selbst, diese Opfer zwingt ihr eine unbelehrbare und nationalistische Armee auf“, so Witte zur Argumentation in dem Brief – von der überwiegenden Mehrheit in der Bevölkerung, das Land verteidigen zu wollen, schweige das Schreiben.

Joseph Beuys in der Menschenmenge im Bonner Hofgarten 1982
Guenay Ulutuncok / akg-images / picturedesk.com
Protest gegen die Pershing-Stationierung in Europa im Bonner Hofgarten 1982. In der Mitte der Menschen: Joseph Beuys als Missionar der guten Haltung.

Ein Hauch vom Bonner Hofgarten 1983

Würden die Waffen endlich gestreckt, dann wäre die Zivilbevölkerung sicher, so die Argumentation in dem Schreiben. Vieles in dem Brief riecht auch nach der Haltung auf den Friedensdemos im Bonner Hofgarten 1982, als sich ein von den Massen bewegter Joseph Beuys auf die Bühne stellte und „Sonne statt Reagan“ deklamierte. Damals hatte die Linke und die entstehende Grünbewegung im US-Präsidenten Ronald Reagan und dessen harter Aufrüstungspolitik gegen das Vordringen der Sowjets Ende der 1970er Jahre im Schatten der Carter-Ära ein klares Feindbild.

Abseits guter Absichten darf man den Unterzeichnern des „Emma“-Briefes ein hohes Maß an Selbstgewissheit bei gleichzeitiger historischer Vergessenheit attestieren. Der Effekt der westlichen Appeasement-Politik hat sich in den Jahren 2014 bis 2021 erwiesen. Deutschland und Österreich spielten vorne ganz besonders eifrig mit in dieser Liga. Zumindest von der jüngeren Vergangenheit und dem scheinbar friedlichen Wegschauen gerade auch Deutschlands schweigt dieser Brief – beredt. Ebenso wie zum Thema Appeasement zwischen 1933 und 1939. Es darf vor dem Briefeschreiben wieder das Geschichtsbuch studiert werden.