WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Syrien: Christliche Fraueneinheit kämpft gegen IS-Terroristen

Ausland Christliche Fraueneinheit

Hausfrauen und Mütter ziehen gegen IS in den Krieg

Nun kämpfen Hausfrauen und Mütter gegen den IS

Seit 2012 kämpfen kurdische Frauen gemeinsam mit Männern gegen den „IS“. Nun stehen auch Soldatinnen der Christlichen Miliz MFS zum Kampf gegen die Terror-Miliz bereit - viele von ihnen sind Hausfrauen.

Quelle: Die Welt

Autoplay
Früher erzogen sie ihre Kinder, heute kämpfen sie gegen Terroristen: Die erste christliche Frauenmiliz ist fest entschlossen, die Islamisten zu besiegen. Ihre Familien sind stolz.

Die Wache ist penibel. Nicht nur den Passagierschein und die Insassen kontrollieren sie. Selbst unter dem Wagen schauen sie nach, ob dort nicht ein Sprengsatz versteckt ist. Erst dann geht die Schranke zur Basis der christlichen „weiblichen Verteidigungskräfte“ hoch. Dort treibt Kommandeurin Sbersa gerade zehn Rekrutinnen über den Trainingsplatz, der einsam zwischen Feldern auf dem Lande irgendwo in der Nähe der nordsyrischen Stadt Kahtania liegt.

Die Frauen müssen laufen, springen, sich auf den Boden werfen und natürlich auch schießen. „Wir sind genauso gut wie die Männer“, sagt die 24-jährige Kommandeurin. „Wir kämpfen mit ihnen Seite an Seite.“ Beim Training muss sie nur einmal eingreifen, als eine der alten Kalaschnikows Ladehemmung hat. Mit kurzen, gekonnten Handgriffen ist das Problem schnell behoben und dann peitschen die Schüsse wieder in den Erdwall am anderen Ende des Übungsplatzes.

Die Fraueneinheit beim Training
Die Fraueneinheit beim Training
Quelle: Alberto Prieto

Die weiblichen Verteidigungseinheiten gehören zur christlichen Miliz MFS. „Wir sind aber völlig unabhängig“, wie Sbersa stolz betont. „Wir nehmen keine Befehle von anderen an, wir entscheiden alles selbst.“ Am 30. August haben sie mit dem Training der ersten Rekrutinnen begonnen. Seitdem sind rund 50 Frauen an der Waffe ausgebildet worden.

„Wir befinden uns noch in der Anfangsphase, und es gibt viel zu tun“, sagt Ischow Gowrieh, der Vorsitzende der syrisch-christlichen Unionspartei (SUP). Er überwacht gerade auf dem Dach des Hauptgebäudes zwei Maurer bei Reparaturarbeiten. Es ist ein antiker Steinbau, der zur Frauenbaracke umgebaut wurde.

„In der Stadt Hassaka haben wir noch ein zweites Projekt“, sagt Gowrieh, der mit seinem dunklen Anzug nicht so recht in die militärische Umgebung passt. „Dort bauen wir eine weibliche Einheit der Sutoro auf.“ Sutoro bedeutet in der syrischen Sprache, einem modernen Aramäisch, das hier im Norden Syriens von vielen Christen gesprochen wird, Polizei oder Sicherheitskräfte. „Wir haben genug Personal“, behauptet Gowrieh selbstbewusst. „Nur die nötige Ausrüstung und die Waffen lassen auf sich warten. Mehr Unterstützung wäre gut.“

Christen ein wichtiger Integrationsfaktor

Die Christen der Region rüsten weiter auf. Mit ihrer MFS-Miliz spielen sie bereits eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Die christlichen Kämpfer sind Teil der neuen Militärallianz der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Das ist ein ethnisch und religiös übergreifendes Bündnis, in dem neben Christen, auch Kurden, Araber und Turkmenen vereint sind.

Die SDF konnten mithilfe der Luftunterstützung der USA die IS-Terrororganisation in nur wenigen Wochen aus der gesamten Provinz Hassaka vertreiben. Nun steht der Angriff der IS-Hochburg Rakka auf dem Plan, die noch vor Frühlingsbeginn befreit werden soll. Die Christen sind innerhalb der SDF ein wichtiger Integrationsfaktor. Sie sind eine Art „neutraler Puffer“ zwischen den unterschiedlichen Volks- und Religionsgemeinschaften.

Rund die Hälfte unserer Gemeinschaft ist seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien nach Europa ausgewandert
Kino Gabriel, Sprecher der MFS-Miliz

Mit dem Aufbau der weiblichen Kontingente von Polizisten und Soldaten unterstreichen die Christen einmal mehr ihre militärische sowie ihre gesellschaftliche Rolle. Und das, obwohl viele ihrer Glaubensbrüder das Land inzwischen verlassen haben. „Rund die Hälfte unserer Gemeinschaft ist seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien nach Europa ausgewandert“, sagt Kino Gabriel, der Sprecher der MFS-Miliz.

„Sollte das so weitergehen, kann uns das militärisch wie kulturell Probleme machen. Denn wir wollen unsere Kultur und unser Heimatland nicht aufgeben.“ Der MFS hat mittlerweile die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. „Ab dem 18. Lebensjahr muss jeder Mann mindestens sechs Monate Dienst machen“, erklärt Gabriel. „Wobei sich jeder entscheiden kann, ob er an die Front geht oder nicht.“

Anzeige

Bei den Frauen gibt es keine Wehrpflicht, informiert Sebesa, die Kommandantin des Trainingslagers. „Jeder von uns ist freiwillig hier und kann jederzeit wieder nach Hause gehen.“ In einem Aufenthaltsraum wird Tee serviert. Die Schuhe bleiben draußen vor der Tür. Natürlich sei die Fraueneinheit nach dem Vorbild der weiblichen Truppen der kurdischen YPG entstanden, sagt Sbesa und schlürft Tee aus ihrem Glas. „Wir stehen mit ihnen auch in Kontakt und tauschen unsere Erfahrungen aus.“

Soldatin Lucia spielt mit Hunden
Soldatin Lucia spielt mit Hunden
Quelle: AFP

Die kurdische YPJ wurde bereits 2012 gegründet und ist, neben den Männern der YPG-Miliz, ein fester Bestandteil im Kampf gegen den IS. Da wollen die christlichen Fraueneinheiten nicht länger nachstehen. Bisher konnten sie jedoch nur einmal Fronterfahrung sammeln. Das war im November bei der Rückeroberung von al-Hole. Die Einnahme der syrischen Grenzstadt zum Irak war Teil der groß angelegten Operation der Militärallianz SDF gegen die IS-Dschihadisten.

„Wir waren zwischen den Offensivkräften an der ersten Linie und den Verteidigungseinheiten dahinter stationiert“, erzählt die 18-jährige Lucy. Sie trägt eine dicke Holzkette mit Marienbild im herzförmigen Anhänger um den Hals. „Aber wir kamen nicht zum Kämpfen“, meint die junge Frau, deren schüchternes Lächeln und sanften Gesichtszüge nicht so recht an die Front passen wollen. „Der Lärm war schon etwas Neues für mich“, sagt sie ernst und presst dann die Lippen aufeinander. Das Pfeifen der herumfliegenden Kugeln, die Detonationen von Explosionen und Bombenabwürfen habe ihr Angst gemacht. „Aber nach dem Ende der Schlacht ist die Furcht für immer weg.“

Früher Hausfrau, jetzt an der Front

Lucy war eine der ersten Freiwilligen und ist nun schon seit fünf Monaten dabei. Sie hat die Schule verlassen, um für ihre Heimat und die christliche Kultur zu kämpfen, wie sie sagt. Und ihre Eltern, die waren einverstanden? „Mein Vater fand es gut, meine Mutter wollte unbedingt verhindern, dass ich zum Militär gehe.“ Aber am Ende traf Lucy selbst ihre Entscheidung. Sie könne anderen nur empfehlen, ebenfalls die Waffe in die Hand zu nehmen. „Alle, die von uns ausgewandert sind, sollen zurückkommen und ihr Land verteidigen.“ Mit einigen ihrer Freundinnen, die nach Europa gingen, ist Lucy noch in Kontakt. „Ich hoffe, ich kann die ein oder andere von ihnen überzeugen, wieder nach Hause zu kommen.“

Einige der Kampfgenossinnen von Lucy sitzen nach dem Training im Freien auf einem Mauervorsprung. Es wird geraucht und geplaudert. Unter ihnen sind Babylonia und Salin. Beide sind Mitte dreißig, waren vorher Hausfrauen und haben Kinder. „Es ist unsere Pflicht als Frauen einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten“, sagt die eine und die andere stimmt nickend zu. Ihre Ehemänner hatten nichts gegen ihren Militärdienst einzuwenden. „Mein Mann ist bei der Sutoro“, sagt Babylonia. „Da gibt es keine Meinungsverschiedenheit.“ Salin sei ebenfalls von ihrem Mann unterstützt worden.

Mittagessen im Stehen: Die Kämpferinnen sorgen abwechselnd für warme Mahlzeiten
Mittagessen im Stehen: Die Kämpferinnen sorgen abwechselnd für warme Mahlzeiten
Quelle: AFP

Und was ist mit den Kindern? „Die sind stolz auf mich“, versichert Salin, mit ihrem langen Zopf und der braunen Wollmütze auf dem Kopf. „Mein Sohn ist elf Jahre alt und wäre am liebsten mit mir mitgekommen.“ Salin strahlt dabei übers ganze Gesicht. „Meine Kinder sind erst sechs und neun Jahre alt“, sagt Babylonia, „auch sie sind stolz auf mich.“ Die Väter, Verwandte und Freunde passten abwechselnd auf die Kleinen zu Hause auf, während die Mütter ihren Dienst tun.

Alle Frauen im Trainingslager freuen sich auf die kommenden Einsätze. „In al-Hole konnten wir keine Terroristen töten“, sagt Salin. „Aber das wird sich ändern“, fügt Babylonia an. So viele wie möglich sollen es werden, mischt sich Lucy ein. Dann aber gibt es erst einmal das Zeichen zum Mittagessen. Jeden Tag kocht eine andere Frau auf der Basis. Heute gibt es Huhn auf Bulgur und dazu eine Hühnerbrühe. Gegessen wird im Stehen an einem langen Tisch in der Gemeinschaftsküche. Als Nachtisch schält eine Kämpferin Orangen. Die Stimmung ist gut, es wir viel gelacht. Draußen vor der Tür spielt jemand mit einem der drei Hunde des Lagers. Lange wird die Idylle nicht halten. Denn der nächste Fronteinsatz kommt vermutlich schon sehr bald.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema