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Jan Fleischhauer

Paragraf 218 Das kalte Herz der Abtreibungsdebatte

Beim Streit über das Werbeverbot für Abtreibungen geht es um mehr. Die Jusos haben just einen Antrag auf Streichung des Paragrafen 218 beschlossen. Damit wären Schwangerschaftsabbrüche bis zum 9. Monat möglich.
Demonstration für eine Abschaffung der Abtreibungsparagrafen 218 und 219 (Archivbild)

Demonstration für eine Abschaffung der Abtreibungsparagrafen 218 und 219 (Archivbild)

Foto: Boris Roessler/dpa

Soll man für Abtreibungen werben dürfen? Das ist eine Frage, die das politische Berlin seit Längerem beschäftigt. Bislang ist es verboten, Abtreibungen zu bewerben. Wer zum eigenen "Vermögensvorteil" oder "in grob anstößiger Weise" Verfahren ankündigt oder anpreist, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, wird mit Freiheitsentzug bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe belegt. So regelt es der vergleichsweise unbekannte Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs.

Zum Thema ist das Ganze geworden, seit neben Grünen, FDP-Abgeordneten und Vertretern der Linkspartei auch weite Teile der Sozialdemokratie meinen, dass diese Gesetzesvorschrift nicht mehr in die Zeit passe. Die SPD hat angekündigt, den Paragrafen bis Ende des Jahres zu schleifen - notfalls mit den Stimmen der Opposition. Das wäre der Koalitionsbruch, darüber sind sich alle klar. Am Mittwoch haben die zuständigen Minister der Großen Koalition über einen Kompromiss verhandelt. Aber das schiebt den Streit nur auf, erledigt ist damit nichts.

Der Kampf wird im Verborgenen erbittert geführt

Die Befürworter einer Reform machen geltend, dass es bei der von ihnen kritisierten Regelung in Wirklichkeit darum gehe, Frauen Informationen vorzuenthalten, um so Abtreibungen zu erschweren. "Es gibt kein Werbungsverbot, weil es NIE Werbung für Abtreibung gab", schrieb der auch im ernsten Fach auftretende Fernsehkomödiant Florian Schroeder in einem vielbeachteten Tweet. "Es gibt ein Informationsverbot für betroffene Frauen, und das ist ein Skandal."

Das ist zwar grober Unsinn, wie jeder weiß, der sich ein bisschen mit der Abtreibungspraxis in Deutschland auskennt. Jede Pro-Familia-Dependance händigt auf Anfrage eine Liste von Ärzten aus, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. In Deutschland muss in der Regel jede Schwangere, die ein vorzeitiges Ende ihrer Schwangerschaft wünscht, ohnehin eine Stelle wie Pro Familia aufsuchen. Nur weil die Information, welcher Gynäkologe in der Nähe Abtreibungen anbietet, nicht auf Anhieb im Netz zugänglich ist, bedeutet das nicht, dass man sie lediglich unter der Hand beziehen kann.

Warum also wegen der Beseitigung eines Missstands, der gar keiner ist, eine Regierungskrise riskieren? Weil es tatsächlich gar nicht um den Paragraf 219 geht. Das eigentliche Ziel der Reformbemühungen ist nicht diese mehr oder weniger obskure Regelung, von deren Existenz die wenigsten Bürger bis vor Kurzem gehört haben dürften. Das eigentliche Ziel ist der Paragraf 218. Das wissen sowohl Befürworter wie Gegner, deshalb wird der Kampf auch so erbittert geführt.

Die salomonische Formel, die bis heute Bestand hat

Es ist 25 Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht sein letztes wegweisendes Urteil zum Abtreibungsrecht fällte. Was viele nicht wissen (inklusive des ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, wie er gerade bei "Anne Will" zeigte): Auch nach diesem Urteil sind Abtreibungen in Deutschland nicht legal. Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich die "Pflicht" der Frau festgeschrieben, ihr Kind auszutragen. Der Staat verzichtet lediglich auf die Strafverfolgung, wenn sie sich binnen der ersten zwölf Schwangerschaftswochen für einen Abbruch entscheidet. Das ist die salomonische Formel, die bis heute Bestand hat. Die Frau muss ihre Entscheidung innerhalb der ersten zwölf Wochen auch nicht weiter erklären. Nur wenn der Fötus älter ist, müssen besondere Gründe geltend gemacht werden.

Es ist genau diese, unwirksam gestellte Strafandrohung, die man jetzt gern beseitigen würde. Im Paragraf 218 ist noch das Bewusstsein wach, dass man zumindest ein schlechtes Gewissen haben sollte, wenn man Leben frühzeitig beendet. Ich würde immer sagen, dass ein schlechtes Gewissen ein vergleichsweise kleiner Preis ist, den man zu entrichten hat, wenn man sich zu einer Abtreibung entscheidet, das sollte übrigens für beide Geschlechter gelten. Aber das sieht man in feministischen Kreisen grundsätzlich anders.

Wie weit die Reformer in ihrem Kampf zur Befreiung der Frau zu gehen bereit sind, haben die Jusos gerade bei ihrem Bundeskongress demonstriert. Ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 lautete der Antrag, der unter großem Beifall angenommen wurde, also die Möglichkeit zur Abtreibung während der gesamten Schwangerschaft. Normalerweise nehme ich es nicht besonders ernst, was auf Kongressen der Jungsozialisten verabschiedet wird. Doch seit der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert als die große Hoffnung der SPD gilt, scheint es mir angeraten, genauer hinzusehen.

Woher kommt diese Kaltschnäuzigkeit?

Nicht einmal allen Jusos ist wohl bei der Vorstellung, dass man nach der Beschlusslage des "feministischen Richtungsverbands" (wie die Selbstbezeichnung lautet) auch ein vollständig lebensfähiges Kind zu Tode bringen dürfte, solang es noch nicht das Licht der Welt erblickt hat. Es gibt auf YouTube ein Video von der Debatte, das sich anzusehen lohnt.

Zunächst treten darin zwei junge Frauen auf, die ihre Bedenken vortragen. Eine der beiden ist offenbar medizinisch gebildet, jedenfalls kann sie relativ präzise beschreiben, was es bedeutet, wenn zum Beispiel ein sechs Monate alter Fötus aus dem Bauch der Mutter gezerrt wird, um auf dem OP-Tisch zu landen.

Was in dem Video folgt, kann man getrost als öffentliche Hinrichtung bezeichnen. "Es kann doch nicht euer Ernst sein, so eine rhetorische Pathetik hier an den Tag zu legen", erklärt eine Gegenrednerin, bei der das Wort "Feminism" breit auf dem T-Shirt prangt, unter Gejohle. "Es wurde gerade gesagt, wir müssten für etwas einstehen. Ja, für die Lebenden, für die Frauen, für ihre Selbstbestimmung, und nicht für irgendwelche Ungeborenen. Die haben einfach vorher kein Recht. Und die Grundrechte, das Menschenrecht, gilt zuerst mal für die Frau und dann für alles andere." Woher kommt diese Kaltschnäuzigkeit, dachte ich, als ich das sah. Wo trainiert man sich diesen Ton an?

Dilemma der modernen Gynäkologie

Vor ein paar Wochen ist auf SPIEGEL ONLINE ein Text über ein Mädchen erschienen, das in der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt kam. Das Mädchen hat ein paar Konzentrationsschwächen, ansonsten ist es ein völlig normales Kind. Das Beispiel zeigt, auf welchem Stand die Neugeborenenintensivmedizin heute ist - und damit das Dilemma der modernen Gynäkologie. Dasselbe Kind, das mit einer Kaliumspritze zu Tode gebracht werden darf, solange es den Mutterleib noch nicht verlassen hat, wird mit dem gesamten medizinischen Gerätepark eines Krankenhauses am Leben erhalten, wenn der Ansatz des Kopfes im Geburtskanal sichtbar ist.

Ich sage nicht, dass dieses Dilemma einfach aufzulösen ist, ich denke nur, dass man sich der Fallstricke wenigstens bewusst sein sollte. Eine Partei, in der Menschen niedergemacht werden, weil sie ihre moralischen Bedenken äußern, hat jedenfalls ein Problem, das weit über sinkende Umfragen hinausgeht.