Der Kuss Jesu in der Legende vom Großinquisitor von Fjodor M.
Dostojewski
Die Frage, was es zu
bedeuten hat, dass Jesus in Dostojewksis Legende vom Großinquisitor
den alten und zynischen Hierarchen wortlos küsst, dass dies seine einzige, „tätige“ und materiell
fassbare Antwort auf die seitenlange Anklage des alten Kardinals
gegen den Erlöser ist, wird oft gestellt und niemals beantwortet.
Ich finde das so
verständlich wie verwunderlich, denn das Kuss-Motiv in der Passion
Christi ist wohlbekannt. Allerdings – jetzt, wo ich das schreibe,
bemerke ich, dass dieser Judaskuss zwar allgemein als Akt des
Verrates, als eine Verkehrung eines Zeichens der Liebe, Versöhnung
und Freundschaft angesehen wird. Die Natur der Verkehrung dieses
Kusses wird aber nicht ausreichend reflektiert und bleibt auf der
Oberfläche des verabredeten Verräterzeichens stehen, auf der es nur
darum geht, zum Zwecke der Verhaftung Jesu unter mehreren anwesenden
Männern den „richtigen“ zu markieren.
Das
Matthäus-Evangelium (Mt26) überliefert uns den Sachverhalt
folgendermaßen:
Mitglieder des Sanhedrin und Älteste des
Volkes beschließen nach mehreren starken, obrigkeitskritischen
Auftritten Jesu in Jerusalem kurz vor dem Pesachfest, den Redner mit
List zu ergreifen und zu töten.
Jesus befindet sich
unmittelbar vor diesen Ereignissen im Hause „Simons des
Aussätzigen“, eine Gestalt, die bisweilen mit Lazarus, den er
auferweckt hatte, identifiziert wird.
Mitten hinein in
diesen Aufenthalt tritt eine Frau. Eine Frau, die in der Runde nichts
zu suchen gehabt hätte und einen unglaublichen Akt begeht:
Sie holt ein
Alabasterfläschchen mit kostbarem Salböl hervor und salbt das Haupt
Jesu.
Diese Handlung samt
der Akzeptanz dieses Aktes, die Jesus zeigt, erregt den Unwillen der
Jünger. Sie murren und moralisieren, sprechen von Verschwendung und
davon, dass man anstatt so viel Geld für solchen Unfug aus dem
Fenster zu werfen, einige Arme hätte unterstützen können.
Einem
Bild Jesu als „Sozialrevolutionär“ wird hier ein Zahn gezogen.
Allerdings wird uns gesagt, dass dieses Missverständnis bereits die
Apostel geleitet haben muss. Alle nehmen sie daran Anstoß, ohne
Ausnahme.
Jesus sagt daraufhin
einen denkwürdigen Satz:
„Denn als sie
dieses Salböl über meinen Leib goss, tat sie es zu meinem
Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo dieses Evangelium gepredigt
werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was
sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ (Mt26, 12f)
Eis mnemosynon
autes, ihr zum Gedächtnis,
werde dies erzählt werden, wenn es um seine Frohe Botschaft vom
kommenden Reich gehe.
Schon an dieser
Stelle sollte jeder aufmerksame Schriftleser stutzen:
Ist das so, wie
Jesus es sagte? Wo wird denn diese Geschichte erzählt, stets
zusammen mit seiner Frohen Botschaft?
Sie wird in der Tat
nur selten miterzählt, überhaupt selten erwähnt und am besten von
allen vergessen. Alleine schon das ist ein Hinweis darauf, dass die
Botschaft, die die Kirche verkündet, nicht dieselbe sein kann, die
Jesus verkündete.
Warum aber sollte
diese Geschichte für Jesus und sein Reich so wichtig sein?
Er selbst sagt,
diese Salbung sei zu seinem Begräbnis geschehen. Aber warum war es wichtig, dass er vor seinem Begräbnis, als noch
Lebender, gesalbt wurde?
Wir wissen, dass in
den Evangelien-Erzählungen die Frauen Jesus salben wollten, als er
wirklich gestorben war, dazu aber nicht mehr kamen, weil er bereits
auferstanden war. Zwar „wickelte ihn (Josef von Arimatäa) in
ein reines Leinentuch“, als er ihm nach der
Kreuzabnahme am Freitag eine Grabgruft gab, aber er salbte ihn nicht
(Mt27,60).
Maria Magdalena und
eine andere Maria hätten es beobachtet, heißt es in V61.
In Lk23,56 und 24,1
wird präziser berichtet, diese Frauen hätten das gesehen und
anschließend Salböle bereitet, aber den Schabbat abgewartet, bis
sie zur Tat schreiten wollten: Der Verstorbene musste unbedingt auch
gesalbt werden. Warum hatte Josef das versäumt? Das
Johannes-Evangelium erzählt, Nikodemus, der, der nachts einmal zu
Jesus heimlich gekommen war, habe Salböle zu Josef gebracht, hundert
Pfund Myrrhe und Aloe, und die beiden hätten die Leintücher mit
diesen Ölen versetzt (Joh19,40). Diese Divergenz ist eigentümlich.
Das Thema der
Salbung durchzieht also diese letzten Stunden Jesu in auffallender
Weise.
Zugleich hängt die
Frage seiner Salbung mit den Frauen zusammen, die sie wollen und
vollziehen, und den Männern, die sie – weitgehend – vergessen
oder sogar verweigern und ablehnen.
Warum ist das so
denkwürdig?
Hier scheiden sich
zwei Wege, die unscharf mit den Geschlechtern verbunden werden:
Frauen erkennen den Christus als den Gesalbten an und wollen,
dass er auch seitens des Menschen wirklich gesalbt wird, Männer
nicht. Was bedeutet diese Beobachtung?
Sie bedeutet in der
Logik der Evangelienberichte, dass seine Salbung, die ihn
letztendlich als Gesalbten, König, als Christus, als maschiach,
auszeichnet, eine Salbung zum Tode ist.
Um das zu verstehen,
muss man die Auseinandersetzung Gottes mit den Israeliten bedenken,
die ihn als ihren König verwerfen zugunsten eines
menschlichen Königs. Wir finden diese Geschichte in 1Sam8: Sie
wollen wie alle Welt beherrscht werden von einem Menschen und seinem
Hof, weil sie glauben, dadurch stabiler und wehrfähiger zu werden,
Vorteile gegenüber den Nachteilen der vorherigen Anarchie unter der
alleinigen Führung von Richtern und Propheten zu erlangen. Gott
stellt ihnen in einer langen Rede des Propheten Samuel vor Augen,
dass die Staatsbildung und das Königtum sie zu Sklaven machen wird,
aber sie beharren darauf, einen König zu wollen. Und Gott – gibt
ihnen einen König, den er durch Salbung designieren lässt. Der
erste König Israels wird Saul sein, den Gott später seinerseits
verwerfen wird.
Die Salbung ist im
israelitischen Kontext folglich eine ambivalente Sache, sie markiert
ein Handeln Gottes, eine Designation wider Willen, aus pädagogischen
Gründen womöglich, wie es in der jüdischen Reflexion bisweilen
vermutet wird. Gott hätte es jedenfalls der Erzählung nach klar und
eindeutig anders gewollt. Umso erstaunlicher, dass bis heute
zahlreiche Theologen darüber fabulieren, dass Gott selbst das
Königtum eingesetzt habe, dass es der Katechon sei, dass es
seine Herrschaft über die Erde abbilde und dergleichen.
Definitiv verfehlt
eine solche Theologie die tatsächliche literarische Anlage in der
Heiligen Schrift, die konsequent durchgezogen wird bis zum Schluss:
Das Königtum steht wider Gott, auch wenn der eine oder andere König
tut, was dem Herrn wohlgefiel, als Institution widersteht es
Gott und verstellt dem Menschen den Blick auf die göttliche
Regierung. Aufgrund der Halsstarrigkeit seines Volkes gesteht er
ihnen aber einen König zu.
Verwundert es
angesichts dieses Hintergundes, dass der Christus, der Gesalbte und
Menschensohn, der wirklich eins ist mit Gott, weder herrscht, noch
regiert noch irgendwelche Anstalten dazu tut, ein Reich verkündet,
das basileia tou Theou heißt, Reich Gottes, das Reich, dem
sich die Israeliten widersetzt hatten und das ihnen dennoch, ihnen
und damit der ganzen Menschheit, durch die Propheten verkündet wurde
als die kommende malkhut?
Ein Reich, in dem
Menschen nicht mehr übereinander und schon gar nicht über Gott
herrschen können, in dem sich jede – durch das ehrlich empfundene
Unbehagen an der Situation in diesem Weltsystem – gelehrte
(platonische und gnostische) Debatte über die Frage, ob (untätige)
„Regierung“ und (tätige) „Herrschaft“ in eins fallen oder
nicht zusammen zu bringen sind, erübrigen wird, weil Gott nicht
herrscht, wie Menschen sich Herrschaft vorstellen? Weil er, der
Allerhöchste, eben nicht der unbewegte Beweger ist und
der Christus nicht seine tätige Hypostase, beinahe zu verwechseln
mit dem Demiurgen, der böse ist oder versagt?
All diese
Überlegungen werden in diesen kurzen Szenen der Evangelien förmlich
gesprengt. Akteure dieser Sprengung sind Frauen. Der konservative
Bischof Rudolf Graber wies in einer kleinen Schrift „Maria im
Gottgeheimnis der Schöpfung“ auf diese auffallende Zeichnung
der Evangelien hin: Gott übergeht den Mann als Akteur und Herrscher,
er lässt ihn wegen seines Unglaubens förmlich verstummen (wie
Zacharias), er erteilt ihm Befehle (wie Josef von Nazareth) und lässt
plötzlich in vermehrter Form Frauen prophetisch, erfüllt von seinem
Geist, sprechen (Maria, Elisabeth, Hanna ...), ja, der angeblich
müßige, unbewegte Beweger ist es, der sich als hypsistos
(Allerhöchster) der Jungfrau Maria direkt zuwendet, wie Gabriel es
ihr ansagt. Und Jungfrau ist sie, um zu klären, dass hier kein Mann
als Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Mensch gestellt ist! Nicht,
weil Sexualität abgewertet oder verteufelt würde oder gar die
Niedrigkeit der Jungfrau der Boden sei, auf dem Gott wirken wolle,
wie man es kirchenhistorisch so gerne deuten wollte. Nicht
deswegen, sondern weil eine Jungfrau ausgewiesenermaßen, wie Maria
es ja selbst sagt, von keinem Mann weiß (Lk1,34), bislang
leibhaftig unberührt ist von den handfesten, materiellen
Herrschaftsansprüchen dieses Weltsystems. Wir erfahren hier, dass
der vermeintliche, unbewegte Beweger, der hypsistos, sogar
sehr bewegt ist angesichts des Menschen, nicht nur Mariens, und
selbst tätig wird und tätig ist im Menschen und bei den Menschen.
Der Gesalbte Gottes
muss sich als ein nach irdischem Verständnis Anti-Gesalbter
erweisen, ein Gesalbter, der im Weltsystem mit seinen verkehrenden
Salbungen als solcher sterben muss, weil er sich als wirklicher
Gottessohn, der mit dem Vater eins ist als Menschensohn (!), zwar als
König erweisen wird, aber eben nicht von dieser Welt, wie er es
selbst vor Pilatus sagt, he basileia he eme ouk estin ek
tou kosmou toutou, mein Reich ist nicht von diesem kosmos
(Weltsystem) (Joh18,36).
Wir treffen in den
Handlungen der Frauen eine Tor-Öffnung an hin zu einem Verständnsi
des Reiches Gottes: Ja, dieser ist der Christus, der Gesalbte, und
wir erkennen es an, wir salben ihn, aber – und das hält Jesus der
Frau im Hause Simons des Aussätzigen entgegen: Diese Salbung ist
eine Salbung zum Tode. Ein Königtum der Verkehrung wird es künftig
nicht mehr geben, künftig, in diesem kommenden Reich. Und doch setzt
der Christus, der Gesalbte Gottes, mit dieser Salbung durch den
Menschen, durch die Frau, schon jetzt allem irdischen Königtum ein
Ende, eine Verfallszeit.
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Nach diesem langen
Vorlauf komme ich zurück auf Judas, den Verräter, den, der das
Zeichen der Liebe und Übereinstimmung, das Zeichen der Belebung und
des Hauches des Mundes, des Atems, den Kuss, als Zeichen der
Verkehrung anwandte.
Er kommt erst ins
Spiel, als Jesus die Salbung durch die Frau lobte und festsetzte,
dass sie miterzählt werde, wenn sein Reich verkündet würde.
Offenbar brennen nach dieser Szene bei den Jüngern die Sicherungen
durch.
Direkt nach Jesu
Aussage „Wo dieses Evangelium gepredigt werden wird in der
ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was sie getan hat, zu
ihrem Gedächtnis“ hören
wir in V14, einer der Zwölf sei hingegangen zu den Hohenpriestern
und habe ihn ausgeliefert.
Für 30 Silberlinge empfing Judas den Auftrag, eine Gelegenheit zur
Gefangennahme herzustellen. "(Er) hatte ihnen ein Zeichen gegeben
und gesagt: Wen ich küssen werde, der ist es, den ergreift!"
(V48)
Es fragen sich alle,
ob sie es womöglich sind, die ihn überliefern werden, und
anschließend, bizarrer könnte die Szene nicht gestaltet werden,
„entstand aber auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen
für den Größten zu halten sei“ (Lk22,24).
Jesus hält
anschließend eine „systemkritische“ Ansprache zu den Fürsten
und Königen dieser Welt, die sich „Wohltäter“ nennen lassen,
euergetai.
Wer dächte da nicht
sofort an die superreichen Männer unserer Tage, die sich als
„Philanthopen“ huldigen lassen und doch „üben sie (nur)
Gewalt“ über uns? (Lk22,25)
Trotz der Haltung
des Verrates unter den Jüngern verheißt Jesus ihnen das zukünftige
Reich, in dem sie über die zwölf Stämme Israels richten werden,
aber zuvor würden sie vom Satan „gesichtet (gesiebt) wie
Weizen“. Sie
werden das nur überstehen wegen des Gebetes
Jesu für sie …
Sagt nicht auch der
Großinquisitor, er und die kirchlichen Hierarchen handelten aus
reiner Menschenliebe („Philanthropie“) gegen die Menschen so, wie
sie es täten?
„Sie werden uns
als ihre Wohltäter vergöttern“, lässt Dostojewksi seinen
Großinquisitor sagen, und in der bekannten selbstmitleidigen
Weinerlichkeit, die wir so oft von Herrschern hören müssen,
stilisiert er sich als Opfer seiner guten Tat: „Oh, wir werden
ihnen auch die Sünde erlauben, denn sie sind ja schwach und
ohnmächtig, und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir
ihnen erlauben zu sündigen. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde
getilgt werde, wenn sie mit unserer Erlaubnis begangen worden sei,
daß wir ihnen erlaubten zu sündigen, weil wir sie liebten, und daß
wir die Strafe für solche Sünden auf uns nehmen wollten. Und wir
werden sie auch auf uns nehmen (…). Und
alle werden glücklich sein, all die Millionen Geschöpfe;
nur die hunderttausend nicht, die über sie herrschen. Denn wir
allein, die wir das Geheimnis bewahren, wir allein werden unglücklich
sein.“
Ich sagte oben: Man
hat aber in der Kirchengeschichte diese Geschichte von der Salbung
nicht immer dann erzählt, wenn man das Evangelium verkündete! Sie
steht wie ein unerkannter Schatz, wie ein belächelter, für
bedeutungslos gehaltener Schlüssel zur Erkenntnis der Dinge mitten
in den Evangelien.
Und wie schon damals
der „systemische“ Mann verweigerte, diese Handlung anzuerkennen,
so tat er es weiterhin und verkündete ein Evangelium ohne diese Frau
und ihre Salbung Jesu. Dieser Typus weist uns direkt auf Judas, aber
nicht nur auf ihn, denn alle Jünger fragen Jesus nach seiner
Ankündigung, dass einer von ihnen ihn verraten würde, ob sie es
seien (!). Er selbst sagt in Mt26,31, dass „in dieser Nacht alle
(der Jünger) an ihm Anstoß nehmen werden“. Der Typus verweist
als der, der Anstoß nimmt daran, wie Jesus auftrat und wirkte,
ebenso direkt auf den Großinquisitor, der Jesus vorwirft, er habe
alles verkehrt gemacht, er habe seine Mission verraten, er
überfordere die Menschen und nehme sie in ihrer Schwäche nicht
ernst, und dann lasse er sich auch noch kreuzigen, ohne sich zu
wehren …, er helfe den Armen nicht, sondern verlange ihnen etwas
ab, das sie nicht leisten könnten als Sünder.
Vielfach und
hartnäckig schallt uns diese Meinung bis heute entgegen, die das
Erbarmen mit der Sündhaftigkeit verkehrt in eine förmliche
Rechtfertigung des Sünders als Sünder, ihn festfriert in
seinem Zustand und verneint, dass sich an diesem Zustand je etwas
ändern könnte, bevor der Christus wiederkehrt, der ja sowieso nicht
so bald oder gar nicht oder nur in einem „übertragenen“ Sinn
wiederkomme, obwohl wir in der ganzen Schrift von Anfang an bis zu
ihrem Ende immer wieder Sätze hören, die uns sagen, dass dieser
Zustand der Gefrorenheit in diesem kosmos sich ab sofort
auflösen wird – aber
nicht mit einem Schlag,
sondern in einer Entwicklung gedrängter Zeit, die auf ihre Erfüllung
zustrebt.
Das
große Thema der Christus-Nachahmer wird es sein, in dieser
Schmelze des Eises das Krachen, das Brechen, das Sich-Auflösen der
scheinbar so fest geordneten, starren Dinge und die immer noch
bleibende Kälte, nun in der Tauphase als noch stärker empfundene
Kälte, zu ertragen. Johannes lässt Jesus sagen, aus dem Inneren
dessen, der an ihn glaube, würden „Ströme lebendigen Wassers
ausgehen“. Es ist eine andere Herausforderung für jeden, nicht
zu wissen, wohin das gelöste Wasser seinen Weg nehmen wird, welche
Ordnungen sich daraus ergeben werden.
Man will diese
Auflösung dann lieber gar nicht, besser ganz steif und fühllos, als
frierend, man agiert gegen die Christus-Schmelze mit allen Mitteln,
vor allem denen der totalen Verkehrung der Dinge, ganz so wie der
cold genius in Purcells Oper King Arthur, der in der
Liebe beginnt zu tauen und darum fleht, wieder zum Tode eingefroren
zu werden, weil er nun, im Auftauen, erst spürt, dass ihm
unerträglich kalt ist:
COLD GENIUS
What power art
thou, who from below
Hast made me rise
unwillingly and slow
From beds of
everlasting snow?
See'st thou not
how stiff and wondrous old,
Far unfit to bear
the bitter cold,
I can scarcely
move or draw my breath?
Let me, let me
freeze again to death.
(Welche Macht bist
du,
die du mich von
unten
unwillig und langsam
aufkommen ließest,
aus Betten ewigen
Schnees?
Siehst du nicht,
wie steif und
wunderlich alt,
weithin unfähig,
bittre Kälte zu
ertragen,
ich kaum zu regen
mich,
kaum den Atem noch
zu schöpfen weiß?
Lass mich,
lass mich
wieder einfriern
hin zum Tode.)
Judas, so heißt es,
sei mit einer ganzen Soldateneinheit gekommen und habe Jesus, wie
verabredet, geküsst.
Jesus fragt ihn:
„Judas, überlieferst du den Sohn des Menschen mit
einem Kuss?“ (Lk22,48)
Damit tust du
das, könnte man diese Frage oder Aussage verstehen, damit,
ausgerechnet ein Kuss ist dein Zeichen des Verrates, ein Kuss, der
doch das Zeichen der Freundschaft, der Liebe, der Einigkeit, des
Vertrauens und der Besiegelung von Übereinkünften ist?!
Der Kuss wird zum
Zeichen der Feindschaft, des Hasses, der Zwietracht, des Misstrauens
und der Aufhebung aller vorherigen Übereinkünfte in einer Art
„Orwellscher Umkehrung“:
Im Zeichen der Liebe
wird der größtmögliche, denkbare und praktikable Verrat begangen!
Damit wird auch die
gesamte Haltung des Großinquisitors beschrieben, der dem
Menschensohn, der Sohn Gottes genannt wird, vorwirft, die Menschen
verraten zu haben in Gottes Namen.
Unter dem Banner
Christi bekennt der Großinquisitor Jesus, der für einen Besuch vor
seiner Wiederkehr die Welt besucht und von dem greisen Kardinal
festgenommen worden war, nachdem er in der Stadt Sevilla Kranke
geheilt hat, dass seine Macht satanischer Herkunft sei. Man könnte
den langen Monolog des Großinquisitors als eine Beichte verstehen,
die nur gesagt wird, um jede Reue und Absolution auszuschließen:
„Warum bist Du
jetzt gekommen, uns zu stören? Und was blickst Du mich stumm und
durchdringend an mit Deinen sanften Augen? Zürne mir doch, ich will
Deine Liebe nicht, weil ich selber Dich nicht liebe (…) Könnte ich
denn vor Dir unser Geheimnis verbergen? Vielleicht
willst es gerade aus meinem Munde vernehmen. So höre denn: wir sind
nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser
Geheimnis! Wir sind schon längst nicht mehr mit Dir, sondern mit
ihm, schon seit acht Jahrhunderten (…) Wir
nahmen von ihm Rom und das Schwert des Kaisers und erklärten uns
selbst zu irdischen Königen, zu den einzigen Königen, wenn es uns
auch bis heute nicht gelungen ist, unser Werk zu vollenden.“
Der Kardinal sagt,
woher die Kirche ihre Macht erhalten hat: Vom Satan. Und dass die
Verbesserung des Werkes Jesu, die sie sich zum Ziel gesetzt hat, eine
satanische Verkehrung ist.
Von Judas hatte es
im Johannes-Evangelium beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern
geheißen: „Und nach dem Bissen fuhr dann der Satan in
ihn“ (Joh13,27). Judas vollzieht in einer zusammengeschobenen
Zeit, was die Kirche über Jahrhunderte weg tat. Am Ende erhängt er
sich, weil es ihn reute, was er getan hatte, bevor Jesus hingerichtet
worden war. Der Hohe Rat blieb hart und nahm trotz der Intervention
des Judas seine Pläne zur Tötung Jesu nicht zurück (Mt27,3). Ob er
vielleicht eine letzte Hoffnung hatte, dass Jesus sich nun, nun
endlich als der Mächtige und Starke erweisen würde und seine
Häscher überwinden und bloßstellen würde? Ob er ihn überliefert
hatte, um ihn erneut zu versuchen wie der Satan in der Wüste?
Eine Fähigkeit zu
Reue und Umkehrwillen scheint bei der Figur des Großinquisitors
indes völlig erloschen zu sein. Er kündigt Jesus an, ihn am
nächsten Tag ebenso verbrennen zu lassen, wie er tags zuvor an die
hundert Häretiker auf dem Scheiterhaufen ausgelöscht hat: „Denn
wenn jemand den Scheiterhaufen verdient, dann bist Du es. Morgen
werde ich Dich verbrennen. Dixi.“
Ausdrücklich erkennt er, dass Jesu Weigerung, sich auf die
satanischen Versuchungen in der Wüste, auf irdische Macht und
Herrschaft einzulassen, bestehen bleiben würde – er kennt ja die
Geschichte um Judas und die Passion Christi.
Das größte
Ärgernis ist für den Inquisitor, dass Jesus gekommen ist, vor
seiner Wiederkunft einmal eine kleine Zwischenstation gemacht hat, um
zu stören.
Die Parallelität
der Ereignisse kann nicht übersehen werden:
Wieder erregt Jesus
den Zorn der religiösen Obrigkeit, diesmal der Kirchenoberen, damals
des Sanhedrin. Wieder trachtet man danach, ihn zu töten, weil er ein
Aufrührer und Gotteslästerer bzw Häretiker sei. Und mehr noch als
bei ersten Mal wählt Jesus diesmal das Schweigen. Heißt es in den
Evangelien erst nach einigen knappen Wortwechseln zwischen ihm und
den Obrigkeiten, als man ihn Herodes vorführte „er jedoch
antwortete ihm nichts“ (Lk23,9), so schweigt der gekommene
Jesus bei Dostojewksis Poem durchweg. Der Großinquisitor
spricht das Todesurteil aus.
„Er aber nähert
sich schweigend dem Greis und küßt ihn still auf seine blutleeren,
neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis fährt
zusammen. Seine Mundwinkel zucken; er geht zur Tür, öffnet sie und
sagt zu Ihm: ‚Geh und komm nicht wieder!‘ Und er läßt Ihn
hinaus auf die dunklen Straßen und Plätze der Stadt. Der Gefangene
geht.“
Aljoscha, der diese Sätze von seinem Bruder Iwan
erzählt bekommt, fragt:
„Und der Greis?“
Und Iwan
antwortet:
„Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch der
Greis bleibt seiner Idee treu.“
Jesus
wählt das Mittel des Verrates durch Judas. Damals wurde er geküsst
und damit verraten. Er holt das Zeichen aus seiner ganzen Verkehrung
zurück in seine eigentliche Bedeutung und küsst den Greis,
den blutleeren, schon halbtoten Alten oder in einem geistigen Sinne
Ganztoten.
Der Kuss erhält
seine Bedeutung zurück als Zeichen der Liebe und Freundschaft und
Verlässlichkeit. Und der Gelegenheit zur Wiederbelebung und
Auferweckung.
Immerhin erreicht
dieses Zeichen das Herz des Alten – er hat noch ein Herz, und es
brennt. Aber er ergibt sich nicht dem Herzen, sondern beharrt auf der
sturen Idee, ganz wie der Cold Genius, der lieber wieder
vereist, als den Schmerz des Auftauens zu spüren.
Dostojewksi
unterstreicht den Kuss in seiner zentralen Bedeutung: Als die beiden
Brüder Iwan und Aljoscha sich trennen, fordert Iwan Aljoscha, der
Mönch geworden ist, heraus mit den Worten:
„‘Alles ist
erlaubt‘ werde ich nicht widerrufen; wirst du dich deswegen von mir
lossagen – wirst du es?“
Aljoscha stand
auf, trat zu ihm und küßte ihn still auf die Lippen.
„Das ist
literarischer Diebstahl!“ rief Iwan, den plötzlich eine Art
Begeisterung überkam. „Das hast du aus meinem Poem gestohlen! Aber
dennoch, habe Dank! (...)“
______________
Aber
was soll das alles? könnte jemand rufen. Das ist doch überspannter
Unfug! Was folgt denn daraus, wo die Welt sich doch nicht geändert
hat und immer eisiger wird vor lauter Menschenliebe der Großen …
Was
daraus folgt ist, dass nicht die perversteste Umkehrung der Dinge je
ihr Ziel erreichen wird, auch wenn die Großinquisitoren und
selbsternannten Wohltäter
der Menschheit besessen
ihr Ziel verfolgen, das der alte Kardinal nennt und von dem er durch
den zurechtgerückten Versöhnungskuss nicht ablässt:
„Was ich Dir sage, wird in Erfüllung gehen, und unser Reich
wird errichtet werden.“
Dostojewski lässt dies unaufgelöst
so stehen. Er weiß als überzeugter Christ, dass dieses Reich
tatsächlich in Erfüllung gehen wird, aber seine Erfüllung wird
bedeuten, dass es unerfüllbar ist. Warum sonst sollte er Jesus
anweisen, nie mehr wieder zu kommen, nie mehr!?
Die Erzählung ist subtil, denn der
vermeintlich nie mehr wiederkommende Jesus kommt auch in der Legende
sehr wohl wieder, und dies nicht einmal final, sondern nur einmal
„zwischendurch“. Er wird kommen und stören, so wie er jetzt kam
und störte, aber eines wird nie mehr geschehen: Niemand wird ihn
mehr je hinrichten können. Das war dem Kardinal verwehrt, und es
wird allen Inquisitoren der Welt für immer verwehrt bleiben.
Jederzeit muss man mit ihm rechnen
und damit, dass er nicht nur die Verkehrung des Kusses, sondern die
viel größere, so heillose, eiskalte Verkehrung der Macht und
Herrschaft mit einem Wort aus seinem Mund – wie einen Kuss –
zurechtrücken wird und niemand ihm widersprechen kann, auch die
nicht, die ihren kalten Ideen treu bleiben werden. Die Salbung zum
Begräbnis des Königtums dieses Weltsystems gilt, und die Salbung
mit einem Geist des kommenden Reiches ist seitens Gottes längst
geschehen:
„
...und dann wird der Gesetzlose („ho anomos“, der, der alles
verkehrt) offenbart werden, den der Herr Jesus beseitigen wird, mit
dem Hauch seines
Mundes ...“
(2Thess2,8)
Hanna
Jüngling
Walzbachtal
am 15.1.2024