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Geschichte Betrüger oder Heiliger?

Warum unterdrückte der Vatikan die Briefe zu Padre Pio?

Der italienische Mönch Francesco Forgione soll im September 1918 mit Wundmalen Christi gezeichnet worden sein. Obwohl viele Fragen ungeklärt sind, stieg er zum beliebtesten Geistlichen Italiens auf.
The body of Padre Pio is on display for the veneration of the faithful in a part-glass coffin in the crypt of the old Church of St. Mary of Grace at San Giovanni Rotondo in the Apulia region in southern Italy on April 24, 2008. The Italian saint is a cult figure for millions around the world as many Christians believe had permanent sores on his hands similar to the stigmata, or the wounds of Jesus Christ's crucifixion. AFP PHOTO / ROBERTO SALOMONE (Photo credit should read ROBERTO SALOMONE/AFP/Getty Images) Getty ImagesGetty Images The body of Padre Pio is on display for the veneration of the faithful in a part-glass coffin in the crypt of the old Church of St. Mary of Grace at San Giovanni Rotondo in the Apulia region in southern Italy on April 24, 2008. The Italian saint is a cult figure for millions around the world as many Christians believe had permanent sores on his hands similar to the stigmata, or the wounds of Jesus Christ's crucifixion. AFP PHOTO / ROBERTO SALOMONE (Photo credit should read ROBERTO SALOMONE/AFP/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Diese detaillierte Silikonmaske, angefertigt nach Fotos des gerade verstorbenen Padre Pio, ist heute über seinen Schädel gezogen
Quelle: AFP/Getty Images

Die Umfrage war eindeutig: 31 Prozent der Italiener beten gelegentlich oder sogar regelmäßig zu Padre Pio. Kein Heiliger wird öfter verehrt als der Kapuzinermönch – an zweiter Stelle folgte den repräsentativ hochgerechneten Ergebnissen von 2006 zufolge Antonius von Padua und erst an dritter Stelle die Heilige Jungfrau Maria. Allein in Italien gibt es mehr als 2300 Gruppen, die sich an Padre Pios Spiritualität orientieren, weltweit noch Hunderte mehr. Wie kam es dazu?

Am 20. September 1918, so jedenfalls heißt es in der offiziellen Darstellung, seien am Körper des damals gerade 31-jährigen Priesters und Kapuzinermönches Francesco Forgione, Ordensname Pio, auf einmal fünf Wundmale aufgetreten: große Narben in beiden Handflächen, beiden Füßen sowie seitlich am Brustkorb.

Sie entsprachen der Tradition der Wunden Jesu Christi während der Kreuzigung. Ähnliche Wundmale, Stigmata genannt, traten zum Beispiel bei Franz von Assisi, dem Gründer des Franziskanerordens, aber auch bei den Ordensschwestern Anna Katharina Emmerick und Marthe Robin auf. Allerdings trieben die Römer bei Kreuzigungen in Wirklichkeit die Nägel nicht durch die Handflächen, sondern durch die Handgelenke.

circa 1950: Mystic and Stigmatic, Capuchin friar Padre Pio (Francesco Forgione) (1887 - 1968) celebrating mass. The stigmata on his hands can be seen. He bears on his body the five marks of the crucifixion of Christ, on hands, feet and side. (Photo by Keystone/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Auf diesem Bild etwa von 1950 vollzieht Padre Pio die Konsekration von Wein zu Blut – ohne Handschuhe
Quelle: Getty Images

Vertreter der Amtskirche waren nicht nur deshalb stets sehr kritisch gegenüber stigmatisierten Mitgläubigen. Im Falle von Padre Pio hielt dieses Misstrauen sogar jahrzehntelang an. Denn obwohl er als Kapuziner dem Gebet und der Feier der Heiligen Messe zu dienen hatte und nicht anderen Themen, verbreiteten sich rasch Nachrichten über seine Stigmatisierung. Menschen strömten zu seinem Kloster San Giovanni Rotondo nordöstlich von Foggia.

Bald kursierten Berichte über wundersame Heilungen, die Padre Pio ermöglicht habe und über seine Weissagungen. Bei seinen Messen wirkte der junge Priester entrückt. Viele Gläubige ließen sich von ihm die Beichte abnehmen, und er verlieh ihnen neue Kraft und festigte ihren Glauben. Da sich Pio vor allem mystisch-unverständlich äußerte, beförderte er die in Italien ohnehin starke Volksfrömmigkeit.

Sein Orden und auch die Kurie in Rom ließen Pios Stigmatisierung und seine Fähigkeit, Menschen für seine Art des Glaubens zu gewinnen, untersuchen. Nach wenigen Jahren distanzierte sich die Amtskirche und nannte ihn einen „Hysteriker“. Seit 1922 durfte Pio keine schriftliche Seelsorge mehr betreiben, dann die Beichte nicht mehr abnehmen, von 1931 bis 1933 nicht einmal mehr öffentliche Gottesdienste feiern.

Priester Padre Pio https://de.wikipedia.org/wiki/Pio_von_Pietrelcina#/media/File:Padre-Pio-young.jpg http://www.kathpedia.com/index.php?title=Datei:Pater_Pio_von_Pietrelcina.JPG
Es gibt nur relativ wenige Fotos, auf denen Pios Wundmale zu sehen sind. Meist trug der fingerlose Handschuhe
Quelle: Gemeinfrei

Allerdings führten diese Maßnahmen nur zum Gegenteil: Die Begeisterung für den volkstümlichen Priester, der von der Elite der Kirche so offensichtlich diskriminiert wurde, nahm zu statt ab. Bemerkenswerterweise hielt der Vatikan jedoch trotzdem Indizien (wenn auch keine Beweise) zurück, dass Pio die angeblichen Stigmata sich selbst zugefügt haben könnte. Erst 2007 wurden Briefe bekannt, die in Rom seit 1920 vorlagen. Ihnen zufolge kaufte Pater Pio ab 1918, dem Jahr seiner angeblichen oder tatsächlichen Stigmatisierung, bei einem lokalen Apotheker mehrfach größere Mengen Phenol, besser bekannt als Karbolsäure – ein starkes Desinfektionsmittel. Wollte der Mönch mit der Chemikalie seine Wunden eindrucksvoller machen?

Der Apotheker wandte sich vertraulich an den Bischof von Foggia. Salvatore Bella schrieb 1920 an den Papst Benedikt XV., der sich entsetzt über diese Information zeigte. Doch die Briefe verschwanden bis 2007 in den Archiven des Heiligen Offiziums. Statt sie zu veröffentlichen, schickte das Kirchenoberhaupt den Monsignore Raffaello Carlo Rossi 1921 nach San Giovanni Rotondo. Er sollte Pio befragen. Rossi kam zum Ergebnis, das die Stigmata des Mönches tatsächlich göttlichen Ursprungs seien. Auch sein Bericht wanderte in einen Giftschrank im Vatikanischen Archiv; er wurde erst 2008 bekannt.

Padre Pio trug fast immer fingerlose Handschuhe, die seine Handflächen verbargen. Zwar gibt es einzelne Fotos, die ihn mit nackten Händen und den Wunden darauf zeigen, doch dabei könnte es sich ebenso um Schminke wie um retuschierte Aufnahmen handeln. Auch existiert ein Bild, dass Padre Pios rechte Hand nach seinem Tod zeigen soll, die völlig unversehrt ist.

Padre Pio during the mass at the Sanctuary of Saint Pio of Pietrelcina 1966. (Photo by Archivio Cicconi/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Padre Pio bei einem Gottesdienst 1966
Quelle: Getty Images
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War der Kapuziner nun ein Betrüger? Die entsprechende Deutung geht davon aus, er habe sich im September 1918 einen dummen Scherz erlaubt. Als sich die Information über seine – nach dieser Interpretation: angebliche – Stigmatisierung verbreitete, ließ er sich am 19. August 1919 mit deutlich sichtbaren Wunden auf beiden Handflächen fotografieren. Offenbar hatte er sich entschlossen, den Betrug fortzusetzen.

Oder war der Mönch tatsächlich ein Heiliger? Der erste geweihte Priester, der die Stigmata Christi empfangen hatte? Daran glaubte zum Beispiel der junge Pole Karol Wojtyla. Er besuchte Padre Pio 1947 und sprach mit ihm. Dabei soll der Mystiker Andeutungen über das künftige Schicksal des Besuchers gemacht haben – Andeutungen, die Wojtyla, inzwischen Papst Johannes Paul II, nach dem Attentat 1981 als erfüllt betrachtete.

Diese Überzeugung war ein wesentlicher Grund, dass der Vatikan 1999 Pio erst seligsprach und schon drei Jahre später zum Heiligen erhob. Die anderen Gründe waren seine anhaltende Beliebtheit bei Gläubigen – und die Tatsache, dass Pio tatsächlich die ihm reichlich zufließenden Spendengelder gemeinnützig einsetzte: Er ließ am Orte seines Klosters ein gewaltiges und hochmodernes Krankenhaus errichten.

Eine Statue des heilig gesprochenen Padre Pio(1887-1968) steht in der Kirche Santa Maria delle Grazie in San Giovanni Rotondo (Apulien/Italien). In den geöffneten Händen der Statue sind die von ihm angegebenen Wundmale eingarbeitet. Foto: Rolf Haid | Verwendung weltweit
Eine Statue des heiliggesprochenen Padre Pio (1887-1968) in San Giovanni Rotondo
Quelle: picture alliance / Rolf Haid

Im Alter von 81 Jahren war Pio am 23. September 1968 gestorben. Sein Leichnam wurde fotografiert und beigesetzt, 40 Jahre später aber wieder exhumiert. Da sein Gesicht bereits verwest war, wurde über den Schädel eine sorgfältig nach Fotografien des toten Mönches angefertigte Silikonmaske gezogen. An seinen Händen trägt der Leichnam die typischen fingerlosen Handschuhe.

Ob Pio nun ein Betrüger war oder tatsächlich ein Heiliger, lässt sich rational nicht klären. Es ist allein eine Frage des Glaubens. Sein Heimatkloster jedenfalls zieht heute rund sieben Millionen Pilger im Jahr an. Mehr Gläubige kommen in Europa nur zum Petersdom.

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