Heinz Angehrn
Schweiz

Das grosse Coming-Out-Interview: Heinz Angehrn über Sex, Doppelmoral und Kurt Koch

Heinz Angehrn (67) ist Priester des Bistums St. Gallen und schwul. In einem Buch fordert er eine neue Sexualmoral. Die meisten schwulen Priester hätten Sex – selbst Konservative: «Die tragen Römerkragen und gehen in die Sex-Sauna.» Kurt Koch sei einst liberal gewesen, änderte später jedoch seine Personalpolitik.

Beate Laurenti

Warum haben Sie das Buch «Unheilige Mütter» geschrieben? 

Heinz Angehrn*: Ich versuche zu erklären, warum es nicht aufhört, dass Priester immer wieder übergriffig werden. Es wird so lange weitergehen, bis sich in der Theologie, genauer in der Theologie der Ämter und in deren Spiritualität, endlich etwas ändert.

Heinz Angehrn im Tessin.
Heinz Angehrn im Tessin.

Ab wann war Ihnen klar, dass Sie schwul sind? 

Angehrn: Ich habe mich schon mit 13 Jahren ständig in Jungs verliebt.

Warum outen Sie sich ausgerechnet jetzt? 

Angehrn: Geoutet im inneren Kreis habe ich mich schon vor langer Zeit, da war ich 45 Jahre alt. Dass ich homosexuell bin, dürfte inzwischen die gesamte Deutschschweiz wissen. Interessanterweise war das auch die Forderung meines damaligen und inzwischen verstorbenen Bischofs Ivo Fürer. Er hat gesagt: «Behalte das nicht für dich.» Er wollte, dass ich das den Kirchenverwaltungsräten, den Kolleginnen und Kollegen in den Seelsorge-Teams, aber auch wichtigen Leuten sage. Das liegt inzwischen knapp 22 Jahre zurück.

Ivo Fürer im Jahr 2019.
Ivo Fürer im Jahr 2019.

Wie hat denn Bischof Ivo Fürer auf Ihr Outing reagiert?

Angehrn: Er war zufrieden, das habe ich gemerkt. Mein Partner hat auf ihn einen anständigen Eindruck gemacht. Er ist kein 15 Jahre jüngerer Coiffeur, sondern ein gleichaltriger Hausarzt. Das hat die Verhältnisse von Anfang an verändert, da waren die Feindbilder weg.

Sie geben in Ihrem Buch drei konkrete Ratschläge für eine Erneuerung der Kirche. An wen richten Sie die?

Angehrn: Ganz einfach: Ich fordere von den Kirchenverantwortlichen, dass sie die richtigen Fragen stellen und die Antworten nicht scheuen, dass sie die Menschen, die zu ihnen kommen, anschauen und sich entschuldigen, wenn es angebracht ist.

Was bedeutet das, Menschen «anzuschauen»?

Angehrn: Ich finde, als Regens oder Spiritual sollte man das Recht haben, einen jungen Mann direkt auf seine Sexualität anzusprechen. Und das noch bevor jemand entscheidet, dass er Priester wird.

Chur hat bereits den Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht eingeführt.
Chur hat bereits den Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht eingeführt.

Der Verhaltenskodex des Bistums Chur verbietet das.

Angehrn: Der Regens soll die jungen Männer nicht moralisch-inquisitorisch befragen, das ist klar. Ich habe mich nach einem ersten schweren Pädophilie-Fall im Bistum St. Gallen fürchterlich aufgeregt und gesagt: «Wir schauen die Leute nicht an, wir stellen keine Fragen.»

Was würden Sie tun? 

Angehrn: Wenn ich Bischof wäre, würde ich die Priesteramtskandidaten zu mir zitieren und sagen: «Junger Mann, ich weihe Sie in fünf Jahren. Aber jetzt gehen Sie erst einmal in die Pfarreiarbeit und verlieben sich, in Frauen oder Männer. Und schauen, ob das geht.»

Die Priesteramtskandidaten des Bistums Chur.
Die Priesteramtskandidaten des Bistums Chur.

Auch wenn sich jemand bereits sicher ist?

Angehrn: Ja. Weil das Studium und das Seminar nicht das wahre Leben sind, sondern geschützte Gewächshäuser. Nach der Priesterweihe kommen die jungen Männer in eine Pfarrei. Viele haben dann zum ersten Mal eine eigene Wohnung und einen eigenen Lohn. In dieser Phase kommen sie auch mit vielen jungen Menschen in Berührung, spüren eine Anziehung und verlieben sich. Das passiert jedem. Wenn sie dann nach ein paar Jahren immer noch geweiht werden wollen, würde ich das auch machen.

Glauben Sie nicht an Berufung?

Angehrn: Ich glaube eher, dass in solchen Fällen die familiären Strukturen eine wesentliche Rolle spielen. Laut dem Theologen und Psychologen Karl Guido Rey handelt es sich dabei oft um sehr religiöse Mütter und indifferente oder areligiöse Väter. Und ich sage: «Diese Mütter müssen weg.»

Warum?

Angehrn: Die jungen Menschen müssen auf eigenen Beinen stehen und schauen, wohin ihr Weg sie führt. Ein langjähriger Priester in St. Gallen hat einmal zu mir gesagt: «Es gibt Spätzünder bei homo- und heterosexuellen Menschen.» Er habe auch erst mit 30 Jahren gemerkt, dass ihm etwas fehle. Bis dahin denken viele: «Ach, das brauche ich nicht.»

Wann haben Sie zum ersten Mal einen Mann geküsst?

Angehrn: Das war vor mehr als 21 Jahren mit meinem jetzigen Partner, seit damals sind wir ein Paar. Ich war also ein ganz Braver, auch wenn die Versuchung davor gross war.

Also keine wilden Partys – etwa in München, wo Sie ein Auslandssemester verbracht haben?

Angehrn: Nein, in dieser Zeit war ich sehr viel im Theater. Das ist meine zweite grosse Liebe. Ich war schon ab 1997 – also noch vor meinem Coming-Out – Mitglied bei der Selbsthilfegruppe «Adamim». In dieser Zeit bin ich auch öfter nach Berlin gefahren. Sie haben mir Adressen gegeben, wo ich hingehen könne, um andere Homosexuelle zu treffen. Ich habe es in Erwägung gezogen, aber mich immer für das Theater entschieden.

Die Bischöfe Markus Büchel (links) und Felix Gmür stehen derzeit in Kritik.
Die Bischöfe Markus Büchel (links) und Felix Gmür stehen derzeit in Kritik.

Warum waren Sie in der Selbsthilfegruppe? 

Angehrn: Weil ich ernsthafte Suizidgedanken hatte. Irgendwann ging es dann auch nicht mehr und ich bin zusammengeklappt. Im Spital stand dann 1996 der jetzige Bischof Markus Büchel, damals noch als Bischofsvikar, an meinem Bett und meinte: «Du brauchst Hilfe.» Die, die ich hatte, passte aber nicht. Ich wollte keinen Therapeuten mehr im klassischen freudschen Stil. Ich wollte mit jemandem sprechen, der einen positiven Bezug zur Kirche hat.

Und dann?

Angehrn: Das Bistum hat mich daraufhin vermittelt. In der zweiten Sitzung meinte der Therapeut: «Stopp! Reden wir über Ihre Sexualität.» Das war sehr hilfreich. Als ich dann meinen Partner kennengelernt habe, habe ich das nicht mehr gebraucht.

Sind Sie immer noch in Therapie? 

Angehrn: Nein, aber ich halte Psychohygiene für wichtig und habe bis zuletzt die Seelsorge-Angebote der Kirche genutzt. Kurz vor meiner Pensionierung habe ich dann auch den Rat angenommen, einen Brief an meine Mutter zu schreiben. Auch wenn sie da schon tot war.

Sie haben zu Ihrer Mutter ein schwieriges Verhältnis. Sie schreiben in Ihrem Buch: Nicht die Kirche habe Sie missbraucht, «sondern meine physische Mutter, und dies war jahrelanger schwerer emotionaler Missbrauch, den sie da betrieben hat». Was genau werfen Sie Ihrer Mutter vor?

Angehrn: Sie hat bis zu ihrem Tod weder meine Homosexualität noch meinen Partner akzeptiert. Und ich werfe ihr vor, dass ich bis zum jungen Erwachsenenalter der Ersatzmann für sie war. Mein Vater hat kaum gesprochen, hatte autistische Züge. Ich dagegen war quirlig und habe mich für viel interessiert. Sie hat mich von anderen Kindern stets ferngehalten und mich auf diese Weise an sich gebunden. Auf meinem Buch ist ein Foto zu sehen: Bei meiner Priesterweihe steht sie neben mir vorne am Altar. Ich glaube, das hat es noch nie gegeben – andere Mütter sitzen in der Bank.

Sie schildern Ihre Kindheit ausführlich in Ihrem Buch. Vergangene Woche haben Sie es vorgestellt. Welche Reaktionen haben Sie darauf bekommen? 

Angehrn: Leider wurde mir der Eindruck meiner Mutter auch von aussen – von Leuten, die sie noch gekannt haben – bestätigt. Überrascht hat mich der Vorwurf, dass ich nichts über heterosexuelle Priester und deren Kinder geschrieben habe. Mir hat vor einigen Jahren mal ein prominenter Herr gesagt: «Wenn ein Priester eine Frau hat, muss er gehen. Du aber darfst einfach bleiben. Ich finde das ungerecht.»

Was sagen Sie dazu?  

Angehrn: Ich bin nicht verantwortlich, dass die Bischöfe so entschieden haben und ich mache diese Regeln nicht. Aber niemand kann von mir verlangen, dass ich mich im selben Mass für Heteros einsetze. Sie werden auf der Strasse nicht angefeindet oder verprügelt.

Bischof Ivo Fürer
Bischof Ivo Fürer

In Ihrem Buch heisst es: «Bischof Ivo Fürer instruierte mich säuberlich, wie ich mich verhalten solle, damit ich trotzdem bleiben dürfe.» Welche Spielregeln haben Sie abgemacht?

Angehrn: Er hat damals ganz klar gesagt: «Haltet das nicht geheim. Es ist mir lieber, ich weiss, mit wem meine schwulen Priester zusammen sind, als dass ich nicht weiss, was sie tun.» Die einzige Bedingung war, dass der Name meines Partners nicht an der Haustüre stehen darf, solange ich Pfarrer bin. Das waren die Spielregeln.

Im Buch beschreiben Sie, wie Sie sich sexuell von Jünglingen angezogen fühlten. Warum waren Sie stark genug, sodass es nicht zu einem Übergriff kam?

Angehrn: Mein Mann sagt immer, dass ich eine sehr gute Moral habe. Aber ich weiss nicht, ob das reicht: Wenn ein 40 Jahre alter Priester sehr einsam ist, dann glaube ich nicht, dass eine gute Moral einen davon abhält, übergriffig zu werden. Ich habe es einfach nicht gemacht und war auch durch das Verhalten von Kollegen vorgewarnt.

Können Sie konkreter werden? 

Angehrn: Es gibt zum Beispiel Balkan-Clans, die bewusst katholische Pfarrhäuser aufsuchen und ihren hübschesten Jugendlichen an die Türe schicken. Der erzählt dann irgendeine Geschichte, etwa von einem kranken Onkel. Meist sind sie dann in Begleitung von einem Mann, dem man förmlich ansehen kann, dass er nicht gesund ist. Und so erschleichen sie sich Vertrauen und Geld. Bei mir hat das nicht funktioniert, aber ich kenne einen Priester, der auf diese Weise völlig ausgenommen und erpresst wurde.

Ist Ihnen etwas Ähnliches schon mal passiert? 

Angehrn: Ja, zwanzig Jahre ist das her. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht und dem Jungen ein bisschen Geld aus der Hilfskasse gegeben, so 100 Franken. Daraufhin kam er immer öfter, hatte neue Geschichten im Gepäck und brauchte wieder Geld. Das hat mich misstrauisch gemacht. Ausserdem hatte er von Mal zu Mal weniger an. Ich habe ihn auch nie ins Haus gelassen, obwohl er mir gesagt hat: «Ich mache doch alles, was Sie wollen.» Ich habe ihm klar zu verstehen gegeben, dass bei mir nichts zu machen ist. Stattdessen habe ich ihm die Adresse eines anderen Priesters gegeben. Der war allerdings hetero und im Bistum für genau solche Übergriffe zuständig.

Was ist dann passiert?

Angehrn: Ich weiss es nicht. Das Bistum wollte mir nichts sagen. Rückblickend denke ich mir aber: «Ich hatte nicht nur Glück, ich habe auch aufgepasst.» Ich bin schwul und habe klare Vorstellungen von einem Partner. Ich will keinen schnellen Sex, sondern eine Begegnung auf Augenhöhe.

Hatten Sie schon einmal pädophile Gedanken? 

Angehrn: Nein. Mir ist klar, dass Pädophilie eine schwerwiegende krankhafte Persönlichkeitsstörung ist, die man nicht heilen kann. Es widert mich trotzdem an, tut mir leid. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich kleine Kinder an und für sich nicht mag.

Die verbotene Liebe eines Priesters: Rachel Ward und Richard Chamberlain in "Dornenvögel".
Die verbotene Liebe eines Priesters: Rachel Ward und Richard Chamberlain in "Dornenvögel".

Sie beschreiben den Zölibat als Exit-Strategie: «Ja was will denn ein junger schwuler Mensch anderes hören, als dass es ein Wert sei, ohne Frau, ohne Heterosexualität und ohne ihr logisches Ergebnis, die Kinder, leben zu dürfen, und das noch quasi im privilegierten Status.» Haben Sie sich nie gewünscht, Hetero zu sein?

Angehrn: Nein. Aber ich habe mir oft gewünscht, Jahrgang 1985 gewesen zu sein. Dann wären die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anders gewesen. Meine Geschichte wäre so nicht passiert. Das ist der Tagtraum, der bleibt.

Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.
Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.

Wie haben Sie die HIV/AIDS-Krise erlebt?

Angehrn: Ich persönlich fühlte mich nicht betroffen, weil ich sexuell nicht aktiv war. Ich habe mir nur gedacht: «Das ist ungerecht, dass es genau diese Gruppe trifft.» Ein Studienkollege von mir ist an AIDS gestorben, davor musste er wegen seiner Homosexualität die Kirche verlassen. Auch das fand ich ungerecht. Der Tod von Freddie Mercury hat mich bestürzt.

Mitglieder der Initiative "Out in Church" in Bonn.
Mitglieder der Initiative "Out in Church" in Bonn.

In der Schweiz hat es nach «Out In Church» kein Outing gegeben. Warum bleiben die meisten Seelsorgenden ungeoutet?

Angehrn: Ich denke, das hat mit den unterschiedlichen Arbeitsrechtsbedingungen in der Schweiz zu tun. Hier würden kirchliche Mitarbeiter nicht sofort gekündigt, nur weil sie schwul sind. In Deutschland herrscht ein anderes Empörungspotential: Ich weiss nicht, was ein Kardinal Marx machen würde, wenn einer seiner Pfarrer sich namentlich outen würde.

Bruno Fluder, Theologe, Öffentlichkeitssprecher von Adamim – Verein Schwule Seelsorger Schweiz
Bruno Fluder, Theologe, Öffentlichkeitssprecher von Adamim – Verein Schwule Seelsorger Schweiz

Und wie sieht es beim schwulen Verein «Adamim» aus? Wovor haben die Mitglieder Angst?

Angehrn: Die meisten Männer dort sind heute zwischen 55 und 80 Jahren alt. Sie haben nicht mehr die Energie, sich nach so vielen Jahren noch zu outen. Jüngere sind nicht mehr dazugekommen – obwohl wir natürlich weiterhin von vielen schwulen Priestern wissen. Aber die tragen inzwischen Römerkragen. Die werden in die Sex-Sauna gehen und ihr Leben nebenbei führen, aber nicht zu «Adamim» kommen. Man kann auf diese Weise übrigens gut aufsteigen in der Kirche und Kanonikus oder Bischof werden.

Liebe gewinnt: Aufschrift an einer Mauer.
Liebe gewinnt: Aufschrift an einer Mauer.

In Deutschland soll eine LGBTQ-Identität kein Hinderungsgrund für die Missio sein. Die Schweizer Bischöfe sind noch nicht so mutig. Warum nicht?

Angehrn: Es würde mich schon stark wundern, wenn ein Jugendarbeiter oder ein Pastoralassistent keinen Partner haben darf. Ich sag’ nur so viel: Vor vielen Jahren hat ein damaliger Churer Bischof einen Priester geweiht, im Wissen darum, dass er bereits in einer Beziehung mit einem anderen Priester gelebt hat. Als ich ihn gefragt habe, warum er das macht, meinte er: «Glauben Sie denn, Herr Angehrn, dass in der katholischen Kirche die Wahrhaftigkeit einen hohen Stellenwert hat?» Das war absolut schockierend.

Was macht die Kirche zukunftsfähig? 

Angehrn: Meiner Meinung nach wird sie erst in der Neuzeit ankommen, wenn sie gleichgeschlechtliche Beziehungen akzeptiert. Das ist der entscheidende Punkt, nicht die Frauenfrage.

Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".
Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".

Sie gehen von über 30 Prozent schwulen Priestern in der Schweiz aus. Warum nicht von einer höheren Zahl?

Angehrn: Das ist ein Gefühl. Ich denke ein Drittel der Priester sind Hetero-Spätzünder, die dann ihre Freundinnen oder Haushälterin haben, die keine Haushälterinnen sind. Ein Teil ist eher asexuell veranlagt und dann gibt es noch die Schwulen. Aber das ist furchtbar pauschalisierend.

«Sodom» von Frédéric Martel
«Sodom» von Frédéric Martel

Laut dem Soziologen Frédéric Martel gibt’s auch in der Schweizer Bischofskonferenz Schwule. Wie sehen Sie das?

Angehrn: Ich denke, das ist in etwa dieselbe Einteilung. Und schauen Sie sich Ratzinger und Gänswein an, das war ja nur noch zum Schreien… 

Wie viele schwule Priester haben Sex?

Angehrn: Fast alle. Ich zitiere einen angesehenen Mann – Doktortitel, grosser Name in der Schweizer Kirche –, der mir gesagt hat: Sein Leben bestehe daraus, dass er alle paar Wochen in eine andere grosse Stadt fährt und dann dort in der Schwulenszene unterwegs ist.

Ein Weinkeller.
Ein Weinkeller.

Sie sprechen von Sauf-Orgien in katholischen Pfarrhäusern. Wie viele Priester sind Alkoholiker?

Angehrn: Viele – wie viele kann ich nicht sagen. Ein paar ganz schwere Fälle habe ich miterlebt. Menschen, die daran zugrunde gegangen sind. Aber ich staune immer wieder darüber, wie lange sich ein Alkoholiker-Priester noch durchschlägt und noch funktioniert. Als ich jung war, wurde bei jeder Gelegenheit gnadenlos gesoffen. Das sind Kompensationsformen dafür, dass man sich so gut benehmen und für alle da sein muss. Ich bin davon überzeugt, dass das eine Überforderung des Seelsorgegedankens ist. Das scheint mir auch ein katholisches Phänomen zu sein, ich kenne viele hochabstinente evangelische Pfarrer. 

Kardinäle unter sich: Rainer Maria Woelki (rechts) im Gespräch mit Kurt Koch im August 2022.
Kardinäle unter sich: Rainer Maria Woelki (rechts) im Gespräch mit Kurt Koch im August 2022.

Lassen Sie uns über Kurt Koch sprechen! Sie beschreiben ihn so: «kettenrauchend und tief in die Nächte hineinarbeitend», «vital und interessiert, nicht traurig und depressiv wie später als Bischof». Was ist da passiert? 

Angehrn: Das frage ich mich auch. Er war ein kettenrauchender Workaholic, hat bis tief in die Nacht gearbeitet. 1978 Luzern: Das Haus war voller junger Menschen und wir hatten einen Ausspracheabend im Seminar. Einer hat vorgeschlagen, dass wir über das Thema Homosexualität sprechen sollten. Und ich dachte mir: «Nein, bitte nicht.» Ich ging dann also zu Kurt einen Stock höher und habe gefragt, ob er sich zu uns setzen wolle. Und er kam und verkündete eine äusserst liberale Sicht. Das war der Kurt, den ich kannte. Dann sah ich ihn erst wieder als Bischof in der Kommission Bischöfe-Priester.

Ein Ölbild in Solothurn erinnert an den früheren Bischof von Basel, Kurt Koch (1996–2010).
Ein Ölbild in Solothurn erinnert an den früheren Bischof von Basel, Kurt Koch (1996–2010).

Welchen Eindruck hat er da auf Sie gemacht? 

Angehrn: Ich sah einen Leidensmann: geknickt, kaputt, einfallend und resigniert. Das war eine fürchterliche Entwicklung. Er war immer noch Kettenraucher, aber ich glaube, seine Haltung, die immer schlimmer wird, ist in den Konflikten mit den Kantonalkirchen entstanden. Was dort passiert ist, verstehe ich nicht. Ich denke aber, es hat etwas mit dem staatskirchlichen System zu tun.

Warum hat Koch dann später als Bischof von Basel eine gegenteilige Politik vertreten?

Angehrn: Ich kann mir das nicht erklären. Vielleicht wurde ihm als intellektueller Schöngeist die Theologie irgendwann zu ruppig. Ich habe ihm auch mal gesagt, dass er auf mich einen elenden Eindruck macht. Ich habe ihm vorgeschlagen, sich einen Hund zuzulegen und jeden Tag spazieren zu gehen. Dann hat dieser völlig kaputte Mann zu mir gesagt: «Meinst du, das lassen die mich machen?» Da dachte ich mir, jetzt ist es vorbei. Als er nach Rom befördert wurde, habe ich ihn wenigstens wieder intellektuell vitaler erlebt. Aber dieser Ausrutscher mit dem NS-Vergleich zum Synodalen Weg – das hätte nie passieren dürfen.

Kurt Koch beim Benedikt-Schülerkreis.
Kurt Koch beim Benedikt-Schülerkreis.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Alfons Klingl, der damalige Generalvikar des Bistums St. Gallen, haben zu Ihnen gesagt, Sie sollten sich nicht so wichtig nehmen. Was genau werfen Sie Alfons Klingl vor?

Angehrn: Er hat meine Familienverhältnisse gekannt, meine Situation gesehen, sich um mich gekümmert und er ist mit mir in die Exerzitien gegangen. Kein einziges Mal hat er mit mir über die Themen gesprochen, über die man hätte sprechen müssen. Die stärkste Ermahnung, die ich in den Exerzitien von ihm bekommen habe, war: Ich solle beim Zelebrieren meine kleinen Finger nicht so abspreizen.

Haben Sie ihm das mal gesagt? 

Angehrn: Er ist früh gestorben. Seine Krebserkrankung war zur selben Zeit wie mein Coming-Out. Wir haben noch einmal im Spital darüber gesprochen und ich habe ihm erzählt, wie schlecht es mir geht. Ihm sind die Tränen gekommen.

Priesterweihe in Chur, 19. März 2022
Priesterweihe in Chur, 19. März 2022

Durch das Weihesakrament soll ein «neuer Mensch geschaffen» werden, wie Sie schreiben: der bisherige Mensch werde umgewandelt, «dass er von nun an «in persona Christi» handeln könne». Haben Sie jemals daran geglaubt?

Angehrn: Ich fand den ganzen Prozess der Weihe wonnig: mit den heiligen Gewändern und den heiligen Gefässen. Später sind mir dann Termini wie «in persona Christi» besonders aufgefallen. Erstens geht das nicht und zweitens ist das unglaublich überfordernd. Das ist mir aber erst Jahrzehnte später klar geworden, auch in der Zeit, in der ich vermehrt über pädophile Priestern nachgedacht habe. «In persona Christi» – wie muss sich das dann anhören? Ich finde den Gedanken, dass die Sakramente gültig sind, unabhängig davon, wie ein Priester lebt und sich verhält, einfach ungesund.

Warum wurden Sie 2018 frühpensioniert?

Angehrn: Mein Partner und ich haben zusammen entschieden, dass wir beide mit 63 Jahren aufhören wollen. Ich hätte bleiben können.
Warum darf ich kein Interview mit Ihrem Partner machen – und kein romantisches Foto von Ihnen beiden? 

Angehrn: Das ist unser Deal. Mein Partner unterstützt mich – möchte aber nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden.

Ex-Generalvikar Martin Grichting.
Ex-Generalvikar Martin Grichting.

Die alte Churer Bistumsleitung hat alles, was nicht auf Linie war, zu verhindern versucht. Warum wurden Sie trotzdem in die Redaktionskommission der Kirchenzeitung gewählt?

Angehrn: Mich hat es auch erstaunt. Ich weiss nicht, was die Idee dahinter war. Aber die alte Leitung ist ja weg.

SKZ: alt und neu
SKZ: alt und neu

Sie sind für die Kirchenzeitung mitverantwortlich. Warum ist die nicht so mutig wie Sie? Sie wirkt ja schon etwas bieder…

Angehrn: Wir müssen Phasen sehen. Die Phase der Neustrukturierung mit den drei Redaktorinnen bis zum Abgang von Martin Grichting als Mitglied der Herausgeberkommission war so gedacht, dass wir möglichst alle Strömungen abbilden sollten – von rechts nach links. Deshalb gab es auch diese Zusammensetzung der Redaktion. Zum Beispiel kam auch Professor Manfred Hauke aus Lugano zur Sprache. Das ist für mich ein Unding, weil der Mann sich rechtsaussen bewegt. Aber das musste damals sein und es musste auch Autoren geben mit Römerkragen. Übrigens: Die Ausrichtung nach rechts hat kein einziges Abonnement gewonnen. Und jetzt haben wir die Situation, dass der rechte Flügel fehlt.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Sein Generalvikar aber und vor allem der Schulleiter der katholischen Bubensekundarschule, die man zu besuchen hatte, waren sadistische Potentaten, die ihre Sexualität mit solchem Auftreten kompensierten.» Wer war damals Generalvikar, wer Schulleiter? 

Angehrn: Sie sind beide längst gestorben, ihre Namen sind unwichtig. Aber mein damaliger Eindruck ist geblieben.

Stiftsbibliothek St. Gallen
Stiftsbibliothek St. Gallen

Den Stiftsbibliothekar nennen Sie «eine Tunte edelster Sorte, von seinem Neffen Thomas Hürlimann trefflich geschildert». Erzählen Sie mehr!

Angehrn: Ich kann nur sagen, dass wir als Ministranten immer gekichert haben. Der Herr trat immer in Spitzen auf, wir empfanden ihn als lächerlich. Als Thomas Hürlimann dann die Geschichte «Fräulein Stark» geschrieben hat und sein Onkel mit heiliger Empörung ein Pamphlet gegen seinen Neffen veröffentlicht hat, war das einfach furchtbar lustig für uns in St. Gallen.

Sie schreiben: «Von der Jugendarbeit zur ödesten Pfarrei-Seelsorge mit Kleinkindern und Müttervereinen, mit Diskussionen über Apéro-Gebäck und die korrekte Liederauswahl in Rorategottesdiensten.» Was war das Schwierigste in der Pfarrei-Seelsorge?

Angehrn: Genau das, dieses ganze langweilige Zeug. Die Leute hatten Freude daran, dass der Pfarrer dasitzt und möglichst auch noch mitspricht. Das hat mich nicht interessiert.

Gab es früher auch gute Regenten? Sie beschreiben den St. Galler Regens als «ängstlichen Professor» und den Basler Regens als «cholerischen Alkoholiker».

Angehrn: Naja, der erste Basler Regens, Otto Moosbrugger, war trotzdem ein guter Regens. Er war emotional, authentisch und ehrlich. Und Ruedi Schmid war humorvoll. Was mich gestört hat war, wenn die Herren ängstlich-defensiv waren.

* Heinz Angehrn (67) war 37 Jahre als Pfarrer im Bistum St. Gallen tätig. Mit seinem Partner, dem Arzt Ueli, lebt er inzwischen im Tessin. In seinem Büchlein «Unheilige Mütter» schreibt Heinz Angehrn über seine Kindheit und Jugend unter Einfluss seiner Mutter und der Kirche. Das Büchlein ist in den Pfarrei-Sekretariaten von Abtwil und Engelburg zum Selbstkostenpreis erhältlich: pfarreisekretariat@kath-abtwil.ch und sekretariat@pfarrei-engelburg.ch.


Heinz Angehrn | © Beate Laurenti
5. November 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 14 Min.
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