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Politik

Deshalb stieg die FDP aus Jamaika aus

Politischer Korrespondent
Kein Vertrauen, nur Formelkompromisse: Die Liberalen fürchteten, eine Regierung mit Union und Grünen würde im Chaos enden – und die eigenen Anhänger tief enttäuschen

Natürlich kam der Abbruch der Verhandlungen durch die FDP nicht spontan. Als Christian Lindner und Wolfgang Kubicki am Sonntagabend gegen 23.30 Uhr die Runde der anderen Verhandlungsführer aufsuchten und ihren Rückzug aus den Sondierungen erläuterten, da zogen sie frustriert die Konsequenz aus einem vier Wochen währenden Gewürge.

Getroffen hatten sie die Entscheidung eine Stunde zuvor in einer parteiinternen Runde. Nach einer Bewertung des zu diesem Zeitpunkt aktuellen Verhandlungsstandes inklusive Rückblick auf die vergangenen 54 Tage hieß es in der liberalen Delegation einstimmig: Es ist sinnlos, wir brechen ab. Lindner zückte sein Tablet, und gemeinsam formulierte die Runde den Text einer Presseerklärung.

Es sind drei Säulen, aus denen sich die Entscheidung speist, die Gespräche zu beenden. Da waren erstens die inhaltlichen Differenzen, die im Laufe der Sondierungen nicht weniger, sondern mehr geworden waren. Am Sonntagabend wies das gemeinsame Sondierungspapier nach Lesart der Freien Demokraten noch immer 237 Passagen mit eckigen Klammern auf, also Themen, in denen kein Konsens erreicht war. Schien es am frühen Nachmittag noch so, als seien zumindest einige „Big Points“, also zentrale Konflikte, im Sinne der FDP aufzulösen, so war der Verhandlungsstand am Abend wieder um mehrere Tage zurückgefallen.

Angesichts dieser Bilanz gab es zweitens die Überlegung: Wenn wir uns schon bei den bekannten Herausforderungen so schwertun, gemeinsame Lösungsansätze zu finden, was bedeutet das für während einer Legislaturperiode neu auftretende Krisenlagen? Einer Jamaika-Regierung, zu dieser Einschätzung gelangte die FDP, fehle „ein gemeinsamer Kern an Überzeugungen“. Plötzlich auftretende Konflikte, deren Management nicht detailliert in einem Koalitionsvertrag festgelegt sein kann, hätten deshalb nicht auf der Grundlage eines belastbaren Vertrauensverhältnisses gelöst werden können, sondern wiederum zu unkontrollierbaren Streitereien geführt. Befürchtet wurde also eine Koalition des Misstrauens, die das Land nicht gesellschaftlich befrieden, sondern mit regierungsinternen Auseinandersetzungen in einer Art Dauerschleife in Unruhe halten würde – die dritte Säule der Abbruchentscheidung.

Also zog Lindner kurz vor Mitternacht vor die TV-Kameras, um die kurz zuvor vorbereiteten Sätze zu verlesen. Der zentrale lautete: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Als diese Botschaft von der FDP flugs in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde, werteten Politiker von Union und Grünen das als Beleg, die Aktion sei von langer Hand vorbereitet. Es ist aber eher ein Beleg dafür, dass die Liberalen in den Zeiten der außerparlamentarischen Opposition gelernt haben, die digitalen Kommunikationswege zu nutzen, um ihre Sichtweise schnell und ungefiltert an den Bürger zu bringen – wissend, dass die anderen Parteien ihnen die Schuld für das Scheitern zuweisen würden.

Tatsächlich kann niemand sagen, dass die FDP ihre Skepsis nicht immer wieder deutlich formuliert hätte. Kubicki hatte, nach eigener Aussage, seine Zweifel am Gelingen der Gespräche bereits am Donnerstag gegenüber den anderen Parteivorsitzenden vorgetragen. Lindner hatte das am Samstag und Sonntag wiederholt. Bereits in seinem ersten Interview nach der Bundestagswahl hatte Lindner der WELT gesagt: „Manche verklären nun Jamaika zu einem romantischen Politikprojekt. Die Wahrheit ist, dass es zwar eine rechnerische Mehrheit gibt, die vier Parteien aber jeweils eigene Wähleraufträge hatten. Ob diese widerspruchsfrei und im Interesse des Landes verbunden werden können, steht in den Sternen.“ Politik sei nicht Mathematik, und die FDP werde sich nicht in eine Konstellation drängen lassen, „die keinen Raum für eigenes Profil, keine Stabilität und kein Vertrauen bietet. Es geht ganz nüchtern um Sachprojekte.“

Nach Wahrnehmung der FDP war die CDU-Vorsitzende Angela Merkel auf der Zielgeraden aber mehr um das Profil der Grünen als um das der FDP bemüht. So soll Merkel den Grünen zur Erreichung der Klimaziele die Reduzierung von 40 Millionen Tonnen CO2 angeboten haben, das wären fast neun Gigawatt weniger Kapazität aus Kohlekraftwerken. Die FDP hatte maximal fünf Gigawatt für physikalisch vertretbar gehalten und wollte weiteren zwei Gigawatt nur unter der Bedingung zustimmen, dass unabhängige Experten Wege aufzeigen, die eine Gefährdung der gesicherten Grundversorgung ausschließen. Neun Gigawatt aber hält Lindner für realitätsfremde Ideologie: „Es gibt Grenzen der Rationalität, die werden wir nicht überschreiten.“

Gegenüber den Freien Demokaten fielen die Angebote der Union im Gegenzug nicht so üppig aus. Beim wichtigsten Thema des FDP-Wahlkampfes, der Bildung, war eine Aufhebung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern in den Gesprächen bis zuletzt nicht gegen die CSU und den Grünen Winfried Kretschmann durchzusetzen. Und die Abschaffung des Solidaritätszuschlages sollte per gesetzlicher Festlegung bis 2026 (!) erfolgen – aus Sicht der FDP waren das „Brosamen“, jedenfalls kein faires Angebot. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer witterte eine Fortsetzung der Politik der großen Koalition „mit grünem Anstrich“.

Die FDP fürchtete, in dieser Konstellation zerrieben zu werden und ihre bei den eigenen Anhängern gerade erst zurückgewonnene Glaubwürdigkeit wieder zu verspielen. Zumal auch in öffentlich weniger ausführlich thematisierten Themenfeldern wie der Außenpolitik vornehmlich Formelkompromisse gefunden wurden, die Widersprüche nicht auflösten, sondern nur vorübergehend übertünchten. „Wir haben Kompromissangebote in vielen Politikbereichen gemacht“, sagte Lindner am Montagnachmittag. „Aber wir tragen auch Verantwortung für unsere Grundüberzeugungen. Wir wollen unseren Ideen und unseren Wählern treu bleiben.“

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Schon mit dem Verfahren der Sondierungen waren die Liberalen von Beginn an nicht einverstanden. Die großen Runden mit über 50 Teilnehmern hielt Lindner für nicht zielführend, sondern lediglich den Proporzbedürfnissen der „Kurfürsten“ bei Union und Grünen geschuldet, die zwar wenig beizutragen hatten, aber zur Befriedigung von Eitelkeiten dennoch berücksichtigt werden mussten. Auch die eigentlichen Verhandlungen seien dann „chaotisch“ verlaufen, sagte Volker Wissing, der für die FDP gleich in fünf Themenfeldern unterwegs war. „Sie waren nicht strukturiert, sie waren nicht organisiert. Die Bundeskanzlerin hat keinen Konflikt zur Lösung gebracht, sondern es wurde alles vertagt, immer weiter vertagt. Es wurden kleine Teilkompromisse immer wieder neu aufgemacht. Es wurden insbesondere seitens der Grünen immer neue Forderungen nachgeschoben, bis dann am vergangenen Donnerstag die eigentlich vorgesehene Einigung gescheitert war“, so Wissing im Deutschlandfunk.

Anders als die CSU, die aus ihrer Sicht inhaltlich ähnlich unzufrieden gewesen sein dürfte, war die FDP allerdings auch bereit, aus einer solchen Lage die Schlussfolgerung zu ziehen. Während die anderen Parteien bei Neuwahlen vor allem eine Stärkung der AfD fürchten, halten die Freien Demokraten das nicht für ausgemacht. Möglich sei das natürlich, sagte Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann der WELT bereits vor zwei Wochen. Allerdings: „Eine Neuwahl könnte aber auch bedeuten, dass die Bereitschaft steigt, für konstruktive Verhältnisse zu sorgen. Wenn die Menschen sehen, dass es unter den demokratischen Parteien eine konzeptionelle Auswahl in den für sie bedeutsamen Themen gibt, dann wird die AfD als Ventil nicht mehr benötigt.“

Es kann also niemand sagen, die Liberalen hätten nicht mit offenen Karten gespielt. Offenbar hat aber niemand diese Ankündigungen ernst genommen. Das mag daran liegen, dass nur die FDP die existenzielle Erfahrung von vier Jahren außerhalb des Bundestages hinter sich hat. Man hat völlig falsch eingeschätzt, dass die FDP auch nach der schwierigen Zeit, die sie in der außerparlamentarischen Opposition hatte, ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hat und nicht bereit ist, um jeden Preis in eine Regierung einzutreten“, so Wissing. Die Verhandlungspartner hätten die von der FDP aufgezeigten Grenzen schlicht ignoriert: „Das war fatal.“

Natürlich ist den Liberalen klar, dass der nun eingeschlagene Weg ein extrem risikoreicher ist. Vorstand und Fraktion billigten ihn dennoch einstimmig. Bestärkt fühlte sich die Partei auch durch die Reaktionen insbesondere der Grünen. Es sei ja okay, sagte Wolfgang Kubicki, wenn die Kollegen jetzt auf die FDP eindreschen würden. Aber was er bislang in den sozialen Netzwerken gelesen habe, das sei keine Kritik mehr gewesen, sondern: „Hass“.

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