Mohammadi Naiem ist 36 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Seit 2002 lebt er auf der griechischen Insel Lesbos und begräbt dort Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken sind.

"Das Mindeste, was ich tun kann, ist, den Toten zu ihren Namen zu verhelfen und sie würdevoll zu begraben. Das macht mich zum Menschen. Es gibt ein berühmtes persisches Gedicht von Saadi aus dem 13. Jahrhundert:

Die Menschen sind Glieder ein' Ganzes
In der Schöpfung gleichen Schmelzes
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder,
dann klingt sein Schmerz sogleich in ihnen allen wider.
Ein Mensch, den nicht die Not der Menschenbrüder rührt,
verdient nicht, dass er noch des Menschen Namen führt.

Ich mag die Idee, dass wir Menschen alle ein Körper und eine Seele sind. Ich leide, wenn andere leiden. Ich bin erleichtert, wenn andere erleichtert sind. Vor Kurzem habe ich eine Mutter zum Friedhof gefahren, damit sie ihr totes Kind besuchen könnte. Das sind Kleinigkeiten, aber sie machen mich glücklich.

"Dieses Leben wollte ich nicht"

Früher wollte ich mal nach Deutschland, weil alle nach Deutschland wollten. Ich habe dort Verwandte, überlegte, erst zu sparen und dann dort Fuß zu fassen. Vor einigen Jahren war ich sie besuchen. Doch alles, was wir da machten, war Essen, Schlafen und Einkaufen gehen. Da wusste ich: Dieses Leben wollte ich nicht. Ich wollte in Griechenland bleiben. Da habe ich einen Platz in der Gesellschaft. Ich kenne die Leute dort, und sie kennen mich. Auf der Straße grüßen wir uns.

Naiem Mohammadi (36) war selbst Flüchtling und lebt heute als Flüchtlingshelfer auf Lesbos. Dort fühlt er sich gebraucht und menschlich. © privat

Seit 15 Jahren helfe ich nun, Flüchtlinge auf Lesbos zu beerdigen, die den Weg nach Europa nicht lebend geschafft haben. Bis 2010 ehrenamtlich, danach in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen. Offiziell arbeite ich als Übersetzer für Refugees Support Aegean, in Kooperation mit Pro Asyl. Wir kümmern uns um den vergessenen Teil der Flüchtlingskrise. Das gibt meinem Leben einen Sinn. Ich fühle mich gebraucht und menschlich.

Ich und meine zwei Brüder waren über denselben Weg gekommen, auf einem Plastikboot mit zwei Paddeln. Wir hätten auch ertrinken können. Was ich mir wünsche, was ich wirklich gewollt hätte, wenn uns etwas passiert wäre, wäre eine respektvolle Beerdigung. Und wenn möglich, dass auch mein Körper zurück zu meinen Verwandten gebracht worden wäre.

"Jedes Mal verfluche ich die Europäische Union"

Jeder Mensch, dem ich dabei helfen kann, seinen verstorbenen Angehörigen zu finden und sich zu verabschieden, macht mich glücklich. Das ist aber nicht die Regel. Wir können nicht mal die Hälfte der Ertrunkenen identifizieren. Auf ihren Gräbern steht dann zum Beispiel "Afghane 1", "Afghane 2", "Afghane 3". Aber ich will, dass da ein Name steht. Eine Familie kannte ich sogar, ich hatte sie in Afghanistan besucht. Sie waren hochgebildet. Die Eltern waren Ärzte, die Kinder allesamt Klassenbeste. Weil die Identifikation aber ein langer, bürokratischer Prozess ist, sind sie bisher nur Nummern auf einem Friedhof. Wir wissen nicht einmal, wo das vierte Kind ist.

Natürlich ist es keine angenehme Aufgabe, vor Gericht zu gehen, zu den lokalen Behörden, zum Krankenhaus. Oder bei Beerdigungen zu sein, wenn die Verwandten weinen und ohnmächtig werden. Jedes Mal verfluche ich dann die Europäische Union und ihre Grenzen. Ich glaube, es kann einen sicheren Weg für Flüchtlinge geben. Es sollte einen sicheren Weg geben. Diese Leute fliehen vor dem Krieg. Sie nehmen ihre Familien mit und riskieren alles für ein sicheres und friedliches Leben. Und dann verlieren sie es. Jedes Jahr hoffe ich, dass niemand mehr ertrinkt. Aber es passiert wieder und wieder.