Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Holocaust: Heimlich bei den Mördern

Foto:

The Hoover Institution Archives

Polnischer Geheimagent Karski "Als würde ich mich durch eine Masse aus Tod und Verwesung kämpfen"

1942 schleuste sich der polnische Agent Jan Karski in ein Transitgetto für die NS-Todesfabriken ein. Verstört kehrte er zurück - und zerbrach daran, dass sein Bericht das Morden nicht stoppte.

Nachdem er sich ins Getto geschlichen und wieder herausgekommen war, wurde dem polnischen Untergrundoffizier Jan Karski speiübel. Tagelang musste er sich übergeben, überwältigt von dem, was er in Izbica Lubelska in der Nähe des ostpolnischen Lublin gesehen hatte.

Und immer, wenn er später daran zurückdachte, stellte sich diese Übelkeit wieder ein. Als wäre sie das einzig mögliche Gefühl, mit dem man auf den Horror reagieren konnte.

Jan Karski erfüllte einen Auftrag, als er im Spätsommer 1942 durch das Tor des Durchgangsgettos Izbica schritt, von dem aus die Nazis Tausende Juden in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec deportierten. Er war ein Kurier und treuer Offizier, der den Alliierten und der polnischen Exilregierung in London berichten sollte, was die Nazis mit den Juden machten.

Bald wurde daraus mehr als ein Auftrag, eine Lebensaufgabe. Er habe alles getan, schrieb er später, um "zu argumentieren, zu überzeugen, zu beweisen" und "die Wahrheit hinauszuschreien".

Fotostrecke

Holocaust: Heimlich bei den Mördern

Foto:

The Hoover Institution Archives

Bereits Ende August 1942 hatte Karski heimlich das Warschauer Getto besucht und mit verzweifelten Funktionären der jüdischen Gemeinde gesprochen. Im Sommer 1942 tüftelten Judenvertreter dann den Plan aus, wie er unauffällig nach Izbica gelangen sollte. Karski tauschte die Uniform mit einem ukrainischen Wärter, der sich an diesem Tag krankmeldete. Ein zweiter Ukrainer geleitete ihn durchs Tor, vorbei an den deutschen Aufsehern und weg von den anderen Ukrainern, damit ihn niemand verriet.

Beiläufig erklärte er Karski, wie die Ukrainer Geschäfte mit den Juden machten: Wer jemanden freihaben wollte, bezahlte den Wärtern viel Geld, damit sie den Todgeweihten hinausschleusten. Retten? Für diese Frage habe der Ukrainer ihn verächtlich angesehen, berichtete Karski 1944 in seiner Autobiografie "Story of a Secret State" ("Mein Bericht an die Welt"). Denn darum ging es nicht. Nur ums Geld.

Die Zocker und Verräter, aber auch die Furchtlosen und Großherzigen - Karski lernte in seiner Zeit bei der polnischen Heimatarmee Armia Krajowa die unterschiedlichsten Charaktere kennen. Er selbst wurde 1914 in Lodz als Jan Kozielewski geboren und blieb auch nach dem Krieg bei seinem Tarnnamen. In Lemberg, heute Lwiw in der Ukraine, studierte er Jura und Diplomatie, machte Station im polnischen Außenministerium und in den Konsulaten in London und Warschau.

Flucht vor der Gestapo

1939 wurde er bei Kriegsausbruch zum Militär eingezogen. Sein Leben liest sich stellenweise wie ein Agententhriller, etwa als er in sowjetische Hände geriet und sich in der Uniform eines einfachen Soldaten scheinbar auf einen Gefangenentausch mit den Deutschen einließ - nur um sich auf der Weiterfahrt in ein Häftlingslager aus dem Güterwaggon fallen zu lassen.

Eher zufällig wurde er danach zum Untergrundoffizier. Zurück in Warschau traf er auf einen alten Bekannten, der ihn für die Heimatarmee anwarb. Karski sprach neben Polnisch auch Englisch, Deutsch und Französisch. So avancierte er schnell zum Kurier, der quer durchs kriegsgeschüttelte Europa reiste, um der polnischen Exilregierung erst in Paris, dann in London zu berichten, wie es in Polen aussah.

Einmal schnappte ihn die Gestapo, als er auf dem Weg in die Slowakei die Gebirgskette der Hohen Tatra überquerte. SS-Männer folterten ihn solange, bis er sich aus Verzweiflung eines Nachts die Pulsadern aufschnitt. Er kam ins Krankenhaus, in dem viele Ärzte und Krankenschwestern dem polnischen Untergrund angehörten. Als er wieder gesund war, sprang er mit ihrer Hilfe aus dem Fenster und versteckte sich bei Soldaten der Heimatarmee.

Angst und Wahnsinn

"Wir gingen durch einen Hain schwächlich aussehender Bäume", schreibt Karski in seinen Erinnerungen über seinen wohl eindrücklichsten Auftrag im Getto Izbica. "Und dann tauchte direkt vor uns das schreiende, schluchzende Todeslager auf." Neue Häftlinge wurden an jenem Tag erwartet, doch was passierte mit denen, die bereits da waren? Karski erstarrte, als er sie sah:

Sie (die Juden) fuchtelten mit den Händen, schrien, zankten, fluchten und bespuckten einander. Hunger, Durst, Angst und Erschöpfung hatten sie alle in den Wahnsinn getrieben. Man hatte mir gesagt, dass es üblich war, sie im Lager drei oder vier Tage lang ohne einen Tropfen Wasser oder Nahrung zu lassen.

So beschreibt Karski es in seinem "Bericht an die Welt", der später zum Bestseller wurde. Die Menschen wurden in Waggons am Rande des Lagers getrieben. Schüsse knallten ringsum in die Menge, bis die Wagen zum Bersten voll waren und man nur noch hineinkam, indem man seinen Vordermännern auf Kopf und Schultern stieg. Normalerweise durften höchstens hundert Personen stehend in einem Waggon mitfahren. Die Nazis erhöhten wohl auf mindestens 130 und mehr.

Anzeige
Hänschen, Steffen

Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust: Die Deportationen in den Distrikt Lublin im Frühsommer 1942

Verlag: Metropol-Verlag
Seitenzahl: 608
Für 29,90 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

18.04.2024 13.34 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Um zu seinem endgültigen Aussichtspunkt zu gelangen, musste Karski seinem ukrainischen Kontaktmann quer durch das hoffnungslos überfüllte Lager folgen. Der Begleiter wand sich geübt zwischen den Körpern hindurch, aber Karski kam an seine Grenzen, wie er später schrieb:

Ich musste mich einen Fuß nach dem anderen durch die Menge schieben und dabei über menschliche Gliedmaßen steigen. Es war, als würde ich mich durch eine Masse aus schierem Tod und Verwesung kämpfen.

Alleingelassene Kleinkinder krabbelten seinen Beschreibungen zufolge verängstigt über den Boden, greise Männer saßen apathisch und bewegungslos da.

Verstört und ungeschickt stieß ich immer wieder mit jemandem zusammen oder trat auf eine der Gestalten, die dann wie ein Tier reagierten, meist mit einem Stöhnen oder Aufjaulen.

Die Waggons in Izbica waren mit Ätzkalk ausgekleidet, eine dicke Schicht weißen Pulvers überzog die Böden. Eine perfide Taktik, deren Sinn sich Karski schnell erschloss. Wenn Wasser auf den Kalk trifft, entsteht extreme Hitze. Feuchtes Menschenfleisch hat dabei keine Chance - es verbrennt, an Ort und Stelle. So wurde den Juden das Fleisch lebendig von den Knochen gefressen.

Warum tut die Welt nichts?

Noch während er vor Ort um Fassung rang, muss in Karski die Frage gereift sein: Warum tut die Welt nichts, um das hier zu beenden? Den Massenmord an den Juden zu stoppen, sollte das nicht das oberste Ziel der Alliierten sein?

Karski war einer der wenigen, die den Holocaust bezeugten und sich mit ihren Erkenntnissen an die internationale Gemeinschaft wandten: Widerstandskämpfer Witold Pilecki ließ sich von der Heimatarmee für zweieinhalb Jahre in Auschwitz einschleusen, um darüber zu berichten. Entmutigt, als die Alliierten nichts unternahmen, floh er schließlich aus der Hölle des Konzentrationslagers.

Der deutsche Industrielle und Nazigegner Eduard Schulte hatte sich in der Schweiz mit einem jüdischen Kontaktmann getroffen und ihm brisante Informationen über die geplante Vernichtung der Juden übermittelt. Diese wurden von Gerhart Riegner, Funktionär des Jüdischen Weltkongresses in Genf, im August 1942 in die USA weitergeleitet. All dies führte jedoch nicht dazu, dass die Alliierten Auschwitz und andere Lager angriffen oder bombardierten.

Pilecki, Schulte, Riegner und schließlich auch Karski - sie alle verbitterten darüber, dass man ihnen nicht glaubte. Dem unerschrockenen Pilecki wurde gar nach dem Krieg im kommunistischen Polen der Prozess gemacht, weil er gegen die neuen Machthaber agitierte und der Heimatarmee gedient hatte und nicht der ebenfalls im Land vertretenen kommunistischen Volksarmee.

Die Tränen eines mutigen Mahners

"Denken Sie, ich lüge?", soll Karski den sprachlosen US-Verfassungsrichter Felix Frankfurter auf einer Reise in die USA gefragt haben. "Ich habe nicht gesagt, dass Sie lügen", sei Frankfurters Antwort gewesen. "Ich habe gesagt, ich kann es nicht glauben."

Karski hatte in Izbica genug gesehen. Er verließ das Lager, wechselte seine Uniform und übergab sich in der Küche seines Kontaktmannes vor Schock und Ekel, bis er nur noch Blut und Galle spuckte. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

Mit seinem Bericht reiste er schließlich über Spanien bis nach England, wo er der polnischen Exilregierung, aber auch zahlreichen britischen Parlamentariern erzählte, was er erlebt hatte. Am 23. Juli 1943 hörte ihn US-Präsident Franklin D. Roosevelt in Washington an. Doch Roosevelt fragte vor allem nach der polnischen Untergrundbewegung - das Schicksal der Juden war für ihn zweitrangig.

Karski kehrte kurz nach London zurück, wurde in der Zwischenzeit von den Nazis enttarnt und ließ sich in den USA nieder. Dort promovierte er und veröffentlichte 1944 den "Bericht an die Welt". Danach geriet er in Vergessenheit - bis der französische Filmemacher Claude Lanzmann ihn für die Dokumentation "Shoah" ausfindig machte und so lange bearbeitete, bis Karski bereit war, zu erzählen.

Am Ende weinte er, der furchtlose Ex-Agent, vor der Kamera, aus Entsetzen darüber, nicht mehr erreicht zu haben. 15 Jahre nach Lanzmanns Welterfolg von 1985 starb Karski hochbetagt in Washington.