Corona-Proteste: „Das bürgerliche Spektrum geht momentan auf die Straße“

Brandenburger Staatssekretär des Inneren sagt, die Demonstranten kommen nicht aus extremistischen Kreisen. Polizei Berlin: Nur ein geringer Teil ist aggressiv.

Polizisten passen am Brandenburger Tor in Berlin auf Corona-Demonstranten auf. 
Polizisten passen am Brandenburger Tor in Berlin auf Corona-Demonstranten auf. imago

Berlin - Die Proteste gegen die aktuellen Corona-Maßnahmen sind zu einem Massenphänomen geworden. In Dutzenden Städten, Ost wie West, gingen allein am vergangenen Montag insgesamt mehr als 100.000 Menschen in zum Teil nicht genehmigten Aufzügen auf die Straße. Polizei und Politik stehen vor der Frage, wie geht man mit diesem Protest um? Für Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU) ist die Sache klar. Er hat am Mittwoch die Städte und Landkreise zu einem konsequenten Handeln gegen die unangemeldeten „Spaziergänge“ gegen Corona-Maßnahmen aufgefordert. Am Dienstagabend gerieten prompt Polizisten und Protestler in der Münchner Innenstadt aneinander. Die Polizei ging mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Menschen vor.

„Inzwischen herrscht Klarheit, dass sich Behörden und Polizei sich durch spitzfindige Leute, die eine Demonstration kurzerhand als ‚Spaziergang‘ deklarieren, nicht auf der Nase herumtanzen lassen müssen“, sagte Hermann der Augsburger Allgemeinen. Das sieht der Staatssekretär des Inneren im Land Brandenburg, Uwe Schüler, etwas differenzierter. Ganz überwiegend kämen die Demonstranten nicht aus extremistischen Kreisen, sagte er im Innenausschusses des Landtages am Mittwoch. „Das bürgerliche Spektrum geht momentan auf die Straße.“

Solche „Montagsspaziergänge für Demokratie“ soll es künftig regelmäßig geben. Entsprechende Aufrufe finden sich gerade massenhaft im Internet und in Messengerdiensten wie Telegram. Für die Polizei bedeutet dies besondere Herausforderungen: In Tegel beispielsweise begleiteten am Montag lediglich acht Polizisten rund 400 Demonstranten

Rechtlich zu Versammlungen werden Spaziergänge, wenn dabei politische Forderungen zum Ausdruck gebracht werden. Bayern und Baden-Württemberg und Städte wie Magdeburg haben bereits Allgemeinverfügungen erlassen, die auch solche „Spaziergänge“ untersagen. In Berlin ist dies bislang noch nicht soweit. „Bei so vielen Orten muss man sich fragen, inwieweit das Sinn hat und ob wir entsprechend schnell reagieren könnten“, sagt Polizeisprecherin Anja Dierschke.

Bislang sei die Polizei mit ihrer Taktik gut aufgestellt. „Nur ein geringer Teil ist aggressiv“, sagt sie. „Aktuell ist der größte Teil der Teilnehmer an den Spaziergängen dem demokratischen Spektrum zuzuordnen.“ Sie seien auch ansprechbar, wenn man sie auf die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes hinweise und dass sie gegen das Versammlungsgesetz verstießen. „Im Vergleich zu anderen Städten handelt es sich um ein vergleichsweise kleines Personenpotenzial. Aber man muss schauen, wie es sich entwickelt.“

Gewaltforscher: Größere Teile der Bevölkerung sind involviert

Für den Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer ist die Gemengelage nicht unproblematisch. Die Situation habe sich insofern verändert, als größere Teile der Bevölkerung involviert seien, sagt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Das gelte sowohl bei der stillen Unterstützung der Corona-Bekämpfung als auch in lauten Widerständen gegen diese Maßnahmen. „Das ist schon eine Herausforderung für unsere offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie.“ Es gebe Personen, die aus individuellen Gründen zu den Protesten gehen. „Die anderen – und das ist der gefährlichere Teil – sind Personen, die als Gruppe auftauchen, ein politisches Gruppenbewusstsein haben und dann solche Demonstrationen zur Provokation und zur Gewaltausübung nutzen.“ Das große Problem sei, dass die Grenzen zwischen den Teilnehmern verschwimmen.

Dieses Verschwimmen der Grenzen stellt die Einsatzkräfte der Polizei vor besondere Herausforderungen: „Es gibt ein zunehmendes Problem beim Differenzieren zwischen den Demonstranten, das macht die Lage für uns unendlich schwierig. Wir beobachten zum Beispiel Absetzbewegungen von den klassischen Querdenkern“, sagt Bodo Pfalzgraf, Berliner Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Die Demonstranten, die nichts mit Rechtsextremisten und Querdenkern zu tun haben, haben ein Recht darauf, dass ihr Anliegen entsprechend bewertet wird.“ Das sei für die Polizei enorm kräfteintensiv.

Der Staat müsse auf die Demonstranten adäquat und individuell reagieren, sagt Tom Schreiber, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Von Politik und Medien verlangt er hingegen: „Wir müssen die Aufmerksamkeitsspirale herunterdrehen und dagegenhalten, wie viele sich pro Tag boostern und impfen lassen.“ Ebenso fordert er eine verbale Abrüstung: „Wir laufen gerade Gefahr, mit Druck, Verboten und Ausgrenzen, den Keil so tief zu treiben, dass sich die Menschen in der Familie nicht mehr in die Augen schauen.“