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Prozess wegen versuchten Mordes: Vater hört nachts Geräusche im Kinderzimmer – kurz darauf wird er niedergestochen
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Am Landgericht Stuttgart findet der Prozess um die Messerattacke auf einen 53-Familienvater statt.
dpa/AdobeStock/iStock/Composing: Sascha Weingartz

Am Landgericht Stuttgart findet der Prozess um die Messerattacke auf einen 53-Familienvater statt.

  • FOCUS-online-Chefreporter (Stuttgart)

Nach einem Messerangriff auf einen 53-jährigen Familienvater nahe Stuttgart steht ein Asylbewerber aus Afghanistan vor Gericht. Laut Staatsanwaltschaft wollte der 20-Jährige eigentlich die Tochter des Opfers töten - aus Eifersucht. Das Verbrechen wühlte viele Menschen auf.  Und stellte den Rechtsstaat auf die Probe.

Der Fall spielt in der süddeutschen Provinz. In dem Städtchen Plüderhausen gut 30 Kilometer östlich von Stuttgart, Postleitzahl 73655.

Eine schreckliche Tat, ohne Zweifel. Um ein Haar wäre ein Familienvater gestorben. Im eigenen Haus hatte ihn ein junger Mann niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Wäre der Täter ein Deutscher gewesen, die Öffentlichkeit hätte von dem Fall wahrscheinlich kaum Notiz genommen.

Doch der mutmaßliche Messerstecher ist kein Deutscher. Er kommt aus Afghanistan. Ein Flüchtling. Das macht die Sache nicht besser oder schlechter. Aber komplizierter.

Für einige Menschen ist es kein „normaler“ Kriminalfall

Denn in den Augen nicht weniger Menschen ist das Verbrechen damit kein „normaler“ Kriminalfall, sondern ein Politikum. Das Delikt dient ihnen als weiterer – scheinbarer – Beleg dafür, dass die Flüchtlings- und Asylpolitik der Bundesregierung gescheitert ist.

Dabei spielt es für sie keine Rolle, dass der Mann, der Ende 2015 als 17-Jähriger ohne seine Eltern ins Land gekommen war, eigentlich ein Beispiel für gelungene Integration ist. Er hat die deutsche Sprache erlernt, besuchte eine deutsche Schule, lebte eine Zeit lang bei einer deutschen Familie und hatte eine deutsche Freundin. Er ging arbeiten und verdiente sein eigenes Geld. Er ist nicht vorbestraft.

Schon kurz nach der Tat verbreiteten sich in sozialen Netzwerken hasserfüllte Kommentare, in denen Ausländer und insbesondere Flüchtlinge unter Generalverdacht gestellt wurden. Einer von „Merkels Goldstücken“ habe wieder zugeschlagen, hieß es da unter anderem. Es war eine der harmloseren Stimmen.  

Angeklagter Asylbewerber will im Prozess ein Geständnis ablegen

Am Dienstag dieser Woche dürften die Emotionen wieder hochkochen. Denn am Landgericht Stuttgart beginnt der Prozess gegen Amir W., geboren 1998 in Jalalabad. In der Anklageschrift, die FOCUS Online einsehen konnte, wird der Beruf des Mannes mit Asylbewerber angegeben. Der Vorwurf lautet: versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.

Zur Tatzeit war der Angeklagte 20 Jahre alt und gilt deshalb als Heranwachsender. Das Verfahren findet vor der Jugendkammer statt.

Während der Verhandlung werden Dinge zur Sprache kommen, die kaum auszuhalten sind. Details zur Tat, die Notrufprotokolle, die Berichte der Kriminaltechniker, Aussagen von Zeugen und medizinischen Sachverständigen, Schilderungen der Opferfamilie.

Auch der Angeklagte will sich äußern. Dessen Verteidiger Jörg-Matthias Wolff sagte FOCUS Online: „Mein Mandant wird gleich zu Beginn ein umfassendes Geständnis ablegen und sich bei der Opferfamilie entschuldigen.“

In kritischer Situation hat sich der Rechtsstaat bewährt

Das Verbrechen im Herzen Baden-Württembergs hat viele Menschen in ganz Deutschland aufgewühlt - und den Rechtsstaat auf eine harte Probe gestellt. Die gute Nachricht ist: Der Rechtsstaat hat die Herausforderung bestanden, er hat sich bewährt.

Denn in einem äußerst kritischen Moment der Ermittlungen – der Verdächtige war bereits festgenommen worden, aber für einen Haftbefehl reichten die Beweise nicht aus – reagierten die Verantwortlichen so, wie man es in einem Rechtsstaat erwartet: Sie ließen den jungen Mann aus Afghanistan laufen. Es galt die Unschuldsvermutung.

Erst durch weitere Nachforschungen konnte die Polizei den Mann überführen.

Die deutschen Gesetze, die den 20-Jährigen zunächst vor der Strafverfolgung bewahrt hatten, brachten ihn schließlich in Untersuchungshaft. In der Justizvollzugsanstalt Stuttgart wartet Amir W. seitdem auf die jetzt beginnende Gerichtsverhandlung.

AdobeStock/iStock/Composing: Sascha Weingartz

IN DEUTSCHLANDS GERICHTEN

Wie sieht der Alltag in Deutschlands Justiz wirklich aus? Was läuft nicht rund? Wie geht es besser? FOCUS Online ist in Gerichten unterwegs: Dort, wo normale Menschen um ihr Recht kämpfen. Wo spektakuläre Prozesse laufen. Wo Deutschland sein Versprechen einlösen muss, ein Rechtsstaat zu sein. Unsere Reporter sprechen mit Richtern, Staatsanwälten, Angeklagten, Opfern und Zeugen.

In unserem Justiz-ABC erklären wir die wichtigsten Begriffe aus der Justiz. Und hier finden Sie alle Artikel des Gerichtsreports.

Schildern auch Sie uns, was Sie im Umgang mit Staatsanwälten oder Richtern erlebt haben. Vielleicht entsteht daraus eine Geschichte. Mailen Sie uns an: mein-fall@focus.de.

Täter hatte es offenbar auf seine Ex-Freundin abgesehen

Der Anklage zufolge hatte es der Messerstecher gar nicht auf den 53 Jahre alten Familienvater Rainer P. abgesehen, sondern auf dessen 19-jährige Tochter Kerstin (Namen aus Schutzgründen von der Redaktion geändert).

Die junge deutsche Frau und der afghanische Flüchtling hatten sich Anfang 2017, also anderthalb Jahre vor der Tat, in der Schule kennengelernt und wenig später eine Beziehung begonnen. Mehrmals trennte und versöhnte sich das Paar, doch im Frühjahr 2018 machte Kerstin P. endgültig Schluss. Als Grund gab sie an, ihre Eltern seien gegen die Beziehung.

Vergeblich versuchte Amir W., seine Ex-Freundin zurückzugewinnen. Als er begriff, dass sie jeglichen Kontakt mit ihm ablehnte und lieber mit anderen Männern unterwegs war, soll er sehr wütend geworden sein. Laut Anklage drohte er der jungen Frau, er werde sie vergewaltigen und umbringen.

Handschuhe, Skimaske und ein scharfes Fleischermesser

Am 14. Juli 2018 beschloss er offenbar, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Gegen 21.30 Uhr verließ er seine Arbeitsstelle, eine Pizzeria. Von dort nahm er ein scharfes Fleischermesser – Klingenlänge 17 Zentimeter – mit ins Obdachlosenheim, wo er ein Zimmer hatte. Er zog sich dunkle Klamotten an, packte eine Ski-Maske und Handschuhe ein und lief zum Haus der Familie P. Er kannte die Räumlichkeiten gut, denn er war mehrmals dort zu Besuch gewesen.

Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass Amir W. zunächst vor dem Haus wartete und zwei Mal versuchte, Kerstin P. auf ihrem Mobiltelefon anzurufen. Sie nahm nicht ab.

Am frühen Morgen des 15. Juli, etwa 0.45 Uhr, soll er maskiert – über einen Gartenstuhl und den Balkon – in das Haus eingestiegen und in das Zimmer seiner Ex-Freundin gelaufen sein. Er traf Kerstin P. jedoch nicht an. Sie war mit Kumpels unterwegs.

Vater kam wegen komischer Geräusche aus dem Bett

Die Eltern der 19-Jährigen hatten sich bereits schlafen gelegt. Kurz hintereinander hörten sie zwei Geräusche. Sie glaubten, der Wind habe eine Tür oder einen Vorhang bewegt. Vater Rainer P. stand auf und ging ins Zimmer seiner Tochter. Er ließ den Rollladen herunter, drehte sich um und wollte zurück ins Bett. Am Ausgang des Kinderzimmers bemerkte er einen menschlichen Umriss hinter der Tür.

Geistesgegenwärtig stemmte er sich gegen die Tür, um die Person an die Wand zu drücken und einzuklemmen. In diesem Moment stach der Täter mit dem Messer auf den Kopf des Vaters ein. Rainer P. flüchtete in den Flur, hielt die Tür des Kinderzimmers zu und rief seiner Frau zu, sie solle die Polizei holen. Als er merkte, dass sein Kopf stark blutete, ließ er die Türklinke los und wollte sich in ein anderes Zimmer retten.

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Opfer erlitt Stiche und Schnitte am ganzen Körper

Doch der Vater stolperte und fiel hin. Der Täter stürzte sich auf ihn. Mindestens sieben Mal stach er auf sein Opfer ein. Dabei rief er laut Anklage mehrmals: „Wer ist im Haus?“ Offenbar war er noch immer auf der Jagd nach seiner Ex-Freundin.

Der Vater versuchte, den Angreifer abzuwehren und ihm ins Gesicht zu sehen, worauf dieser seine Maske zurechtrückte. Diesen Moment nutzte der Vater, um sich aufzurappeln. Durch ein Fenster flüchtete er auf das Dach. Der Messerstecher rannte daraufhin aus dem Haus.

Der Staatsanwaltschaft zufolge erlitt Rainer P., der unmittelbar nach der Attacke operiert werden musste, schwere Verletzungen, die potenziell lebensgefährlich waren: Schnitte und Stiche an der Schläfe, am Arm, an den Beinen, zum Teil wurden Muskeln durchtrennt. Nur durch Zufall seinen keine lebenswichtigen Gefäße zerstört worden, heißt es in der Anklage.

Verdächtiger wurde festgenommen - und kam frei

Bereits wenige Stunden nach der Tat geriet Amir W. ins Visier der Polizei und wurde vorläufig festgenommen. Grund waren die früheren Todesdrohungen gegen seine Ex-Freundin Kerstin P. Doch die bis dahin vorliegenden Indizien reichten nicht für einen Haftbefehl. Der niedergestochene Vater hatte den Täter nicht erkannt, Amir W. selbst bestritt die Vorwürfe. Rund zehn Stunden nach seiner Festnahme wurde er wieder freigelassen.

Erst in den folgenden Tagen gelang es den Ermittlern, die sichergestellten Beweismittel auszuwerten: Noch im Zimmer seiner Ex-Freundin hatte der Täter seinen rechten Handschuh verloren. Rund 200 Meter vom Haus entfernt warf er den linken Handschuh, die Sturmhaube und das Messer weg. Eine DNA-Analyse aller vier Gegenstände ergab: Die Spuren stammten zweifelsfrei von Amir W.

Zielfahnder schnappten geflüchteten Mann in Belgien

Am 19. Juli 2018, vier Tage nach dem Messerangriff, erließ das Amtsgericht Stuttgart Haftbefehl gegen den Verdächtigen. Einen Tag später wurde daraus ein internationaler Haftbefehl, denn Amir W. war mittlerweile aus Deutschland geflüchtet. Zielfahnder schnappten ihn am 30. Juli in der belgischen Stadt Leuven nahe Brüssel. Zwei Wochen später wurde er nach Deutschland ausgeliefert.

Für die Stuttgarter Staatsanwaltschaft steht fest, dass Amir W. in das Haus eingestiegen ist, um seine Ex-Freundin zu töten – aus Rache über die verschmähte Liebe und aus Eifersucht. Als der Vater der jungen Frau ihn überraschte, habe er unvermittelt zugestochen. Auch dabei habe er die Absicht gehabt, sein Opfer umzubringen.

Angeklagter schreibt Brief an die Opferfamilie

Nach anfänglichem Leugnen hat der Angeklagte die Tat bei der Polizei eingeräumt. Im Gefängnis schrieb er zwei Briefe, in denen er sich bei jenen Menschen entschuldigte, die ihm einst nahestanden: an die Familie des Opfers und an das Ehepaar, das ihn kurz nach seiner Ankunft in Deutschland aufgenommen und liebevoll betreut hatte.

Etwa drei Monate lebte er auf dem abgeschiedenen Hof von Familie M. im Rems-Murr-Kreis. Dort wurde er wie ein Pflegesohn behandelt. Er sei „nett, freundlich, sympathisch“ gewesen, sagte die Mutter Daniela M. zu FOCUS Online. Irgendwann habe er sich jedoch in der schwäbischen Idylle „einsam gefühlt“ und hätte seine afghanischen Landsleute vermisst.

Kurz nach seinem 18. Geburtstag sei er ausgezogen, sehr zum Bedauern von Frau M., die bis heute Kontakt zu Amir W. hält. Die Nachricht von der Messerattacke habe sie und ihre Familie „total überrascht“. Sie wisse, dass sich Amir W. große Sorgen um die Zukunft mache.

Dessen Anwalt sagte zu FOCUS Online: „Er hat Angst, dass er nach einem rechtskräftigen Urteil abgeschoben wird.“

Kurz vor der Tat angeblich reichlich Alkohol getrunken

Ob die in den Briefen geäußerte Reue echt ist oder ob Amir W. damit nur seine Position im Gerichtsverfahren verbessern will, lässt sich schwer beurteilen.

Laut Anklage hat er selbst bei seinem Geständnis nicht die volle Wahrheit gesagt. Da hatte der junge Mann nämlich behauptet, zur Tatzeit betrunken gewesen zu sein. Kurz vor dem Messerangriff habe er einen Schluck Wodka, drei Bier zu je 0,5 Liter und drei Whiskey (Jack Daniels) getrunken. Außerdem habe er einen Joint geraucht.

So ganz kann das nicht stimmen. Rund drei Stunden nach der Tat war Amir W. festgenommen worden, Polizisten machten einen Alkoholtest. Ergebnis: 0,00 Promille.

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