Energiekrise: Russland dreht Europa den Gashahn zu, um Zwietracht zu säen und die Aufhebung westlicher Sanktionen zu erzwingen

Moskau schliesst auf unbestimmte Zeit die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Die Entscheidung kam unmittelbar nach der Ankündigung westlicher Länder, einen weltweiten Preisdeckel für russisches Erdöl einzuführen. Eine Zersplitterung der Energiemärkte könnte drohen.

Gerald Hosp
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Das Ende der Gaslieferungen: Ein Arbeiter versieht ein Stahlrohr mit einem Verschluss, der eine Gazprom-Aufschrift trägt.

Das Ende der Gaslieferungen: Ein Arbeiter versieht ein Stahlrohr mit einem Verschluss, der eine Gazprom-Aufschrift trägt.

Andrey Rudakov / Bloomberg

Russland wird gerne als Tankstelle der Welt bezeichnet. Das flächengrösste Land der Welt ist einer der grössten Produzenten von Erdöl, Erdgas, Kohle und auch Brennstäben für Atomkraftwerke. Seit dem russischen Angriffskrieg ordnet sich diese Energiebeziehung neu – vor allem mit Europa. Die Ankündigung des russischen Staatskonzerns Gazprom vom Freitag, die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 auf unbestimmte Zeit völlig zu schliessen, ist die jüngste Wendung im Versuch Russlands, mithilfe von Unterbrüchen bei Energielieferungen politische Ziele zu erreichen.

Das Ölleck der Gasturbine

Laut dem Branchendienst Icis ist der Anteil Russlands an den Erdgasimporten der EU damit auf gut 7 Prozent gefallen. Vor einem Jahr betrug diese Zahl noch gut ein Drittel. Am Montag reagierte der Referenzwert am europäischen Gasmarkt, der Preis des niederländischen Gas-Terminkontrakts TTF für die Lieferung im nächsten Monat, zunächst mit einem Sprung von bis zu einem Drittel nach oben und erreichte in der Spitze einen Wert von 285 Euro pro Megawattstunde. Danach ging es aber runter. Vor rund zwei Wochen war der TTF-Preis auf das Allzeithoch von 340 Euro geklettert.

Gas kostet im Grosshandel 2,9 Cent

Gaspreis am Referenz-Terminmarkt Dutch TTF Natural Gas¹, in Euro je MWh
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Bereits vor Beginn des Ukraine-Krieges steigen die Preise wegen historisch niedriger Füllstände in den Gasspeichern.
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Die Bundesnetzagentur kauft im grossen Stil Gas an den Börsen ein.

Gazprom schützte am Freitag nach einer dreitägigen Wartung technische Probleme an einer Gasturbine vor und belegte dies mit einem Bild eines Öllecks auf der Maschine. Der Hersteller Siemens antwortete darauf, dass dies üblicherweise kein Grund sei, um den Betrieb nicht wiederaufzunehmen. Moskau beharrt darauf, dass die Reparatur der Turbine wegen westlicher Sanktionen scheitere. Allerdings hatten die EU und andere westliche Staaten die Massnahmen bereits aufgeweicht. Im Westen gewartete Gasturbinen könnten wieder nach Russland geschickt werden. Moskau verweigert aber offenbar die Annahme. Vielmehr sagte der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, bevor wieder Erdgas durch Nord Stream 1 fliesse, sollten die Sanktionen aufgehoben werden.

Warten auf den Winter

Es ist ein offenes Geheimnis, dass im Kreml, wie so häufig in der Geschichte Russlands, auf den Winter gesetzt wird: Die kalte Jahreszeit half mit, Napoleons Truppen und Nazideutschland zu besiegen. Jetzt soll die Furcht vor dem Frost die Einheit des Westens bei der Unterstützung der Ukraine zersetzen. Moskau baut auf zunehmende Proteste in der Bevölkerung gegen die explodierenden Energiepreise, die die Rezessionsängste verstärken.

Die russische Ankündigung kommt auch gerade zu dem Zeitpunkt, als die Zuversicht in der EU gestiegen ist, die Erdgasspeicher für den Winter ausreichend füllen zu können. Und dies, obwohl die Lieferkapazität von Nord Stream 1 bereits seit Ende Juli nurmehr 20 Prozent betrug und Russland auch die Transitroute über die Jamal-Route geschlossen hatte. Derzeit kommt noch russisches Erdgas über die Ukraine und über die Turkstream-Pipeline durch das Schwarze Meer nach Europa. Die Speicher werden in grossem Masse durch den Import von Flüssigerdgas (LNG) aufgefüllt. In diesem Jahr sind die EU-Importe von LNG bereits um mehr als 50 Prozent gegenüber der Vorperiode gestiegen.

Schlimmer geht’s immer

Aber auch gut gefüllte Speicher machen nur rund einen Viertel des Bedarfs in der Heizperiode aus. Deshalb ist Europa weiterhin auf einen ständigen Fluss an Erdgas im Winter angewiesen, was zu hohen LNG-Preisen führen wird. Zudem sind Einsparungen vonnöten, was auch die Einstellung gasintensiver Produktionen bedeuten wird. Gleichzeitig nimmt aber auch Russland weniger ein, weil es nicht mehr von den hohen Gaspreisen profitieren kann. Kurzfristig kann Gazprom die Exporte in andere Länder nicht stark steigern. Deshalb gibt es auch Hinweise darauf, dass der Konzern nicht benötigtes Gas abfackelt. Ein Gasfeld zu schliessen, wäre folgenreicher, weil dann viel Zeit und Kapital benötigt würden, um es wieder in Betrieb zu nehmen.

Der TTF-Erdgaspreis ist zwar durchaus stark gestiegen: Man könnte auch argumentieren, dass es noch schlimmer hätte ausfallen können. Der Rekordwert von Mitte August wurde mit grossem Abstand nicht erreicht, das Niveau ist aber noch hoch. Moskau hatte jedoch alles versucht, um die Märkte auf dem falschen Fuss zu erwischen. Zunächst hatte es so ausgesehen, als ob Nord Stream 1 doch wieder am Samstag geöffnet werde. Nach Börsenschluss kam dann das Njet aus Russland. Für Montagmorgen wurde ein starker Preisanstieg erwartet.

Preisdeckel für russisches Erdöl

Der Zeitpunkt der Entscheidung kann aber noch einen weiteren Grund haben: Am Freitagnachmittag einigten sich die G-7-Länder darauf, die Dienstleistungen für den Schiffstransport von russischem Rohöl und von Erdölprodukten einzuschränken. Vor allem Versicherungen dürfen demgemäss ihre Dienste nur dann anbieten, wenn der Handel des russischen Öls mit einem Preisdeckel versehen ist. Die Idee dabei ist, die Einnahmen Russlands aus dem Erdölhandel zu reduzieren. Gleichzeitig soll aber weiterhin russisches Öl fliessen, damit der Weltmarkt versorgt ist und der Ölpreis niedrig bleibt.

Dabei sollen die Importembargos der USA, Grossbritanniens, der EU und weiterer westlicher Länder in Kraft bleiben. Die EU hat sich auf ein (Teil-)Embargo für Rohöl ab dem 5. Dezember und für Erdölprodukte ab dem 5. Februar 2023 geeinigt. Mit dem Preisdeckel sollen in erster Linie andere Länder dazu animiert oder gezwungen werden, an Sanktionen zumindest teilweise mitzumachen. Der Hebel dazu ist die Versicherungsbranche: Geschätzte 90 Prozent aller Versicherungen für Erdöltransporte per Schiff werden in der EU oder in Grossbritannien getätigt.

Der Preisdeckel soll folgendermassen funktionieren: Wenn beispielsweise russisches Öl nach Indien transportiert wird, darf dies ein Unternehmen aus den G-7-Ländern nur dann versichern, wenn der vertraglich vereinbarte Abnahmepreis nicht höher als der gedeckelte Preis ist. Die Siebnergruppe demokratischer Industrienationen möchte dabei eine breite, weltweite Allianz schmieden. Antrieb für Erdölkäufer soll sein, dass russisches Öl, das über dieses Schema gehandelt wird, günstiger ist als am «Weltmarkt». Der Deckelpreis müsste dabei höher sein als die Produktionskosten Russlands. Sonst hätte Moskau keinen Anreiz, weiterhin Öl zu exportieren. An der Entscheidung zur Höhe des Deckels sollen Mitglieder der Allianz teilnehmen.

Zersplitterung des Ölhandels

Derzeit wird russisches Erdöl ohnehin mit einem Abschlag von 20 bis 30 Prozent gegenüber dem Weltmarktpreis gehandelt. Reedereien, Versicherer und Händler, die in der EU, in Grossbritannien und der Schweiz angesiedelt sind, dominieren das weltweite Ölgeschäft und unterliegen jetzt schon Einschränkungen beim Handel mit russischem Öl, die zu einem grossen Teil selbst auferlegt sind. Zudem haben sich westliche Banken aus der Finanzierung des Transports zurückgezogen. Deshalb sind die Kosten und Risiken gestiegen, was zu diesem Discount führt. Der gedeckelte Preis müsste wohl auch niedriger sein als der Discount-Preis, damit er einen Anreiz bietet.

Preisabschlag bedeutet aber auch, dass russisches Öl attraktiver wird. Bisher haben sich die Hoffnungen zerschlagen, dass die bisherigen Sanktionen und Selbstsanktionen der Branche zu einem starken Rückgang der russischen Exporte führen. Länder wie China und vor allem Indien sind als Abnehmer eingesprungen. Wie die Preisdeckel-Idee auch praktisch funktionieren soll, hängt noch von Details ab: Bis jetzt sollen in der EU Versicherer, nicht aber Reedereien von einem Dienstleistungsverbot betroffen sein. Auf Drängen von Malta und Griechenland hin dürfen EU-Schiffe russisches Öl auch nach der gesetzten Frist transportieren, es bleibt aber die Frage nach der Versicherung. Zudem müssen der Preisdeckel-Idee auch noch alle EU-Mitgliedsländer zustimmen, was zeitraubend werden könnte.

Petrostaaten fürchten Rückgang des Erdölpreises

Preis der Nordsee-Erdölsorte Brent am Terminmarkt, $ je Fass

Das grundsätzlichere Problem ist, dass Russland wohl versuchen wird, dabei nicht mitzuspielen. Wie schon jetzt wird sich Moskau auf ein Handelssystem nichtwestlicher Reedereien, Versicherer und Händler stützen. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass ein Teil des Ölhandels, der aus der Schweiz aus betrieben wurde, nach Dubai abwandert. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sich Delhi und Peking in ein westliches Sanktionsschema einbinden lassen. Es könnte zu einer Zersplitterung des internationalen Erdölhandels kommen.

Widerspenstige Opec+-Gruppe

Dass die Welt nicht nur nach den Vorstellungen der G-7-Länder funktioniert, zeigt auch die jüngste Entscheidung der Opec+-Gruppe am Montag, des Zusammenschlusses der Petrostaaten, der von Saudiarabien und Russland dominiert wird. Im Oktober soll die Förderung um 100 000 Fass pro Tag gedrosselt werden. Die Menge ist eher klein, das Signal aber klar. Um den Amerikanern einen Gefallen zu machen und nach dem Besuch von US-Präsident Biden in Saudiarabien erhöhte Opec+ im August die Förderung um genau diese – geringe – Menge. Dies wird nun zurückgenommen, und dies, obwohl viele Länder ihre Quote ohnehin nicht erfüllen können.

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