Supreme Court in Washington
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US-Supreme-Court

Sitzung mit sozialer Sprengkraft

Die neun Richter des inzwischen republikanisch dominierten Obersten Gerichtshofs der USA sind Anfang des Monats zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren persönlich zusammengekommen. Auf der Tagesordnung der mehrmonatigen Sitzung stehen politische Fragen, die das Land am meisten spalten, angefangen beim Recht auf Abtreibung. Mit Spannung wird auch eine Entscheidung über das Tragen von Waffen erwartet.

„Seit Donald Trump während seiner Amtszeit drei konservative Richter in den Obersten Gerichtshof berufen hat, schien es für viele nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das höchste richterliche Gremium in den USA seine Muskeln spielen lässt und sich mit einigen der brisanten politischen und rechtlichen Themen des Landes auseinandersetzt“, schrieb die BBC. Es gehe dabei um Fälle, „die nicht nur dauerhafte Präzedenzfälle für die US-Gerichte schaffen, sondern auch das Gefüge der amerikanischen Gesellschaft grundlegend verändern könnten“.

Sechs der neun Richter sind von republikanischen Präsidenten vorgeschlagen worden, drei von demokratischen. Mit der Berufung von Amy Coney Barrett im vergangenen Herbst hat der oberste Richter John G. Roberts Jr., der früher einmal mit den konservativen, einmal mit den linksliberalen Richtern gestimmt hatte, seine ausgleichende Rolle verloren. Nun kann er von fünf Richtern des rechten Lagers überstimmt werden. Angesichts der aufgeladenen Agenda steht Roberts unter besonderer Beobachtung.

Entscheidende „Schattenprotokolle“

Im vergangenen Jahr präsentierte sich das Gericht weitgehend unabhängig, insbesondere, als es sich weigerte, Trumps Feldzug gegen seine Wahlniederlage zu unterstützen. In „shadow dockets“ („Schattenprotokolle“) – der Begriff für Dringlichkeitsverfahren, die nicht öffentlich debattiert werden – hat es jedoch einen Rechtsruck eingeleitet. Deutlich wurde dieser am 1. September, als sich das Höchstgericht weigerte, ein texanisches Gesetz zu blockieren, das nahezu alle Abtreibungen in dem Bundesstaat verbietet.

Abtreibungsbefürworter und -gegner demonstrieren vor dem Supreme Court in Washington
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Vergangenes Wochenende demonstrierten in Washington und anderen Städten des Landes Tausende für das Recht auf Abtreibung

Texanisches Abtreibungsgesetz wühlt auf

Das strengste Abtreibungsgesetz der USA verbietet Schwangerschaftsabbrüche ab dem Zeitpunkt, zu dem der Herzschlag des Kindes festgestellt werden kann, also etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Selbst im Fall einer Vergewaltigung oder bei Inzest sieht es keine Ausnahmen vor.

Das Gesetz wurde von den Demokraten, einschließlich Präsident Joe Biden, scharf kritisiert. Die US-Regierung griff schließlich zu einem drastischen Mittel und klagte den Bundesstaat. Zunächst mit Erfolg: Ein Gericht in Texas stoppte das Abtreibungsgesetz vorübergehend. Doch die Freude darüber währte nur kurz – Texas teilte umgehend mit, Berufung gegen die Aussetzung einzulegen, und bekam schließlich recht. Das legistische Gezerre dauert seither an.

Ansehen des Supreme Court schwindet

Seit dem Entscheid des Supreme Court zu Texas kursieren Warnungen vor der enormen Macht des Gerichts und Vorschläge, wie diese beschnitten werden könnte, etwa durch eine Erweiterung der Anzahl der Richterinnen und Richter oder die Einführung von Amtszeitbeschränkungen anstelle ihrer Ernennung auf Lebenszeit. Die öffentliche Zustimmung zum Gericht scheint jedenfalls zu schwinden: In einer aktuellen Gallup-Umfrage schätzen nur noch 40 Prozent der US-Bevölkerung die Arbeit des Gerichtshofs, verglichen mit 49 Prozent im Juli, 37 Prozent halten ihn für „zu konservativ“.

Roe vs. Wade

Die Grundsatzentscheidung des Supreme Court von 1973 begründete ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – also bis zur 22. bis 24. Schwangerschaftswoche.

Angesichts der Brisanz der nun fälligen Urteile dürfte sich die Polarisierung noch verschärfen. Am 1. Dezember wird ein Fall verhandelt, in dem Mississippi sein Gesetz verteidigt, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Der republikanische Generalstaatsanwalt von Mississippi bittet das Gericht, das Urteil im Fall „Roe versus Wade“ aus dem Jahr 1973 aufzuheben, das die Abtreibung landesweit legalisierte.

Das Gesetz aus Mississippi war von Anfang an darauf angelegt, dem Höchstgericht die Möglichkeit zu geben, in dieser politisch brisanten Frage einen Kurswechsel vorzunehmen. „Das Urteil könnte den Zugang zu legalen Abtreibungen für Frauen in weiten Teilen des Südens und des Mittleren Westens beenden“, schrieb die „New York Times“. Die Zeitung zitierte Elizabeth W. Sepper, Rechtsprofessorin an der University of Texas in Austin: „In Bezug auf die Abtreibung steht ein Wandel bevor. Ich glaube, sie werden Roe versus Wade aufheben.“

Ein Kunde mit einem Gewehr in einem Waffengeschäft
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Die verhältnismäßig strenge Waffenregelung in New York City landet vor Gericht

Entscheidung über „Recht, Waffen zu tragen“

In einem anderen bahnbrechenden Fall könnten die Richterinnen und Richter den Erhalt von Genehmigungen für das Tragen von Handfeuerwaffen außerhalb des Hauses erleichtern, was eine erhebliche Ausweitung der Schusswaffenrechte bedeuten würde.

Sie werden am 3. November darüber entscheiden, ob eine Regelung des Staates New York für ungültig erklärt werden soll, nach der Menschen nur dann eine Genehmigung zum verdeckten Tragen von Waffen erhalten, wenn sie nachweisen können, dass sie die Waffe zur Selbstverteidigung benötigen. Das Gericht hat seit mehr als einem Jahrzehnt keine wichtige Entscheidung des im zweiten Zusatz zur US-Verfassung verankerten „Recht, Waffen zu tragen“ getroffen.

Todesstrafe, Staatsgeheimnisse, Religionsfreiheit

Aber es gibt noch andere wichtige Fälle auf dem Terminkalender – etwa die Rechtssache Vereinigte Staaten gegen Abu Subaida. Dabei geht es darum, ob die Regierung einem Häftling in Guantanamo Bay die Herausgabe von Informationen von zwei ehemaligen Auftragnehmern der CIA, die an seiner Folterung beteiligt waren, mit der Begründung verweigern kann, dass dadurch Staatsgeheimnisse preisgegeben würden.

Ein weiterer Fall, der wohl für Schlagzeilen sorgen wird, betrifft den Bombenleger des Boston-Marathons, Dschochar Zarnajew. Ein untergeordnetes Gericht entschied, dass sein Todesurteil ungültig sei, weil die Geschworenen durch die Medienberichterstattung vor seinem Prozess voreingenommen waren und weil sie über andere Morde von Zarnajews Bruder informiert waren, der sich mit ihm zu den Bombenanschlägen verschworen hatte und bei der Verfolgung durch die Polizei getötet wurde. Die Regierung Biden möchte, dass dieses Urteil wieder in Kraft gesetzt wird.

Die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs der USA
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Sechs zu drei zugunsten der Republikaner steht es derzeit bei den Richterinnen und Richtern des Supreme Court

Die Themen Religionsfreiheit und Todesstrafe kollidieren in einem texanischen Fall, in dem ein zum Tode Verurteilter geklagt hat, um seinem Pfarrer zu erlauben, während seiner Hinrichtung Gebete an seiner Seite zu sprechen, während er Körperkontakt hat.

In der letzten für dieses Jahr anberaumten Verhandlung am 8. Dezember wird das Gericht den Fall Carson gegen Makin verhandeln, bei dem es um die Frage geht, ob Maine religiöse Schulen, die konfessionellen Unterricht anbieten, von einem staatlichen Schulgeldprogramm ausschließen darf. Bei all diesen „heißen Themen“, sagte Amy Howe, Redakteurin der wissenschaftlichen Website SCOTUSblog gegenüber Reuters, „stellt sich nicht die Frage, ob der Oberste Gerichtshof in dieser neuen Sitzungsperiode seinen Rechtsruck fortsetzen wird, sondern wie weit er gehen wird“.