Berliner Polizei darf Übergriffe auf Juden und Homosexuelle nicht mehr melden

Beratungsstellen und Opferhilfe-Vereine nutzten die anonymisierten Polizeimeldungen für ihre Arbeit. Doch jetzt darf die Behörde nichts mehr berichten.

Paar bei einer Pride-Demonstration in Berlin
Paar bei einer Pride-Demonstration in BerlinSebastian Wells/Ostkreuz

7. März, 11.20 Uhr: An der Nürnberger Straße in Charlottenburg schlägt ein Mann mit der Faust einer 54-jährigen Israelin ins Gesicht.

13. April, 17.50 Uhr: Im U-Bahnhof Franz-Neumann-Platz beleidigen Jugendliche ein homosexuelles Paar, das auf einer Bank sitzt, homophob. Zwei Frauen, 59 und 83 Jahre alt, fordern die Gruppe auf, die beiden Männer in Ruhe zu lassen und werden von den Jugendlichen tätlich angegriffen.

Informationen wie diese, die Sie gerade gelesen haben, darf die Berliner Polizei künftig nicht mehr an Opferhilfe-Einrichtungen und Beratungsstellen übermitteln – wegen des Datenschutzes. Das hat der Datenschutzbeauftragte der Berliner Strafverfolgungsbehörden so verfügt.

Sein Vermerk, der der Berliner Zeitung vorliegt, liest sich aus Sicht der Betroffenen absurd: „Um eine Re-Identifizierung zu verhindern“, dürfen in den übermittelten Informationen weder die Tat beschrieben noch der Ort, etwa die Straße, oder Tatzeit benannt werden. Auch das Alter der Beteiligten darf nicht enthalten sein.

Datenschützer: „Für den Abgleich der Daten fehlt die Rechtsgrundlage“

In jedem Jahr werden in Berlin Tausende Menschen Opfer von Beleidigungen und Angriffen, die homophob, rassistisch oder antisemitisch motiviert sind. Einige Attacken überschreiten die Grenze zur Strafbarkeit nicht und werden von der Polizei nicht verfolgt. Andere sind so gravierend, dass die Polizei Verfahren einleitet.

Zu diesen schweren Angriffen übermittelte die Behörde bisher Opferhilfe-Vereinen regelmäßig Angaben – in anonymisierter Form. Die Meldungen sind wichtig für die Vereine, darunter das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias), die im Jahr 2020 mehr als 1000 antisemitische Vorfälle registrierte, oder Reachout, die Beratungsstelle für Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Sie erarbeiten daraus Vorschläge zur Gewaltprävention, erstellen Berichte für die Öffentlichkeit, leiten politische Forderungen ab. Das alles wird aus Sicht der Vereine nun durch den Datenschutzbeauftragten der Strafverfolgungsbehörden torpediert.

Der begründet seine Haltung so: Für die regel- und listenmäßige Übermittlung personenbezogener Daten aus Ermittlungsverfahren an private Vereine mit dem Ziel des Abgleichs mit dort vorhandenen Daten fehle es an einer Rechtsgrundlage. Der Datenschutzbeauftragte verweist außerdem auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 4. Oktober 2021 (CR 2021, 730-732).

Sogar die Beschreibung des Tatgeschehens ist verboten

In seinem Schreiben stellt er klar: „Der Personenbezug umfasst alle Informationen, die sich auf eine Person beziehen. Jede Schilderung menschlichen Verhaltens oder menschlicher Eigenschaften hat danach Personenbezug. Die Beschreibung eines Tatgeschehens hat daher Personenbezug.“

Die von ihm befürchtete „Re-Identifizierung“, auch De-Anonymisierung genannt, bedeutet: Aus wenigen Informationsschnipseln lassen sich persönliche Profile von Menschen erstellen, etwa durch den Abgleich mit sozialen Netzwerken. Forschern ist das in Experimenten bereits gelungen. So ließe sich theoretisch herausfinden, wer der oder die Tatverdächtigen sind.

Aus Sicht der Vereine ist das ein vorgeschobenes Argument: Denn gerade eine Re-Identifizierung sei der Zweck der Datenübermittlung. Damit sollten Doppelerfassungen vermieden werden. Wenn Menschen, die Opfer eines Übergriffs geworden sind, den Vorfall bei den Vereinen melden, könnte eine zusätzliche Polizeimeldung  die Zahlen künstlich hochtreiben.

Maneo-Chef: „Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden wird beschädigt“

Die Neuregelung erscheint in der Tat widersinnig, weil die Polizei nämlich auf einem anderen Weg Mitteilungen zu Gewalttaten und anderen Delikten herausgeben kann: über Pressemitteilungen, wie es das Presserecht und der damit verbundene Auskunftsanspruch der Medien vorsieht. Die Pressemitteilungen enthalten nach Lesart des Datenschutzes „personenbezogene Daten“ wie Alter und Ort. Darüber wäre – zumindest theoretisch – eine Re-Identifizierung von Personen möglich.

Bastian Finke vom Anti-Gewalt-Projekt Maneo, das im Jahr 2020 510 Fälle „LSBT*-feindlichen Übergriffen“ zuordnete und rund 1100 betroffene Personen beriet, will das Thema am Montag bei einer Anhörung im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses zur Sprache bringen.

Er ist bestürzt über die Datenschutzregelung: „Das konterkariert unsere gesamte Arbeit.“ Das mühsam aufgebaute Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden werde beschädigt. Die Lage beende eine bewährte Kooperation zur Stärkung der Gewaltpräventionsarbeit in Berlin, sagt er.

Maneo habe anonymisierte statistische Angaben aus LSBT*-bezogenen Hassdelikten seitens des Staatsschutzes listenmäßig entgegengenommen und erfasst. „Diese Angaben konnten wir mit den von uns erfassten Fällen abgleichen, um Doppelzählungen zu vermeiden“, sagt Finke.

„Still und heimlich in der Corona-Zeit durchgesetzt“

„Wir konnten mit der Polizei über Kriterien und Bewertungen und über unsere unterschiedlichen Perspektiven sprechen. Das war auch immer für die Polizei sehr hilfreich.“ Finke bezieht sich auf Erpressungsdelikte, Raubtaten oder Tötungsverbrechen – die eben nicht nur Erpressung, Raub oder Tötung waren, sondern aus Hass gegen Homosexuelle verübt wurden. „Wir konnten dann mit der Polizei reden, wo man genau hinschauen muss.“ So seien zielgerichtete Präventionsmaßnahmen möglich gewesen.

Die Datenschutzregelung wurde im vergangenen Jahr getroffen. Man habe sich hilfesuchend an die Politik und die Polizei gewandt und mitgeteilt, dass es ein Problem gebe, sagt Bastian Finke. „Es wurde Bedauern zum Ausdruck gebracht, und dass man mit der Situation unzufrieden sei,“ sagt er.

Als „völlig absurd“ bezeichnet Tom Schreiber, innenpolitischer Sprecher der SPD, die neue Datenschutzregelung, die „still und heimlich in der Corona-Zeit“ durchgesetzt worden sei. Er verspricht, die Verantwortlichen nun in den Datenschutz-Ausschuss vorzuladen. „Wir brauchen Zahlen und Fakten, um die Situation einschätzen und Opfer schützen zu können.“