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Literatur Selbsterfahrungstrip

Bundestagsbonbons sind im Bundestag verboten

Diese Bonbons mit Bundesadler bekommen Besucher im Bundestag. Doch wer sie auf der Besuchertribüne lutscht, muss mit einem Platzverweis rechnen. Diese Bonbons mit Bundesadler bekommen Besucher im Bundestag. Doch wer sie auf der Besuchertribüne lutscht, muss mit einem Platzverweis rechnen.
Diese Bonbons mit Bundesadler bekommen Besucher im Bundestag. Doch wer sie auf der Besuchertribüne lutscht, muss mit einem Platzverweis rechnen
Quelle: picture alliance
Nominiert für den Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse: Roger Willemsen hat ein Jahr auf der Zuschauertribüne im deutschen Parlament abgesessen. Jetzt berichtet er von seinen Erfahrungen.

In der Mitte der Stadt hat die Geschichte eine Lücke gelassen. Und mitten in dieser Lücke steht seit 120 Jahren das Reichstagsgebäude. Es war die längste Zeit verwaist, erst seit 1999 versammelt sich wieder das Parlament darin.

Die Fläche, die den Bau umgibt, hieß mal Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor, mal Königsplatz und auch schon einmal, so wie heute wieder, Platz der Republik. Zum Solitär, zum Findling, zum Raumschiff wurde das Reichstagsgebäude, nachdem man 1959 die letzten benachbarten Gebäude abgerissen hatte. Schafe weideten auf der Brache. Die interessierten sich für Gras und füreinander, aber kaum für Politik.

Ein Touristenmagnet in Berlin

Spiralförmige Rampen in der Glaskuppel führen zur Aussichtsplattform. Blickt der Besucher aber ins Innere des Gebäudes, dann blickt er auf die Politik oder, vorsichtiger gesagt, die Arbeit des Parlaments. Im Plenarsaal versammelt sich der deutsche Bundestag in der Regel zweiundzwanzigmal pro Jahr zu einer Sitzungswoche, die jeweils von Mittwoch bis Freitag angesetzt ist.

Ein Arbeitstag beginnt um neun und kann bis in die Nacht dauern. Vor allem Senioren oder Jugendliche verfolgen diesen Betrieb jeweils eine Stunde lang, dann müssen sie ihren Platz wieder räumen. Keine Handys, keine Kaugummis, kein Nickerchen, keine Kommentare und auch kein Applaus – so sehen es die Besuchsregeln des Hohen Hauses vor. Saaldiener sind eigens zur Beaufsichtigung der Besuchertribüne abgestellt.

Ein Jahr auf der Besuchertribüne

Was erfahren diese Besucher? Eine Stunde ist kurz. Jedenfalls zu kurz, um auf den Stand einer Debatte zu kommen. Bevor ein Thema den Aggregatzustand des Gesetzentwurfs, Änderungs- oder Entschließungsantrags oder der Beschlussempfehlung angenommen hat, ist es schon ausführlich in den Ausschüssen diskutiert worden. Solches Vorwissen kann von niemandem erwartet werden.

Die Parlamentsrede ist eine gebrauchte Rede, wird aber, nicht zuletzt wegen der Foto- und Fernsehkameras, die sie dokumentieren, stets so geführt, als feierte sie gerade Premiere. Und noch ein fatalistischer Befund: Die Rhetorik zielt auf Überzeugung und Überredung, obwohl, da Entscheidungen sowieso entlang der Mehrheitsverhältnisse und Fraktionszwänge getroffen werden, ja niemand mehr zu überzeugen oder zu überreden ist. Kurzum: In diesem Haus, inmitten der leeren Mitte dieser Stadt, klafft eine weitere Lücke: Es ist die Lücke namens Politik.

Platzverweis wegen Bundestagsbonbon

Von Derartigem hat der Autor Roger Willemsen schon viel zu Papier gebracht, bevor er auf Seite 386 seines neuen Buches zum ersten Mal ein Bundestagsbonbon lutscht. Es ist oval und hellrosa und schmeckt nach Kirsche, das Einwickelpapier ist mit drei Bundesadlern bedruckt. Willemsen musste dazu vor die Tür gehen, denn auf der Besuchertribüne des deutschen Bundestags sind Bonbons verboten.

Aber er hat es sich verdient. Das Parlament beendet soeben, am 19. Dezember des Jahres 2013, seine letzte Sitzung vor der Weihnachtspause. Und Willemsen war immer dabei, vom 7. Januar an hat er keine Sitzungswoche versäumt, und auch nicht die vielen Zusatztermine.

„Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“ heißt nun das Protokoll dieser Erfahrung, und mancher Eintrag liest sich wie aus einem Expeditionstagebuch: „Doch mögen die Sitze der Opposition auch hart sein, härter sind die der Tribüne. Deshalb will ich mir ab jetzt immer ein Kissen mitbringen.“ Schon oft hat dieser Autor über seine Reisen geschrieben, die ihn quer durch Deutschland, nach Afghanistan, Bangkok und zuletzt, für das Buch „Die Enden der Welt“, nahezu überallhin führten.

Ein Jahr im Raumschiff Politik

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Und auch, wenn der Reporter jetzt bloß einen Sitzfleisch-Marathon absolviert hat, ist auch dieses hier ein Reisebuch geworden. Nur bewegt nicht der Autor sich selbst, die Welt bewegt sich durch den Raum, in dem er sitzt, hindurch.

Dafür sorgt schon die Architektur, durch die der Architekt Norman Foster die Debattenkultur des Hohen Hauses formatiert hat. Diffuses Licht überall. Von oben, aus der Kuppel aus Glas, blicken Menschen auf das Parlament hinab. Willemsen fühlt sich wie in einem Aquarium. Und macht eben darin den Unterschied zu anderen europäischen Parlamenten aus.

In der Assemblée nationale, im englischen Unterhaus, im italienischen Parlament: überall geschlossene Räume, mit dunklen Hölzern und gepolsterten, massiven Sitzen. Räume, die suggerieren, „dass sich die Rede aller Zeiten noch darin aufhält.“ Der Bundestag hingegen feiert das Flüchtige. Die Botschaft seiner gläsernen Flächen: „Wir bewahren nichts, wir merken uns nichts, aber alles ist hier schon durchgeflogen.“ Durchsichtige Wände, sagt Willemsen, „dokumentieren das Spur- und Folgenlose.“

Willemsen ist kein Rainald Goetz

Willemsen sitzt und schweigt und schreibt. Kein Debattengegenstand, der seiner Aufmerksamkeit entginge: Doping, Filmförderung, Gebührenrecht des Bundes, Flugsicherung im südbadischen Raum, das Hilfeersuchen der malischen Regierung. Willemsen ist aber kein gleichmütiger Chronist. Er will weiterhin an das Gewicht der Welt, an das Gute und das Böse glauben, weshalb ihn die Kälte der Politiker, ihre Strategien und ihr Kalkül anfällt wie eine Krankheit.

Man hätte es schon dem Foto auf dem Buchumschlag ablesen können. Unten: die spärlich gefüllten Reihen des Plenums, in dem sich einige Parlamentarier gut gelaunt unterhalten, in Papieren kramen oder mit Telefonen hantieren. Oben: der Autor, allein auf der Besuchertribüne. Er hat die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf auf die gefalteten Hände.

Es ist die Pathosformel des Melancholikers, dem ja nicht vor allem das trübselige Brüten zu eigen ist, sondern seit dem Kummer des Agamemnon der schwarzgallige Zorn. „Da würde man gern in großem Schwall hineinkotzen, in dieses Gesicht“, schrieb Rainald Goetz, als er für seinen Internetblog „Klage“ vor sieben Jahren ebenfalls lange Parlamentsdebatten von der Besuchertribüne verfolgte, über Ursula von der Leyen.

Hohe Verachtung für das Hohe Haus?

Willemsens Ton ist manierlicher, sein Ekel aber offenbar nicht weit davon entfernt: „Es gibt Momente“, so lautet seine Klage, „in denen man dem Parlament die Verachtung zurückgeben möchte, mit der es seine Bürger bisweilen behandelt.“

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Man würde gern, man möchte auch, nur geht es einfach nicht. Die Beziehungskrise zwischen dem Bürger und seinem Vertreter, dem Politiker, lässt sich im Hohen Haus nur konjunktivisch lösen oder im Traum.

Einmal erlebt Willemsen, wie Aktivisten auf der Zuschauertribüne mit rot bemalten Händen gegen einen deutschen Militäreinsatz protestieren und von der Bundestagsvizepräsidentin strikt des Raumes verwiesen werden. Dass Katrin Göring-Eckardt zu den Grünen gehört, dass sie also die Hausordnung der Institution über die eigene politische Geschichte stellt, das findet Willemsen erbärmlich.

Rösler liebt Kindervergleiche

Die Stärken seines Berichts bestehen in der filigranen Beobachtungskunst („Die Kanzlerin nimmt Platz und sackt zusammen“), den typologischen Skizzen (Rösler: „Nesthäkchen, einer der geliebt werden will, Kindervergleiche liebt“, „der listige Gysi, der mit Pointen punktet“ und noch einmal: „Göring-Eckardt, das beseelte Mädchen, das handfest sein kann“) sowie überhaupt in der stilistischen und analytischen Kunst, die dieses Buch wirklich lesenswert macht.

Sie lässt auch über die allzu kräftigen Meinungsbekenntnisse hinwegsehen, die der Autor über den ganzen Text verteilt und damit die Wirkung von Beobachtungen stört, die oft besser für sich gesprochen hätten. Vor alldem ist dieses Buch aber gar kein Buch über Politik, sondern ein Plädoyer

Ein Jahr im Raumschiff Politik: Roger Willemsen hat den Parlamentsbetrieb unter die Lupe genommen.
Ein Jahr im Raumschiff Politik: Roger Willemsen hat den Parlamentsbetrieb unter die Lupe genommen
Quelle: picture alliance / Oliver Lang

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